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Er war da, Laplace, furchtbar anzusehen, mit blutunterlaufenen Augen, die kurzen grauen Haare gesträubt, den Mund halb offen, wie um zu beißen – und biß er, so war das ein Biß! Der helle Wahnsinn leuchtete ihm aus den Augen. Im selben Moment, in dem ich rief, bekam ich einen Schlag über den Nacken, der mich wie ein Axthieb zu Boden streckte. Ich blieb auf dem Boden liegen, halb bewußtlos. Wie aus weiter Ferne hörte ich, daß Laplace in den Garten hinausstürzte, und ich erwartete den Professor aufschreien zu hören. Ich wußte, daß ich, bevor er zurückkam, aufspringen, davonlaufen, fliehen sollte. Aber ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt. Ich wußte nicht, wie lange Zeit vergangen war, als ich wieder schwere Schritte auf dem Kies des Gartenweges hörte. Ich machte eine krampfhafte Anstrengung. Jetzt hatte er den Professor getötet. Nun kam ich an die Reihe. Ich versuchte aufzustehen. Mit verwirrten Augen sah ich die Eingangstür von einer Riesengestalt blockiert. Laplace stand da, er kehrte mir den Rücken zu und starrte in den Garten hinaus. Er atmete schwer und keuchend. Plötzlich rief er etwas. Ich lauschte mechanisch.
»Ich weiß, daß Sie mich hören«, rief er. »Sie müssen getötet werden. Kommen Sie nicht sofort, so töte ich jede lebende Seele, die sich hier befindet. Hören Sie?«
Es erfolgte keine Antwort. Nun wurde Laplace von einem wahren Paroxysmus der Raserei gepackt. Er tat ein paar Sprünge in den Garten hinaus, ballte seine Hände gegen die rauschende Dunkelheit und brüllte einen Strom von unverständlichen Worten in die Nacht hinaus. Plötzlich öffnete sich in einer der Nachbarvillen ein Fenster. Jemand rief etwas. Laplace verstummte und sah hin. Dann huschte ein listiges Lächeln über sein Gesicht. Er murmelte einige dänische Worte, die er aufgeschnappt hatte:
»Ja, ja … schon still! … ja, ja …«
Ich mußte unwillkürlich an Cz in der Bodega und dessen gebrochenes Skandinavisch denken. Aber leider war nicht er es, der zur Tür hereinkam. Als Laplace sichtbar wurde, schien die Raserei von ihm gewichen zu sein. Sein Gesicht war ohne jeden Zweifel das Gesicht eines Narren, aber nicht mehr das eines gewalttätigen Narren, sondern das eines schlauen, lächelnden Wahnsinnigen. Auf der Türschwelle blieb er stehen und rief abermals einen Strom französischer Worte, die ich nur halb verstand: »Lâche! tu viendras, ou ils mourront! as-tu compris? On fera des exécutions! ah, tu viendras voir, tu viendras voir.« Er forderte den Professor auf, zu kommen und Zeuge unserer Hinrichtung zu sein. Dann wendete er sich wieder dem Hause zu, wo man das Fenster geöffnet hatte. »Ja, ja, schon still!« rief er, »ja, ja!« – Jetzt versperrte er die Tür. Ich begriff, daß der Professor entkommen war, und fühlte trotz meiner Betäubung eine gewisse Erleichterung.
Plötzlich fiel es mir ein, daß jemand in der Nähe weilen müßte, der Laplaces Französisch besser zu würdigen wußte als ich. Wo war Mr. Graham mit den französischen Adjektivendungen? Und wo war sein zweiter Assistent? Wie konnte Laplace in dieser Weise in ihre Villa eindringen?
