Johann Gottfried Herder
Stimmen der Völker in Liedern
Johann Gottfried Herder

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1. Voluspa

Oder die Nordische Sibylle, die, wie alle ihre Schwestern, der Welt Anfang, den Weltbau, den Ursprung des Todes und der Plagen, endlich die letzten Zeiten und die Zerstörung der Dinge aus alten Sagen, im Ton der Weissagung verkündigt.

Der Uebersetzer masset sich nicht an, von diesem und den folgenden Nordischen, zum Theil so dunklen und mißgedeuteten Stücken eine kritische Uebersetzung zu geben; es ist nur eine Probe, wie er sich (und zwar eine Reihe von Jahren zurück, da von der Nordischen Bardenpoesie noch nichts erschallet war,) diese berühmte Stücke dachte und zu eignem Verständniß übersetzte. Wers besser kann, mache es besser. Zur Voluspa sind zwo sehr verschiedne Ausgaben des Resenius, in 4 gebraucht, wo in der Einen die Voluspa allein, in der zweiten hinter der spätern Edda gegeben wird.

Schweiget alle, heilige Wesen!
Heimdalls KinderGeschöpfe der Natur. groß und klein! –
Ich will Allvaters Geheimniß reden,
Der Urwelt Sagen hab' ich gehört.

Ich weiß noch Riesen, die Urbewohner,
Und was vor Jahren sie mir erzählt.
Ich weiß neun Welten und neun Himmel,
Und wo da drunten die Erd' auf ruht.

Uranfangs war es, da YmerDer Riese, aus dessen Gebeinen die Welt ward. S. Edda Fabel 3. 4. lebte,
Noch war nicht Sand, noch Meer, noch Winde,
Noch drunten Erde, noch Himmel droben,
Weites Leer, nirgends ein Gras.

Noch eh Burs SöhneDie Erbauer des Erdgebäudes. S. Edda Fab. 4. den Boden huben,
Und Midgard bauten zu weitem Saal.
Die Sonne schien auf Saales Steine:
Der Erdgrund grünte mit grünem Laub.S. Edda Fab. 6.

Die Sonn' aus Süden warf zur Rechten
Den Mond jenseit der Pforte der Nacht:
Noch kannte Sonne nicht ihren Saal,
Der Mond noch wuste die Heimath nicht;
Nicht wusten Sterne sich ihre Statt.

Da gingen die Herrscher zu ihren Stühlen,
Die heilgen Götter pflegten Rath,
Sie gaben Namen der Nacht und Dämmerung,
Morgen und Mittag, und schieden das Jahr.


Zusammen kamen auf Ida's FeldeDieser Abschnitt enthält gleichsam die goldnen Zeiten. S. Edda Fabel 7.
Die Asen und schnitzten Bilder sich,
Und bauten Häuser und machten Schmiede,
Und schmiedeten Zangen und Goldgeräth.

Und spielten frölich mit Steinen im Hofe,
Und stritten keiner noch ums Gold – –
Bis an erst kamen Riesenjungfraun,
Zwo mächtge Weiber aus Riesenland.


Und drei der Asen, mächtig und gut,Die Schöpfung der Menschen. Edda Fab. 5.
Sie kamen heim und fanden am Ufer
Ask und Embla, elend liegen,
Ohn' alle Rege, ohn alle Kraft.

Noch ohne Athem, noch ohne Sprache,
Noch ohne Vernunft und Angesicht;
Athem gab Odin, Häner die Sprache,
Vernunft der Lodur und Angesicht.


Ich weiß, da stehet die Esch' Ygdrasill,Der Weltbaum. Fab. 8.
Der weißumwölkte Himmelsbaum;
Von ihm der Thau in Thäler fällt,
Steht immergrünend über Urda'sDie Vergangenheit, Urzeit. Brunn.

Und aus dem See da unterm Baum
Stiegen der Weisheit Jungfraun auf:
Die Eine Urda, die andre Verdande,
Die dritte Skulda, geschnitzt den Schild.Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft; diese ganze Fabel der Edda ist voll weiser und schöner Dichtung.

Sie setzten Gesetze den Menschensöhnen,
Und stellten Schicksal den Sterblichen – –
Weissagerin weiß, das erste Sterben
Der Menschen auf Erden, wohers begann?
Als Gold sie schlugen, als Gold sie brannten
In Odins Hall.

Dreimal verbrannt, erstand dreimal
Die böse GullveigGeldeswerth. und lebt noch:
Wohin sie kommt, nennt sie sich Geld.Geld, oder, was da gilt.
Sie hat geschändet der Götter Kunst,
Ist Zaubrin worden und zaubert noch.
Eine böse Göttin, die allen dient.

Da giengen die Herrscher zu ihren Stühlen,
Die heilgen Götter pflegten Rath,
Ob sie den Asen es sollten vergelten,
Oder alle hegen Einen Rath.

