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Drittes Buch.
Tutti in Maschera

 

1

Gerade als Herr Pitz – ich erinnere daran, daß ich wußte, wer er war, aber er dies nicht ahnte – dem Kellner winkte, stand die Gesellschaft in dem Kabinett hinter uns auf. Es war eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft. Ein Beduine mit blitzenden Augen, ein Troubadour aus der Provence und zwei durchgebrannte Haremsschönheiten. Das Kabinett grenzte an das der französischen Gesellschaft. Herr Pitz stürzte sich mit zuckendem Gesicht darauf. Alle Einwände des Kellners waren vergebens.

Herr Pitz bestellte im Handumdrehen Austern, Rebhühner, Salat, Käse und Obst.

Er wandte sich entschuldigend an mich.

»Ich habe Käse bestellt«, sagte er. »Ich bin wirklich hungrig. Welchen Wein ziehen Sie vor, mein Beichtkind?«

»Ich trinke am liebsten Burgunder zum Geflügel und zum Käse, wenn es Ihnen gleich ist, ehrwürdiger Vater.«

»Das freut mich. Ich bin tatsächlich hungrig. Und man weiß ja nicht, wann man ins Bett kommt. Nein, das weiß man nicht. Vielleicht kommt man überhaupt nicht ins Bett. Ich habe so eine Art Vorgefühl.«

Er machte eine melancholische Geste mit beiden kleinen Fingern und schob seine aufgeklebten Augenbrauen höher, bis sie wie die eines Pierrots aussahen. Dann beschäftigte er sich wieder mit meinem chinesischen Kostüm.

»Feiner Stoff«, meinte er. »Man sieht, daß Sie Geschmack haben. Wo wohnt der Schneider, der es angefertigt hat? Sie erzählten ja, es sei bei einem Schneider hier in der Stadt gemacht worden?«

Das gute Essen, das meiner wartete, machte mich wahrheitsliebend.

»Ich habe Sie angelogen«, sagte ich. »Das Kostüm ist uralt. Ich besitze es schon seit meinen Kinderjahren. Ich habe es von einem Onkel geerbt. Wie er dazu gekommen ist, weiß ich nicht. Meinen Sie, daß es wertvoll ist?«

»Wertvoll? Das glaube ich nicht. Aber echt ist es«, sagte Herr Pitz. Die Nervosität, die er vor einer Weile gezeigt hatte, war verflogen.

»Ist Ihr Onkel in China gewesen?«

»Er ist überall gewesen. Er stand bei der Familie recht tief im Kurs. Mein Vater behauptete immer, ich sei ihm so ähnlich wie ein Ei dem andern.«

»Aha!«

»Die Familie hatte eine Erbschaft erwartet. Die Sache war die, daß er schon mehrere Jahre nicht um Geld nach Hause geschrieben hatte. Folglich konnten sie nichts anderes glauben, als daß er zu Vermögen gekommen sei.«

»Soso?«

»Ja, in seiner Jugend war er ein sehr fleißiger Briefschreiber, wenn es sich um Geld handelte. Jetzt kam er nach vielen Jahren des Schweigens nach Hause, ohne anderes Gepäck als drei Kisten.«

»Und darin lag dieses Kostüm?«

»In einer von ihnen. In den anderen lagen ähnliche Dinge. Sie begreifen, daß meine Familie über sein Betragen entrüstet war. Er starb kurz darauf.«

»Aus Kummer, sie enttäuscht zu haben?«

»Nein, er war eine gefühllose Natur. Ich glaube, er hatte sich irgendein Klimafieber zugezogen, das dann zum Ausbruch kam. Wir Kinder erbten seine Kisten, da keiner der Erwachsenen sie haben wollte.«

Herr Pitz beugte sich von neuem vor und betrachtete mein Kostüm.

»Antik ist es nicht«, sagte er. »Aber es ist echt, und das ist mehr, als man von den anderen Kostümen hier behaupten kann. Haben Sie die Pfauenaugen bemerkt?«

Ich sah die Pfauenaugen an. Sie waren grün wie ein Abendhimmel. Im gleichen Augenblick fiel mir ein, wo wir jetzt saßen. Wand an Wand mit mir – wenn man ein paar dünne Vorhänge eine Wand nennen kann – saß sie, mit den meerfarbenen Augen unter der schwarzen Larve.

