Johann Gottfried Herder
Stimmen der Völker in Liedern
Johann Gottfried Herder

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25. Wilhelms Geist

Schottisch.

Reliq. Vol. 3. p. 126.

Da kam ein Geist zu Gretchens Thür,
        Mit manchem Weh und Ach!
Und drückt' am Schloß und kehrt' am Schloß,
        Und ächzte traurig nach,

»Ist dies mein Vater Philipp?
        Oder ists mein Bruder Johann?
Oder ists mein Treulieb Wilhelm,
        Aus Schottland kommen an?«

»Ist nicht dein Vater Philipp.
        Ist nicht dein Bruder Johann!
Es ist dein Treulieb Wilhelm,
        Aus Schottland kommen an.

O Gretchen süß, o Gretchen lieb,
        Ich bitt dich, sprich zu mir,
Gib Gretchen mir mein Wort und Treu,
        Das ich gegeben dir.«

»Dein Wort und Treu geb ich dir nicht
        Gebs nimmer wieder dir;
Bis du in meine Kammer kömmst,
        Mit Liebeskuß zu mir.«

»Wenn ich soll kommen in deine Kammer –
        Ich bin kein Erdenmann:
Und küssen deinen Rosenmund
        So küß' ich Tod dir an.

O Gretchen süß, o Gretchen lieb,
        Ich bitt dich, sprich zu mir:
Gib, Gretchen, mir mein Wort und Treu,
        Das ich gegeben dir.«

»Dein Wort und Treu geb ich dir nicht,
        Gebs nimmer wieder dir,
Bis du mich führst zum Kirchhof hin,
        Mit Bräutgamsring dafür.«

»Und auf dem Kirchhof lieg ich schon
        Fernweg, hinüber dem Meer!
Es ist mein Geist nur, Gretchen,
        Der hier kommt zu dir her.«

Ausstreckt sie ihre Lilienhand
        Streckt eilig sie ihm zu:
»Da nimm dein Treuwort Wilhelm
        Und geh, und geh zur Ruh.«

Nun hat sie geworfen die Kleider an,
        Ein Stück hinunter das Knie,
Und all die lange Winternacht
        Ging nach dem Geiste sie.

»Ist Raum noch, Wilhelm, dir zu Haupt,
        Oder Raum zu Füßen dir?
Oder Raum noch, Wilhelm, dir zur Seit,
        Daß ein ich schlüpf zu dir.«

»Kein Raum ist, Gretchen, mir zu Haupt,
        Zu Füßen und überall;
Kein Raum zur Seit' mir, Gretchen,
        Mein Sarg ist eng und schmal.«

Da kräht der Hahn, da schlug die Uhr!
        Da brach der Morgen für!
»Ist Zeit, ist Zeit nun, Gretchen,
        Zu scheiden weg von dir!«

Nicht mehr der Geist zu Gretchen sprach,
        Und ächzend tief darein,
Schwand er in Nacht und Nebel hin
        Und ließ sie stehn allein.

O bleib, mein Ein Treulieber, bleib,
        Dein Gretchen ruft dir nach –
Die Wange, blaß, ersank ihr Leib,
        Und sanft ihr Auge brach.

 


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