Aus fiel Odin und schleudert Pfeile,
Da war das erste Menschensterben,
Gebrochen lag der Asen Mauer.
Vaners Heere zertraten das Feld.


Weissagerin kennet Heimdalls LiedDes Hüters der Natur: eine der schönsten Dichtungen der Edda.
Geheim an Himmels heilgem Blau.
Sie siehet brausend die trüben Ströme
Der Weisheit rinnen vom Auge Odins.
Wisset ihr mehr?

Sie saß da draussen, da der Alte kam,
Der Weise der Götter,Odin: gleichfalls eine weise Dichtung. sie schaut ihm ins Aug;
Was fragt ihr mich? was versucht ihr mich?
Wohl weiß ich, Odin, wo blieb dein Aug?
Im grossen Brunnen, in Mimers Brunn,
Der täglich früh trinkt Weisheit TrankNach andern: wo er das Auge Odins täglich mit Meet begießt.
Vom Auge Odins; – wisset ihr mehr?

Ihr gab HeersvaterGleichfalls Odin. Die Prophetin spricht bald in der ersten, bald in der dritten Person von sich selbst. Ring und Gold
Und reiche Künst' und Zauberstäbe,
Sie siehet weit und weit die Welt.
Wisset ihr mehr?

Sie sieht ValkyriurTodtenwählerinnen. Das ferne Schicksal zu sehen, ist die tiefste Weisheit. Daß sie sogar, was keiner der Götter wuste, Balders Tod voraus sah, ist der Wissenschaft Gipfel. – fernher kommen,
Geschmückt sie reiten zum Gottesgericht.

Den Schild trägt Skulda, Skogul die andre
Gunnur, Hilldur, Gondul mit dem Speer.
(Ich habe genannt die Odins Nornen,
Gesandt zu wählen die Todte der Schlacht.)


Ich sah was Ballder,S. über diese schöne Sage: Fab. 12. und 28. dem tapfern Krieger,
Dem Odinssohne für Schicksal harrte!
Sie stand im Felde und wuchs allmählich
Die dünne Mistel zu Ballders Tod'.

Es ward die Mistel, was ich gesehn,
Harm und Unglück: Haudur schoß
Mit dem Pfeile Balldern. In Nacht geboren
Ward Ballders Bruder, den Bruder zu rächen –

Nicht wusch er die Hand, nicht kämmt er das Haar,
Bis er Ballders Mörder zur Flamme getragen:
Da ward der Mutter im goldnen Saale
Herzeleid: Vallhalla's Hüter


Sie sah die List im Hunnenhain,S. Fab. 16. 17. 30. 31.
Sah Lock verborgen, brüten Weh,
Und neben ihm sitzen sein Weib, Sigyna,
Das häßliche Weibsbild; wisset ihr mehr?

Den Strom von Osten in Eiterthälern,
Schlammig und trübe gleitet der Strom:
Gen Nord auf niedersinkenden Bergen
den Goldsaal Sindre; den andern Saal
Im warmen Lande, Brimers Schloß.Fab. 9. 16. 31. 33.

Sie sieht den Saal am Todesufer,
Der Sonne fern. Gen Nord die Thore,
Hindurch die Fenster tropfet Gift, –
Von Schlangengebein' ist die Halle gebaut.

Sie sieht, da waten in schweren Strömen
Eidebrecher, Meuchelmörder,
Verführer fremder Ehetreu;
Da nagt der Höllendrache die Todten,
Da frißt an Männern der Höllenwolf:


Gen Osten saß im Eisengefilde
Die alte Riesin und brütet Wölfe,
Der Wölfe ärgsten brütet sie da,
Der den Mond verschlinget mit Riesenwuth,Fab. 16.

Gesättigt mit Leben der Sterbenden
Taucht er in Blut der Götter Sitz,
Die Sonn ist schwarz in Sommers Mitte,
Und Stürme streichen, wisset ihr mehr?


Es saß am Hügel und schlug die HarfeHier fängt die schöne Sage vom Untergange der Welt an, voll von den feinsten und prächtigsten Zügen.
Der Riesin Hirte, der frohe Edger:
Da kräht vor ihm auf Baumes Gipfel
Der Purpurrothe Birkenhahn.

In Asgard krähte der Goldgekämmte,
Der dort die Helden Odins weckt:
Im Abgrund krähte der grauliche,
Unter der Erde in Hela's Saal.
Weissagerin sieht noch, weiß noch viel,
Vom Abend der Götter, von ihrem Fall.


Brüder kämpfen, morden Brüder,
Blutesfreunde, reissen ihr Blutband,
Harte Zeit, Ehe gebrochen,
Eiserne Zeit, Schilde gespalten,
Zeit der Stürme, Zeit der Wölfe,
Wo keiner des andern auf Erden schont.