Sie sprachen dort drinnen. Ich hörte ihr ungeduldiges Französisch und seine grollende Stimme, wenn er antwortete. Mir fiel der Königstiger im Zoologischen Garten ein. Dessen Stimme grollte auch so, wenn er seine Gemahlin liebkosen wollte. Die meerfarbenen Augen verfolgten mich. Jetzt sah ich auch ihre Lippen vor mir. Sie waren voll, aber blaß, als wollten sie sich nicht rot küssen lassen. Oder gehörte die Blässe zu den grünen Augen und der weißen, weißen Haut? War sie rothaarig? In der Vision eines Augenblicks sah ich schweres Haar, das sich gleich Feuerzungen um mich schlängelte, zwei grüne Augen verloren die Klarheit unter meinem Kuß und begannen dunkel zu leuchten. Herr Pitz riß mich aus meinen Träumereien.

»Na, da ist der Kellner endlich«, sagte er. »Gott sei Dank! Ich bin wirklich hungrig.«

Gerade in diesem Augenblick hörte man ihre Stimme auf der anderen Seite des Vorhangs.

»Ah, je t'aime!« rief sie. Die silberklare Stimme durchbohrte mich wie ein Stilettstoß.

»Je t'aime, tu m'aimes, il t'adore, nous nous marions, vous me trompez, ils divorcent«, plauderte Herr Pitz. »Man merkt, daß unser kleines Städtchen kontinental zu werden beginnt. Blicken Sie in den Saal vor uns, da haben Sie einen neuen Beweis dafür.«

»Wo?« fragte ich geistesabwesend.

»Sehen Sie nicht den Mann in dem neapolitanischen Fischerkostüm mit dem harmlosen Lächeln?« fragte Herr Pitz. »Das ist ein undurchsichtiger maskierter Kopenhagener Detektiv. Wer würde die Tiefen ahnen, die unter der fröhlichen Oberfläche dieses ›pescatore‹ lauern. Und doch ist er ein Menschenfischer wie der heilige Petrus, in dessen Kirche ich ein unwürdiger Großinquisitor bin. So essen Sie doch Austern, Menschenskind! Warum sitzen Sie da und starren vor sich hin?«

»Haben Sie die Gesellschaft beachtet, die neben uns sitzt?«

»Nein. Was stellen sie denn vor?«

»Der Herr trägt einen schwarzen Domino. Seine Dame ist in Nonnentracht. Mir scheint, ich habe schon von ihr gesprochen. Sie haben einen chinesischen Diener bei sich.«

»Wie sagen Sie? Einen chinesischen Diener?«

»Ja, er blieb stehen, als die anderen sich setzten. Da muß es wohl ein Diener sein.«

»Es ist still dort drinnen«, bemerkte Herr Pitz.

»Ja«, gab ich widerwillig zu.

»Sie werden sehen, sie haben den Diener fortgeschickt. Diese Logen hier sind wirklich diskret, das muß ich zum Lobe der Direktion sagen.«

Ich fühlte ein unbestimmtes Unbehagen, das ich nicht unterdrücken konnte. Die Logen waren sehr diskret. Darin hatte Herr Pitz recht. Die Vorhänge zum Saal zu waren allerdings durchsichtig – anders erlaubte es die Polizei nicht – aber zog man sie vor, dann war man so gut wie allein. Wir hatten sie in unserem Kabinett nicht vorgezogen. Ich hatte freien Ausblick in den Saal. Der Tanz ging unverdrossen zwischen den Tischen weiter, an denen alle, die kein Kabinett erobert hatten, soupierten. Weiter weg, zwischen den Säulen und Dekorationen, schimmerte der große Hauptsaal, aus dem ein dumpfer Niagara von Stimmen und Musik sich erhob. Ein verschiedenfarbiger elektrischer Scheinwerfer hatte dort drinnen zu spielen begonnen. Aber ich erinnerte mich, daß der Vorhang zum Kabinett der französischen Gesellschaft vorgezogen war. Hatten sie den Diener fortgeschickt? Es war ganz still bei ihnen.

»Gott sei Dank«, plapperte Herr Pitz, »da haben wir den Kellner mit dem Geflügel«.

