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Es gibt eine Fabel von der Unda Marina, die aus dem Meeresschaum geboren ward. Ihr Leib hatte die Weichheit der Wellen, ihre Haut die Weiße des Schaums, ihre Seele die Unersättlichkeit des Meeres; eine Welle spritzte auf und färbte ihre Augen geheimnisvoll grün. Darum ist ihre Umarmung verlockender als die aller anderen; darum können sich ihre Glieder heben und senken wie keine anderen; und darum erweckt sie aller Verlangen und löscht niemandes Durst. Trinkt man zu tief vom Meerwasser, wird man wahnsinnig.
Diese Fabel wird von Unda Marina erzählt.
Es gibt eine andere Fabel von einem harmlosen Narren, der sie gefangen zu haben glaubte. Diese Fabel wird von mir erzählt.
Ich war bei der Berührung ihrer Hand jäh stehengeblieben. Nun stand ich da und sah in die meerfarbenen Augen. Ihre Finger glitten von meinem Arm herab. Wortlos standen wir einander im Gewühl gegenüber. Der Lärm war irrsinnig, er stieg in Lachkaskaden auf, er erhob sich in schrillen Rufen jener, die der Traube der Nacht die letzten Tropfen auspressen wollten. Ich hörte es nicht. Ich hörte überhaupt nichts. Ich sah nichts. Ich sah nur sie. Ihr Gesicht war genau so bleich wie als sie kam. Ihr Mund war fest geschlossen, ohne ein Lächeln. Ihre Augen blickten mich an – unverwandt. Und ich stand da und sah sie an, bis mir schwindelte. Ihre Augen sogen mich ein wie zwei graugrüne Strudel. Ich fühlte eine Berauschung, die ich nicht beschreiben kann. Es war, wie wenn man sich über die Ruderbank beugt und in das Meer hinabsieht. Tief in seiner graugrünen Tiefe funkelt ein Reflex der Sonne. Er leuchtet uns in einem Strahlenbündel entgegen, er glitzert und lockt. Man wird von der Lust ergriffen, sich in den grünfunkelnden Abgrund zu stürzen. Man ahnt, daß er nicht warm ist, daß, wenn er brennt, es vor Salzigkeit und Kälte ist. Aber man wird gelockt. Je länger man hinabsieht, desto unwiderstehlicher wird die Lust. Wendet man den Blick nicht ab, packt einen der Schwindel. Man weiß nicht, ob es das Meer ist, in das man hineinsieht, oder der Himmel, ob es die wirkliche Sonne ist oder ihr Reflex. So erging es mir, als ich in die meerfarbenen Augen sah. Ich wurde von ihnen festgebannt, bis ich das Gefühl hatte, daß mein Ich sich auflöste und eins mit ihrem wurde. Es war fast bis zum Schmerz berückend.
Ich weiß nicht, wie lange wir so mitten im Lärm der Bacchanten standen. Vielleicht nur einige Dutzend Sekunden, aber ich hatte das Gefühl, es habe eine Stunde gewährt, als plötzlich ein Schatten über ihre Pupillen glitt und sie eine Bewegung machte. Wieder legte sie die Finger auf meinen Arm. Ich musterte sie hastig – es waren leidenschaftliche, schmale, weiße Finger. Sie berührten mich leicht, nicht stärker als der Druck einer Ranke, die einen im Winde streift, und ich erzitterte, als hätten sie sich auf mein entblößtes Herz gelegt. Sie winkte mit dem Kopf mit einer fragenden Gebärde zum Ausgang hin. Ich begann sie willenlos durch das Gedränge zu führen. Aber im selben Augenblick, da ihr Blick mich losließ, dachte ich wieder: Das ist nicht wahr! Es ist nicht wahr! Sie, gerade sie unter allen Frauen im Saal! Warum kam sie zu mir? Was wollte sie von mir? Was mochte sie von mir wollen?
Ich konnte es nicht hindern, daß das Bild der Blondine vor mir auftauchte. Ich wollte es als lächerlich, als verächtlich verjagen, aber es gelang nicht so recht. Es gab keinen Vergleich zwischen ihr und jener, die an meiner Seite ging – aber trotzdem! So geblendet ich auch war, ich war doch durchaus nicht geneigt, mich selbst zu überschätzen. Was konnte eine Frau wie diese bei mir suchen?
Ich erinnerte mich plötzlich des Mannes, der in ihrer Gesellschaft geweilt hatte. Er war alt, aber ich konnte begreifen, daß er sie hatte bändigen können. Es braucht Stahl, um Hexen zu binden. Sie hatte Hexenaugen, und er war aus Stahl. Stählerne Muskeln, stählerne Augen. Ja, ich konnte verstehen, daß er sie in die Knie gezwungen hatte. Ich jedoch! Ich würde ihm dies kaum nachmachen können. Aber – die Finger auf meinem Arm verstärkten den Druck um eine kleine Winzigkeit, und sie sah mich von der Seite her an, ein schwerer, gleitender Blick, der meine Vernunft wie eine Welle ertränkte. Was in aller Welt bedeutete dies? Was wollte sie von mir? War sie es müde, beherrscht zu werden? Wollte sie herrschen? Hielt er sie gefangen wie der Riese in Tausendundeiner Nacht, und hatte sie die Gelegenheit benützt, um seiner Gewalt zu entrinnen und ihn zu betrügen?