Nun trat Laplace auf mich zu, immer noch mit demselben lächelnden Gesicht. Er ging um mich herum, wie ich da halb aufrecht auf dem Fußboden saß. Er beschaute mich neugierig, wie man ein Tier im Zoologischen Garten anschaut, und ich fühlte mich auch wahrlich wie eines jener Opfer, die zu genäschigeren Raubtieren hineingelassen werden, die kein geschlachtetes Fleisch fressen. Er murmelte ununterbrochen in sich hinein, bis es an das Schnurren einer Katze erinnerte: »Ah, celui-là – qui est-ce – sais pas – doit être de la compagnie – faut qu'il meure.« Zuerst verstand ich nicht, was er sagte, aber er war ein guter Pädagoge. Er wiederholte es, bis ich es erfaßt hatte:
»Der dort – wer ist das – weiß nicht – gehört zur Gesellschaft – muß sterben.«
Unvermittelt hielt er in seinem Rundgang inne, packte mich beim Rockkragen und angelte mich vom Boden hoch, wie man einen toten Fisch aus dem Wasser zieht. Dann begann er mich zu einer Tür zu schleppen, derselben Tür, zu der ich am Tag vorher hereingekommen war, als ich Mr. Graham konsultieren wollte. Ich leistete keinen Widerstand, in meinem Mechanismus war irgend etwas kaputt. Am Tag vorher! War es möglich? Es hätte ebensogut vor zehn Jahren gewesen sein können. Ich hatte jeden Zeitbegriff verloren. Das Gehirn kann ebensowenig mehr als eine gewisse Menge Ereignisse aufnehmen, wie das Wasser mehr als eine gewisse Menge Salz lösen kann. Ich war gesättigt. Laplace hatte einen Singsang an meiner Seite begonnen: le tour du propriétaire – faire le tour du propriétaire – voir les locataires – »Einen Rundgang durch die Wohnung machen – mir die Bewohner ansehen –« Jetzt öffnete er die Tür zum Empfangszimmer.
Mr. Graham und sein Assistent saßen dort jeder auf einem Sessel, genau so gebunden und zusammengeschnürt wie der Professor und ich heute morgen. Das war offenbar Laplaces Spezialität. Hingegen hatte keiner von ihnen einen Knebel. Ich sah sie stumpf an. Mr. Graham saß stumm und regungslos da und starrte Laplace mit runden, kalten Augen an. Der Assistent, dessen Namen ich nicht kannte, war hingegen nicht stumm. Er empfing uns mit einem Sturzbach von Französisch, bei dem Laplace vor Lachen fast erstickte. »Ah quelle gueule! Ah, la gueule qu'il a!« rief er einmal ums andere. Was für eine Schnauze, was für eine Schnauze! Die Augen des gefangenen Franzosen flammten in Weißgluthitze vor Raserei. Sein Wortstrom knatterte immer wieder los wie das Feuer eines Maschinengewehrs. Ich verstand kein Wort. Ich stand da und starrte stumpf um mich. Eines fiel mir auf: die Fenster waren verbarrikadiert. Dann schleifte Laplace mich weiter.
Wir kamen in das Speisezimmer und von dort in ein Billardzimmer. Auch dort waren die Fenster mit Möbeln verbarrikadiert. Laplace sang weiter: »Faire le tour du propriétaire, faire, faire! – Regarder les locataires – mauvais locataires! – –« Einen Rundgang durch das Haus machen – auf die Bewohner aufpassen – schlechte Bewohner.
Wir gelangten in ein Servierzimmer und von dort wieder in die Halle zurück. Wir hatten den erwähnten Rundgang durch die Wohnung gemacht. Laplace war zufrieden. Er untersuchte das Türschloß und lachte. Dann zog er mich in das Empfangszimmer.
»C'est fait!« grinste er. »C'est bien. Bien fait. Voilà!«
Er schleuderte mich auf einen Sessel und trat an das Bücherbrett. Er begann es zu untersuchen, verständnislos wie ein Kind. Er nahm Buch um Buch herunter, sah es an und ließ es achtlos zu Boden fallen. Es bildete sich ein Haufen zu seinen Füßen, der anwuchs, und auf dem er herumtrampelte, wenn er sich bewegte. Zum erstenmal hörte ich einen Laut von Mr. Graham.
»Lassen Sie die Bücher!« sagte er. »Bücher sind nicht für so einen wie Sie. Lassen Sie die Bücher, hören Sie?«
Seine Stimme klang kalt und ruhig, aber in seinen Augen war ehrliche Erbitterung zu lesen. Sie flammten nicht wie die des gefangenen Franzosen, aber sie blickten stahlhart. Laplace starrte ihn mit einem geistesabwesenden Ausdruck an. Vielleicht war es die Kälte des Engländers, die auf ihn wirkte. Er ließ das Buch fallen, das er gerade in der Hand hielt, und verließ das Bücherregal. Darauf zog er einen Stuhl neben den Mr. Grahams, setzte sich und sah ihn an. Der dicke Engländer schaute unverwandt zurück. Lange Zeit verrann unter vollkommenem Schweigen. Der Franzose in seinem Sessel machte mir leise, aufgeregte Signale: Helfen Sie mir! Machen Sie mich frei! Jetzt begann Laplace Mr. Graham zu untersuchen, so als könne er es nicht fassen, daß er es wirklich sei. Er tippte ihn an, zählte seine Knöpfe und glättete die Falten seines Rockes. Einmal ums andere drückte er den Zeigefinger in seinen großen Bauch, um zu sehen, ob der echt war. Jedesmal schob er die Augenbrauen in einem erstaunten Bogen in die Höhe, als wollte er sagen: Mon Dieu, ist der wirklich nicht künstlich? Mr. Grahams Gesicht war ernster als der Tod; aber er äußerte nicht ein Wort. Der gefesselte Franzose zischte förmlich vor Erregung.