Jetzt hörte ich wieder Stimmen auf der anderen Seite des Vorhangs. Nach diesen zu urteilen, saßen sie jeder an einer Seite des Kabinetts. Er schien näher zu mir zu sitzen. Herr Pitz bemerkte die Stimmen auch, denn nachdem er das Geflügel gekostet, sagte er:

»Vortrefflich! Vortrefflich! Ich verstehe Brillat-Savarin nicht, der den Truthahn für den vornehmsten Vogel erklärte. Nein, man gebe mir ein saftiges, gespicktes Rebhuhn mit Hautgout und Salat! Kennen Sie den Brillat-Savarin? Er behauptet, daß die wichtigsten kulinarischen Entdeckungen der Truthahn und der Alkohol sind. Vermutlich bin ich gekommen, weil ich auf der anderen Seite des Vorhangs französisch sprechen hörte. Sie haben es wohl auch gehört, da Sie jetzt wieder essen. War die Nonne gar so schön?«

Sein Ton verletzte mich. Ich sah selbst ein, daß das dumm war – auf einem Maskenball! Und ich suchte nach einem Thema, über das ich sprechen konnte. So wie das Französische auf der einen Seite des Vorhangs Herrn Pitz an Brillat-Savarin hatte denken lassen, ließ der Name des alten Gourmet mich an einen französischen Namen denken, den ich vor nicht so langer Zeit gehört hatte.

»Sagen Sie mir«, fragte ich, »Sie scheinen die Stadt ja in- und auswendig zu kennen – haben Sie nicht vielleicht zufällig von einem alten Franzosen, der Laplace heißt, reden gehört?«

Ich hatte meine Frage einzig und allein gestellt, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Ich hatte, wenn ich mir überhaupt etwas erwartete, ein Achselzucken als Antwort erwartet. Aber Herr Pitz verblüffte mich wie nun schon einige Male. Seine Gesichtszüge gerieten wieder in die heftigste Bewegung. Er verwendete sämtliche Gesichtsmuskeln als Ausdrucksmittel, während er mich mit seinen rollenden blauen Hundeaugen anstarrte. Ich brach in schallendes Gelächter aus. Herrn Pitz' Gesicht beruhigte sich wieder, und endlich sagte er:

»Laplace? Laplace? Was für ein Laplace? Kant-Laplace? Der das Sonnensystem erfunden hat?«

»Ein Verwandter von ihm, vermute ich. Ein Lebender, verstehen Sie, der sich hier in der Stadt aufhalten soll.«

Herr Pitz stürzte sich auf das Rebhuhn.

»Ich begreife nicht, warum Sie nicht essen«, bemerkte er. »Schlagen Sie Ihren Laplace im Adreßkalender nach. Warum sollte ich ihn kennen? Behandelt er ein Rebhuhn so wie Sie, dann werde ich Klage gegen ihn erheben.«

In dem benachbarten Séparée war es wieder still geworden. Kein Laut war zu vernehmen. Totenstille. Was ging dort vor? Waren sie gegangen? Nein, der Kellner stand da und starrte mit einem Ausdruck irritierter Ungeduld dorthin. Sie saßen ihm offenbar schon zu lange da. Es gab viele, die das Kabinett übernehmen wollten. Aber der Mann im Domino hatte es verstanden, sich in Respekt zu setzen, und wenn ich sein Aussehen nicht falsch beurteilte, würde der Kellner keinen Anlaß haben, sich zu beklagen. Der schwarze Domino sah wie einer von jenen Leuten aus, die sich auf ihre Banknoten nie etwas herausgeben lassen. Während ich den Kellner beobachtete, veränderte sich seine Miene. Ein Ausdruck der Hoffnung kam in seine erschöpften Züge; schickten er und sie sich zum Gehen an? Nein, nicht beide. Eine einsame Gestalt zeigte sich plötzlich draußen im Saal – sie. Sie machte ein paar zögernde Schritte, sah sich um und wandte sich meinem und Herrn Pitz' Kabinett zu. Einen Augenblick ruhten die meerfarbenen Augen auf Herrn Pitz, dann glitten sie weiter und überfluteten mich wie eine Welle. Ich saß wie hypnotisiert da. War es möglich, daß eine Frau einzig und allein durch ihren Blick einen solchen Genuß bereiten konnte? Ich saugte mich gierig, unverschämt in ihre Augen ein. Sie sah mich an, ohne mit der Wimper zu zucken. Plötzlich drehte sie sich um und verschwand im Kabinett des schwarzen Dominos. Die Züge des Kellners erschlafften wieder zu kaum verhehlter Verdrossenheit.