Jetzt glitt sie durch das Gedränge vor mir her mit einem leicht vibrierenden Gang, bei dessen Anblick mir das Blut zu Kopfe stieg. Ich war verhext wie noch nie in meinem Leben. Was bedeutete es, was wollte sie von mir? Wollte die Lichtflamme die Motte vernichten, so war es ein Tod in Licht und Feuer für die Motte. Einen Augenblick kam mir ein Gedanke, der mich innehalten ließ. Wo war er? War sie von ihm ausgesendet, um – ja, wozu? Zu welchem vernünftigen oder auch nur denkbaren Zweck? Welchen denkbaren Grund konnte er haben, mir irgend etwas antun zu wollen? Ich vermochte es nicht zu begreifen, aber der Zweifel blieb doch bestehen, es wäre ja auch unnatürlich gewesen, so knapp nach meinem Abenteuer mit der Blondine – und gerade jetzt standen wir im Vestibül.
Die Lampen waren zur Hälfte gelöscht, es begann spät zu werden, und nicht alle demaskierten Paare vertrugen das Licht gleich gut. Ich blickte sie an. Sie hatte noch immer die Larve auf. Ihre Augen lagen im Schatten. Ihre Haut war von der Beleuchtung zart blau geädert wie ein Blumenblatt. Ihre Lippen waren ebenso blaß und fest geschlossen wie früher. Noch hatte sie kein Wort zu mir gesprochen. Zum erstenmal kam mir die Absurdität zum Bewußtsein, daß ich ihre Sprache kaum verstand. Ich wollte stammelnd eine Frage formulieren, als sie mir zuvorkam.
»Tu es bon enfant …«, murmelte sie. »Tu es à moi … Je te veux.«
Ich ahnte mehr, als ich verstand. Ihre Stimme war fast zu einem Flüstern herabgesunken. Aber eine Stimme, wie gedämpft sie auch klingen mag, weckt immer das Denkvermögen. Wieder rief es in mir: Das ist nicht wahr! Du begreifst doch, daß das nicht wahr sein kann! Sie unter allen Frauen hier! Aber der Blick aus den graugrünen Augen hielt mich fest. Der Protest in meinem Innern verstummte ebenso rasch, wie er gekommen war. Ich hörte ein neues Flüstern von ihr, diesmal mit einem Unterton erstaunter Ungeduld:
»Dépêche-toi … As-tu peur?«
Ob ich Angst hatte? Alle skeptischen und protestierenden Gedanken in meinem Innern waren von diesem Zeitpunkt an ohnmächtig. Aber um die Wahrheit zu sagen, ich dachte nicht mehr als die Drohne, die der Bienenkönigin nachfliegt. Ich war wie jene, deren Seele bei Gott ist. Irgendwie gelangte ich zur Garderobe und bekam irgend etwas in die Hand gedrückt. Ich half ihr in einen Seidenmantel, leicht wie Spinnweben. Ich murmelte dem Portier einige Worte über seinen Domino zu, und er nickte ernsthaft, während er sie musterte. Ich hatte das Gefühl, daß er fand, sie beweise einen schlechten Geschmack. Ich war mir zutiefst bewußt, daß er recht hatte, und das beschleunigte meinen Abschied von ihm. Einige Augenblicke später hatten wir ein Auto gefunden, und ich gab dem Schofför die Adresse Jakobs-Gade.
Meine Stimme klang so unsicher, daß ich die Adresse wiederholen mußte, ehe der Schofför sie verstand.
Ich stieg in das Auto, in dem sie bereits saß. Es war eine einfache Taxe, wackelig und klapprig, und doch hatte ich das Gefühl, ich sei in eines Königs eigenen Wagen gestiegen. Ich, ich, Richard Hegel, saß hier mit der faszinierendsten Frau, die ich je gesehen hatte, auf dem Wege zu meiner schlichten Drei-Zimmer-Wohnung. Wieder kam mir die Unwahrscheinlichkeit des Ganzen zum Bewußtsein. Aber ich war berauscht, war willenlos. Was sie auch war, wer sie auch war, sie war sie selbst, wunderbar und betörend unter allen Frauen. Ich war ihr Sklave. Es beliebte ihr, heute abend mit mir zu spielen. Mochte sie! Sie hatte meine Seele und meine Sinne so ganz und gar in Besitz genommen, daß alles andere als sie und ihre Wünsche gleichgültig war. Sie saß schlank und aufrecht neben mir, die Larve noch vor dem Gesicht. Plötzlich riß sie den Schleier der Büßerin ab und nahm das schwarze Seidenläppchen von den Augen. Das Licht einer Bogenlampe fiel in den Wagen, und ich starrte sie an, ungläubig und unersättlich. Ihre Stirn war niedrig, weiß wie Milch, und darüber lag gleich einem dicht anschließenden Diadem prachtvolles, bronzerotes Haar. Ihre Augen waren phosphoreszierend wie die einer Katze. Sie schienen größer zu werden. Jetzt trennten sich ihre Lippen zu einem leisen, siegesgewissen Lächeln. Bevor ich noch wußte, wie es zuging, fühlte ich zwei schlanke Arme um mich, der eine legte sich um meinen Nacken, die Finger des anderen faßten mich an der Kehle, und dann spürte ich ihren Mund.