Die Erde ächzt und Mimers SöhneOhne Zweifel Söhne der Weisheit. Garm ist der Höllenhund, Jormungandur die grosse Schlange im Weltmeer. Rym, Surtur sind Riesen. Der Bruder Bisleips ist Lock. Ueber Alles ist Fab. 32. 37. der Edda Kommentar.
Spielen sicher: da nimmt Heimdallar
Sein schallendes Horn, stößt hoch darein –
Odin frägt Mimers Haupt.

Der Weltbaum zittert: der Ries' ist los:
Die Esche schauert, der hohe Baum!
Garm heult gräßlich am Höllenthor:
Die Ketten brechen, der Wolf ist los.

Rym aus Osten kommt mit Heerskraft;
Jormungandur mit Riesenwuth
Wälzt im Meer sich: der Adler kreischt,
Zerfleischt die Leichen: das Schiff ist los.

Ein Schiff von Osten: die Muspelwohner
Schiffen hinan, den Lock am Ruder;
Sie kommen wütend, den Wolf mit sich,
Der Bruder Bisleips ihnen voran.

Was nun die Asen? was nun die Alfen?
Krachend ertönet der Riesen Land,
Die Zwerge seufzen an Höhlen, an Klüften,
Die Klüftengänger fragen: wohin?

Der Mohr aus Süden mit Feuerflammen;
Sein Schwert es blitzet, zum Morde geschärft:
Die Felsen krachen: die Riesenweiber
Irren ängstig: die Menschen sterben,
Der Himmel bricht.

Ach nun kommt HlinenDie Göttin, die vor Schaden bewahrt. Sie sieht hier Odin, den Sieger Bela's, den Gemahl der Frygga in Todesgefahr. Vidar und Thor sind die Söhne, die ihn rächen; jener erlegt den Wolf, dieser die Schlange, die sich um die Erde gewunden. – In der neuen Welt ist Odin nicht da, aber die schönen Odins Söhne, Balder der Gute u. f. Was sich hier ermordet und gerächt hat, wohnt dort friedlich beisammen u. f. ein andrer Schmerz!
Aus geht Odin entgegen dem Wolf;
Dem Mohr entgegen ist Bela's Sieger,
Da fällt besieget der Frygga Gemahl.

Aus tritt Odins schöner Sohn
Dem Wolf entgegen, der Riesenbrut!
Stößt tief in Rachen, bis ans Herz, das Schwert
Dem Ungeheuer und rächet den Vater.

Aus tritt Odins mächtiger Sohn
Dem Drachen entgegen, der tapfre Thor,
Kühn hat er erlegt die Midgardsschlange,
Die Menschen alle verlassen die Welt.

Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt:
Es fliehn vom Himmel die schönen Sterne:
Das Feuer wütet durch alle Welt:
Es flammt zum Himmel, der Himmel fällt.

Weissagerin sieht, da steigt von neuem
Aus Meeres Schlunde die Erde grün:
Die Wasser fallen, der Adler fleucht,
Der auf den Bergen itzt Fische fängt.

Die Asen kommen auf Ida zusammen,
Und sprechen von alter zertrümmerter Welt,
Und denken zurück an alte Gespräche,
An Odins Sagen, jetzo erfüllt.

Sie finden im Grase die goldnen Tafeln
Mit Odins Runen, die Er besaß.
Die Acker tragen itzt ungesät,
Vorbei ist das Uebel, Balder ist da.

Haudur und Baldur wohnen zusammen
In Odins Schlössern. Häner dabei:
Der beiden Brüder Geschlechte bewohnen
Der Winde Welt. Wisset ihr mehr?


Weissagerin sieht den goldnen Pallast,
Heller als Sonne, des Himmels Burg;
Da werden die Guten ewig wohnen,
Ewig geniessen unendlich Gut. – –

(Da kommt der schwarze Drache geflogen,
Er kommt aus tiefstem Nidagebürg',
Er trägt auf Schwingen der Hölle Leichen,
Er streicht Feldüber und ist nicht mehr.)Dies ist der Versuch des ohne Zweifel ältesten Gedichts der Skandinavischen Poesie, ob ichs gleich für nichts als für Fragmente älterer Sagen halte, vielleicht nicht in der besten Ordnung gesammlet. Auch die verschiednen Ausgaben der Voluspa haben die Strophen hie und da versetzt oder mehr und weniger derselben! Die sogenannte Edda des Snorro, die einem grossen Theil nach offenbar ein mythologischer Kommentar der Voluspa und andrer Sagen ist, gehet auch ihren Gang, und beinah hätte ichs gewagt, hie und da auch anders zu ordnen. Wie ihm sey, so ist die Stimme dieser Nordischen Prophetin ein äusserst merkwürdiges Stück und gleichsam die Urda, wie es mir scheint, der Nordischen Mythologie und Dichtkunst.

 


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