»War das Ihre Nonne?« fragte Herr Pitz. »Die hat ja grüne Augen! Das kann schön sein. Aber wenn ich mich nicht täusche, ist sie auch rothaarig.«

Ich sah ihn mit kalter Verachtung an. Ich dachte nicht daran, zu antworten. Herr Pitz merkte es. Sein Gesicht, das zur Ruhe gekommen war, als er an seinem Chambertin nippte, geriet erneut in Fahrt. Ich machte die Beobachtung, daß zwei Dinge es in Bewegung setzten. Einmal, wenn Herr Pitz verblüfft war, zum anderen, wenn er sich einschmeicheln wollte. Diesmal war das letztere der Fall. Er beugte sich zu mir vor, legte sein Gesicht in die geheimnisvollsten Falten, ganz als wollte er mir ein kirchliches Geheimnis mitteilen, und sagte:

»Welche Sorte Käse wollen Sie haben?«

Ich konnte nichts dafür, daß ich in ein schallendes Gelächter ausbrach. Der Kerl war ja ein Hanswurst. Er fand offenbar Vergnügen daran, es zu sein. Hatte Brasch recht, wenn er behauptete, daß er intelligent sei? Ich begann es zu bezweifeln. Ich fühlte mich geneigt, das Gegenteil zu behaupten. Aber eine Redoutennacht ist nicht die rechte Zeit, einen Hanswurst zu kritisieren.

»Finden Sie nicht, daß es das richtigste ist, sich an Roquefort zu halten?« meinte ich.

Herr Pitz kniff die Lippen zusammen und dachte nach. Dann wandte er sich an den verdrossenen Kellner.

»Roquefort und Camembert«, befahl er. »Und noch eine Flasche Chambertin. Rasch, bevor das Rebhuhn des Herrn kalt wird!«

Wieder beugte er sich zu mir vor, das Gesicht in liebenswürdiger Plauderhaltung, und fragte:

»Wissen Sie, woran ich denke, wenn ich solche Bestellungen mache?«

»Nein.«

»Ich denke an die Steinkohlenzeit«, sagte Herr Pitz.

»Ist das nicht eine recht seltsame Ideenassoziation?«

»Keineswegs; die Steinkohlenzeit war die Periode, in der der materielle Wohlstand auf Erden die höchste Blüte erreichte, das heißt auf eigene Faust, unabhängig vom Menschen. Die Pflanzen feierten Orgien von unglaublicher Gewaltsamkeit. Sie atmeten Sauerstoff aus und absorbierten Kohlensäure, bis die Tiere wie berauscht wurden und zu Ungeheuern heranwuchsen. Zwanzig, dreißig Meter lange Eidechsen, und die anderen Tiere im Verhältnis dazu. Aber die Absorption der Kohlensäure rächte sich. Sie rief die Eiszeit hervor. Der Absolutismus der Pflanzen wurde gebrochen und gleichzeitig der der Tiere. Danach kamen wir. Was haben wir denn mit Hilfe der Steinkohle und unserer Technik anders zustande gebracht als eine neue Steinkohlenzeit? Wir feiern Orgien derselben Art wie ihrerzeit die Pflanzen. Was sehen Sie anderes als mißgestaltete Individuen und mißgestaltete Gemeinwesen? Ich warte auf die Eiszeit, die den Menschen entthronen wird.«

»Und wer, glauben Sie, wird sich an unseren Steinkohlenlagern gütlich tun?«

»Wir haben keine Steinkohlenlager produziert. Wir haben die vorhandenen aufgebraucht. Weiß Gott, was wir produziert haben. Vielleicht wird unsere Eiszeit alles beenden.«

Der Kellner war mit dem Käse und dem Burgunder gekommen. Während er beides hinstellte, musterte ich Herrn Pitz, der augenblicklich damit beschäftigt war, sich die Zähne zu stochern. Lag in seinem Wahnsinn Methode? Oder war er nur ein Bajazzo mit einem gewissen Jargon? Ich wußte nicht recht, was ich glauben sollte. Herr Pitz nahm sich von dem Camembert, ohne mir Aufschlüsse in dieser Sache zu geben. Der Käse schien nach seinem Geschmack zu sein. Er hob sein Burgunderglas zu den rosig beschatteten Wachskerzen auf dem Tisch und sagte:

»Das fällt aus dem Rahmen. Die Direktion hat überall auf Champagner gerechnet. Daß man auf einer Redoute Burgunder trinkt, scheint ebenso naturwidrig wie daß zwei Herren miteinander soupieren. Apropos, was war das für ein Franzose, von dem Sie vorhin sprachen?«

»Laplace?«

»Ja, richtig, so hieß er. Kennen Sie ihn?«

»Nein. Ich habe nur von ihm reden gehört.«

»Wer ist er denn?«

»Ich weiß nichts anderes, als daß er ein älterer Herr sein soll. Der mich nach ihm fragte, hätte ihn gerne getroffen.«

»Wohnt er in der Stadt, dann ist das doch leicht durchzuführen.«

»Vielleicht, aber es ist nicht so sicher, daß es Laplace ebensosehr darum zu tun ist, den anderen zu treffen. Der andere ist nämlich Detektiv.«

»Detektiv? Hat Laplace etwas angestellt?«

»Ich weiß es nicht. Das einzige, was ich weiß, ist, daß der Detektiv, übrigens ein Engländer, mich fragte, ob ich einen älteren Franzosen namens Laplace kenne. Aber ein Detektiv braucht ja nicht immer Verbrechern nachzujagen. Er kann auch einen Bekannten suchen.«

»Sage mir, mit wem du umgehst«, zitierte Herr Pitz, »und ich will dir sagen, wer du bist. Kein ordentlicher Mensch verkehrt mit Detektiven.«

»Es schmerzt mich, dies zu hören«, sagte ich. »Ich habe eine gewisse Schwäche für Detektive. Ich bin nämlich Sensationsschriftsteller.«

»Sensationsschriftsteller? Sie?« Herr Pitz stellte das Glas nieder. »Sie, der Sie Burgunder zum Käse trinken und überhaupt den Eindruck eines gebildeten Menschen machen? Das kann nicht wahr sein!«

»Es ist nichtsdestoweniger wahr. Was haben Sie gegen die Detektive?«

»Alles, was ich von ihnen weiß«, antwortete Herr Pitz rätselvoll.

Ich wurde satirisch:

»Es freut mich, daß es nicht alles ist, was sie von Ihnen wissen.«

Herr Pitz kniff ein Auge zusammen und sah mich forschend an. Im selben Augenblick brachte der Kellner Eis und Obst. Er hatte zur Ansicht einen Madeira mitgebracht, der ihm eine wohlwollende Prophezeiung von Herrn Pitz eintrug.

»Sie werden noch einmal Oberkellner«, erklärte er. »1842, unter Kontrolle 1889 umgefüllt, das lasse ich mir gefallen. Vorsichtig einschenken. Vorsichtig – ah, ich fühle bereits das trockene Feuer auf meiner Zunge brennen, wenn nun das Eis schmilzt, das ich eben in den Mund stecke – ah!«

Ich trank andächtig wie ein Katechumene. Herr Pitz hatte nicht zuviel gesagt. Die Flasche enthielt die Sonne der Tropen. Die Einwohner von Madeira hatten es besser verstanden, die Sonne auf Flaschen zu ziehen, als die Einwohner von Schilda. Herr Pitz beugte sich zu mir und sprach weiter:

»Erinnern Sie sich an die Geschichte von dem Mann, der die vielen Tauschgeschäfte machte? Die Kuh gegen einen Wagen, den Wagen gegen einen Rock und den Rock gegen eine Flasche Branntwein. Wie viele Flaschen dieses Weines möchten Sie für Ihren Mantel haben?«

»Welchen?« fragte ich.

»Den Sie anhaben, natürlich. Den chinesischen.«

Herr Pitz lachte, aber merkwürdigerweise glaubte ich zu sehen, daß seine Augen ernst blickten. Ich zuckte die Achseln.