Waren ihre Lippen wirklich blaß gewesen? Das war nicht möglich. Sie brannten wie Feuerzungen. Die grünen Augen starrten in die meinen, gierig, fordernd, unerbittlich; sie küßte mich, bis ich das Gefühl hatte, daß salzige, brennende Fluten über mich und durch mich strömten und mich fast erstickten; bis ich unter dem Druck ihrer Finger und Lippen keuchte und schon fast ohne Besinnung dagegen anzukämpfen begann.
Ich wand mich, um ihr zu entkommen, um Luft zu holen, aber es war vergeblich, sie folgte mir nach. Ihr Körper schien jede Bewegung, die ich machte, vorausahnen zu können. Sie vervielfältigte sich, sie hatte tausend geschmeidige Glieder. Und der brennende Mund sog. Es begann mir zu schwindeln; es schmerzte; ich glaubte im Meer zu liegen, nach Luft röchelnd, halb erstickt vom Salzwasser und umschlungen vom Seegras. Jetzt hatte ich ein Gefühl, als ob ich im Begriff wäre zu ertrinken; ich konnte nicht mehr atmen. Es flimmerte mir vor den Augen. Aber der Schmerz ging in Wollust über, in die heftigste, heißeste Wollust. Ich schwebte wie losgelöst von meinem Körper, das einzige, was ich fühlte, waren zwei heiße, unerbittliche Feuerzungen, die jeder leisesten Bewegung folgten, die ich machte. Ich wiegte mich in einem grünfunkelnden Raum; jede Bewegung währte ein Jahrhundert oder eine Sekunde und war süßer als alle Wirklichkeit, die ich je empfunden.
Jetzt ging der Raum in Schwarz über. Es war, als durchwehe ihn ein kalter Hauch. Er durchkältete mein ganzes Wesen. Ich wollte bleiben; ich strebte den zwei heißen Feuerzungen nach, die mich mit Wollust erfüllt hatten, aber sie waren verschwunden. Die Kälte nahm zu und ging mir durch Mark und Bein. Ich war nicht mehr losgelöst, ich hatte wieder einen Körper, der grünfunkelnde Raum schwankte; er stürzte in einem Regen von Feuersplittern zusammen, die taumelten und tanzten, ich weiß nicht wie lange. Ich selbst taumelte ebenfalls. Endlich konzentrierte sich das Licht, zuerst in einer Nebulose – ach, ja natürlich, die Erschaffung der Welt – die Nebulose verdichtete sich, die Sternfragmente wurden zu einer Sonne, die sich von meinem Wesen lostrennte, mit dem sie früher mystisch vereinigt gewesen war, und nachdem sie eine Weile über mir hin und her geschwungen hatte, festigte sie sich allmählich und blieb über meinem Kopf hängen. Denn ich hatte wieder einen Kopf. Ich atmete wieder; die Luft strich über meine Schläfen, kalte Luft, ich hörte schneidende Laute um mich – was war dies? Ein Bergsturz? Nein, es war jemand, der lachte, ein rohes, häßliches Lachen. Es wurde mir klar, daß ich nicht nur einen Kopf hatte. Ich besaß auch einen Körper, der die wunderlichsten, widerspruchvollsten Bewegungen machte; ungefähr als ob ich ein kleines Kind wäre. Es gab aber noch andere Körper als diesen einen, denn etwas hielt ihn aufrecht. Mein Bewußtsein, das zugleich mit dem grünen Raum zersplittert war, verdichtete sich allmählich; und plötzlich sah ich, hörte ich und fühlte ich.
Wo war sie?
Ich sah nichts von ihr. Zwei Autos rollten von dannen, und die beiden Schofföre starrten mich an und lachten laut. Es war klar, welche Ansicht sie von meiner Nüchternheit hatten. Die Sonne, die in meiner Traumvision über mir geleuchtet hatte, erwies sich als eine Gaslaterne über meinem Kopf. Ich stand vor der Eingangstür des Hauses, in dem ich wohnte, und stützte mich auf einen Arm. Ich sah auf, um festzustellen, wem er angehörte. Es dauerte einige Zeit, bevor ich meinen Augen trauen wollte.
Der Arm, der mich stützte, gehörte dem Mann im schwarzen Domino, dem Tiger, ihrem Begleiter auf dem Maskenball. Er stand mit einem Schlüssel in der Hand da – meinem Schlüssel – aus meiner Tasche genommen, denn das Haustor war geöffnet. Jetzt schob mich seine andere Hand in das Stiegenhaus, und die grollende Stimme, der ich mich von der Redoute her erinnerte, fragte:
»Welches Stockwerk? Wir haben ein paar Dinge zu besprechen. Mein Name ist Laplace.«