Mir wurde klar, daß ich meine Betäubung überwinden mußte. Mit einer Anstrengung, die mir den Schweiß aus allen Poren trieb, richtete ich mich in meinem Sessel auf. Was sollte ich doch tun? Ich sollte den Franzosen befreien. Wie? Indem ich seine Fesseln durchschnitt. Was brauchte ich dazu? Ein Federmesser.
Ich besaß ein Taschenmesser. Wo war es? In meiner Tasche. Könnte ich mich jetzt nur zu dem Franzosen hinschleichen und seine Bande durchschneiden! Ich sah scheu zu Laplace hinüber. Er schien für nichts anderes Augen zu haben als für Mr. Grahams Krawatte. Er breitete sie aus und glättete sie unaufhörlich. Ich erhob mich versuchsweise vom Sessel. Er merkte nichts. Mein Weg zu dem Franzosen lag hinter seinem Rücken. Das war gut. Es galt nur, leise aufzutreten. Ich tat einen Schritt und noch einen. Jetzt war ich hinter ihm. Noch zwei Schritte – ich hielt das Messer bereit – –
Es ist mir nicht bewußt, daß ich irgendein Geräusch gemacht habe. Es mag sein, daß Laplace mich von Anfang an aus dem Augenwinkel beobachtet hatte. Gerade als ich hinter ihm war, drehte er sich um. Nicht überhastet, nicht einmal rasch. Er drehte sich nur um und sah mich erstaunt an, zuerst mich selbst, dann das Messer, das ich in der Hand hielt. Wieder war es, als hätten meine Muskeln jede Bewegungsfähigkeit eingebüßt. In mir war ein Wirbel ohnmächtiger Ideen. Sollte ich den Versuch machen, den Franzosen zu erreichen? Sollte ich Laplace das Messer in den Leib rennen?
Laplace löste alle Schwierigkeiten. Er nahm mir das Messer ab, wie man es einem unartigen Kinde wegnimmt, und betrachtete es. Dann ließ er es fallen, wie er die Bücher hatte fallen lassen, und umspannte mein Handgelenk.
»Fi donc – me tuer, veux-tu? – pas gentil – pas gentil!« murmelte er vorwurfsvoll. Pfui, ich war nicht artig gewesen, ich hatte ihn ermorden wollen. Pfui! Mit einer kurzen, kaum merkbaren Bewegung zwang er mich in die Knie und begann mich hin und her zu schütteln, hin und her, unaufhörlich, während er mich ernst ansah und vor sich hinsang: »Pfui doch! Mich töten? Wie unartig, wie unartig!« Ich fühlte plötzlich das überwältigende Bedürfnis, lauthals zu brüllen. Dauerte das noch länger, dann wurde ich ebenso wahnsinnig wie Laplace. Was hatte ihn nur so vollständig toll gemacht? Als er bei mir war, war er ja auch mehr oder weniger verrückt gewesen, aber da lag doch noch Methode in seinem Wahnsinn. Jetzt war er ein reiner Narr, der dasaß und mich zu Füßen von Grahams Stuhl hin und her schüttelte.
Wie lange Zeit war vergangen, seit ich gekommen war? Ich wußte es nicht. Ich hatte nur die alles andere verdrängende Überzeugung, daß ich es nicht mehr viele Minuten so aushalten konnte, als plötzlich die Lösung kam. Ich hatte keinen Laut vernommen; und was mehr ist, der Narr Laplace auch nicht, als ich plötzlich einen Schatten über mir ahnte. Dann hörte ich einen Schuß. Die Hand hörte auf mich zu schütteln; der Griff löste sich, und die Riesengestalt über mir sank im Sessel zusammen.