»Ist es nicht schwer, eine Taxe festzustellen?« sagte ich. »Ich weiß, was eine solche Flasche Wein wert ist, aber ich weiß nicht, was mein Mantel wert ist. Wenn er überhaupt etwas wert ist.«

»Ich will Ihnen sagen, wie die Sache zusammenhängt«, vertraute mir Herr Pitz an. »Ich schwärme für Antiquitäten. Heute früh war ich gerade bei einem alten Chinesen, der ein Antiquitätengeschäft in der Fiolstraße hat. Ich glaubte, ich würde mir bei ihm ein Maskenkostüm verschaffen können. Ich habe schon öfter bei ihm gekauft. Leider war sein Geschäft geschlossen, ich weiß nicht warum.«

»Das kann ich Ihnen verraten«, sagte ich. »Er ist verschwunden.«

Herrn Pitz' Augäpfel schwollen plötzlich an, als würden sie von innen mit komprimierter Luft aufgepumpt. Sein Mund blieb weit offen stehen wie eine runde Null. Ich sah das unverhohlenste Erstaunen, ja beinahe Entsetzen in seinem Blick. Was in aller Welt war los? Endlich stammelte er:

»Verschwunden! Woher wissen Sie, daß er verschwunden ist?«

»Ich hörte es heute nachmittag von einem Bekannten.«

»Was sagen Sie! Er ist verschwunden! Wann?«

»Heute nacht, glaube ich.«

Herrn Pitz' Wortschwall war plötzlich abgerissen. Er saß da und starrte mich an wie ein Gespenst. Seine eine Augenbraue war in ihrer hochgezogenen Plauderlage geblieben, die andere war herabgesunken wie ein angeschossener Vogel. Der Ausdruck von Schmerz und Verblüffung in seinen blauen Augen stand so im Widerspruch, daß ich lachen mußte; war er vielleicht nebenbei noch chinesischer Generalkonsul, nicht nur Lehrer des Chinesischen? War er für das Leben und das Wohlergehen aller in Kopenhagen wohnhaften Chinesen verantwortlich? Herr Pitz bemerkte meinen Gesichtsausdruck und versuchte, sich aus seiner Verblüffung aufzuraffen, aber es dauerte einige Zeit, bis ihm dies gelang. Langsam, halb für sich selbst, hörte ich ihn wiederholen:

»Sung verschwunden … nun gilt es … der alte Fuchs … rasch muß es geschehen …«

Er schenkte sich ein Glas des auserlesenen Madeira ein und ließ ihn durch die Kehle sickern. Das schien Watte um seine Nerven zu wickeln, denn plötzlich wendete er sich mir mit demselben lächelnden Gesicht zu, wie er es zuvor gezeigt hatte.

»Sie haben mich wirklich aus der Fassung gebracht«, meinte er. »Es kommt sonst nicht oft vor, daß ich die Haltung verliere.«

»Ah?« sagte ich mit unterstrichener Skepsis.

»Meine kleinen Gesichtseigentümlichkeiten dürfen Sie nicht beachten. Aber dieser Antiquitätenhändler, von dem Sie behaupten, daß er verschwunden sei, war mir Gott weiß wieviel Geld schuldig. Ich hatte im voraus bezahlt, verstehen Sie. Das wäre eine nette Geschichte, wenn er – na lassen wir's! Er wird schon wieder auftauchen. Wovon sprachen wir doch? Ja, von Ihrem Kostüm. Haben Sie Lust zu einem Geschäft?«

»Ein Geschäft? Was denken Sie? Hier auf der Redoute?«

»Warum nicht?«

»Was denken Sie sich?« wiederholte ich und starrte ihn an. War er verrückt? »Ist es Ihr Ernst, daß ich mein Kostüm tauschen soll? Für eine Flasche Wein? Sie müssen mir doch wenigstens sagen, was ich vorstellen soll, wenn ich in Hemdärmeln erscheine. Eine so durchgreifende Demaskierung ist hier sicherlich nicht im Programm vorgesehen?«

»Ich verlange ja nicht, daß Sie in Hemdärmeln bleiben sollen«, drängte Herr Pitz. »Sie können meinen Inquisitormantel nehmen. Sie glauben, daß ich verrückt bin, aber ich habe mich tatsächlich in Ihren Mantel vergafft. Ich liebe chinesische Antiquitäten, wie ich Ihnen schon gesagt habe – das weiß Sung auch, der alte Schwindler, der jetzt auf und davon ist! Es war mein Traum … Wollen Sie also nicht darauf eingehen …«

Ich unterbrach ihn. Das ging doch zu weit.

»Ich tausche auf einem Maskenball weder Kostüme noch Uhren«, sagte ich. »Das ist nun einmal mein Prinzip. Es erinnert doch allzu stark an einen Trödelmarkt, nicht wahr? Aber Sie haben recht, der Madeira ist vortrefflich. Ihr Wohl!«

Herr Pitz hob sein Glas, ohne zu trinken.

»Sie mißverstehen meinen Scherz«, antwortete er. »Daß ihr Schweden so schwerfällig in solchen Dingen seid! Ein Maskenball ist da, um sich zu unterhalten. Nimmt man das, was auf einem Maskenball gesagt oder getan wird, bitterernst, ist man – nun sagen wir, allzu empfindlich. Was ich Ihnen vorschlug, war im Stil des Abends, nichts anderes. Hätte ich den blauen Sakkoanzug des Detektivs angehabt, anstatt eines Inquisitormantels, Sie hätten sofort getauscht.«

»Was das betrifft«, widersprach ich, »so ist wohl der Unterschied zwischen einer Detektivuniform und einem Inquisitormantel nicht so beträchtlich. Ich glaube, Torquemada hätte bei der Polizei eine große Zukunft gehabt.«

Herr Pitz lächelte erwartungsvoll.

»Ich begreife, daß Sie mich vorhin zudringlich fanden, als ich Ihnen vorschlug, das Kostüm zu tauschen. Das war nicht meine Absicht. Lassen Sie mich rundheraus fragen …«

»Ja?«

»Wollen Sie Ihren Mantel verkaufen?«

»Jetzt, heute abend?«

»Am liebsten, aber sonst morgen früh. Ich kann jederzeit in meinen Sammlungen Verwendung dafür finden.«

Ich sah Herrn Pitz an.

»Welcher Preis?«

»Was verlangen Sie? Hundert Kronen?«

Ich mußte lachen.

»Nein, weder hundert noch zweihundert. Ich habe den Chinesenmantel von meinem geistigen Vater, Onkel John, geerbt. Solche Dinge verkauft man nicht. Wenigstens ich nicht. Prosit!«

Herr Pitz trank, ohne zu antworten. Ich spürte, daß ich ihn tief verletzt hatte. Aber Herrgott, man kann doch nicht so ohne weiteres mit einem wildfremden Menschen (wenn ich auch zufällig wußte, wer er war) das Kostüm tauschen oder ihm alte Familienkleinodien verkaufen! Das kann man nicht, wenn man auch mit dem Betreffenden vortrefflich gespeist und einen amüsanten Abend verbracht hat.

Der Kellner, dessen Zukunft Herr Pitz so licht ausgemalt hatte, kam wieder zu Besuch.

»Kaffee?« fragte er.

Ich mußte plötzlich an etwas denken, das eine halbe Stunde oder mehr völlig aus meinem Bewußtsein entschwunden war.

»Sitzt die französische Gesellschaft noch dort drinnen?« erkundigte ich mich und machte eine Geste nach dem Kabinett daneben.

Der Kellner nickte verdrießlich:

»Mir scheint, die gehen überhaupt nicht. Hier sind schon zehn Gesellschaften gewesen, die das Kabinett haben wollten.«

»Seien Sie nicht ungeduldig«, ermahnte ich ihn. »Sie können sich auf etliche Zehner Trinkgeld gefaßt machen.«

»Kennt der Herr die Herrschaften? Sie haben ja eine Weile hier am Tisch gesessen?«

»Ich kenne sie nicht, aber ich möchte nichtsdestoweniger dafür garantieren.«

Der Kellner strahlte.

»Bitte, etwas zum Kaffee gefällig?« fragte er.

»Ich weiß nicht«, meinte ich und sah Herrn Pitz fragend an. Er saß da und schob den Mund vor wie einen Rüssel, den er bald gerade vorwärts, bald nach den Seiten wendete. Die zehn Finger waren verkrampft gegeneinander gepreßt. Jetzt stand er auf.

»Entschuldigen Sie, wenn ich mir ein bißchen Bewegung mache«, sagte er. »Es ist hier so heiß, und mein Kostüm ist zu solide. Aber bleiben Sie sitzen, ich komme gleich wieder.«

Er lächelte mir zu, allein dieses Lächeln wirkte gezwungen. Das war ein komischer Kauz! Saß seine gute Laune nicht tiefer? Ich neigte stumm den Kopf. Dummerweise war ich zu diskret, an die Rechnung zu erinnern.


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