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Klein-Elsbeth hat ihren Gott, den Gott ihres Kinderherzens, wieder gefunden. Und nun läßt sie sich durch nichts und niemand mehr irre machen. Er will nur das Gute und das Schöne.
Eins aber ist ihr noch nicht klar:
Warum es in der Welt auch Böses und Häßliches gibt?
Der Vater meint, daß die Menschen tüchtig zugreifen, um es wieder fortzuschaffen.
Klein-Elsbeth versteht dies nicht, bis sie dem Elend selbst ins Angesicht geschaut.
An einem schulfreien Nachmittag war's.
Klein-Elsbeth begleitet die kleine Lene zu Verwandten.
In der Vorstadt in einem Hinterhaus wohnen sie. Vier Stockwerk hoch ragt das Vorderhaus empor, als habe es allein ein Anrecht auf Licht und Sonnenschein.
Auf das kleine Rückgebäude wirft es schwer und drückend seinen langen Schatten.
Dazwischen ein winziger, gepflasterter Hof, zu dem hinab sich nie ein Sonnenstrahl findet.
Was kümmert das aber die Kinder, die laut und lustig spielen! Fragen die nach Sonne und Luft? Nur ihre blassen Wangen und ihre trüben Augen, die seltsam tief liegen, die sagen's dem, der es verstehen will.
Klein-Elsbeth schaut dem Treiben zu. Sie weiß nicht, was hier anders ist, aber sie hat keine Lust, mitzutun.
Dann klimmt sie an der Hand der Lene enge Treppen hinauf.
Ein kleines Stüblein mit schiefen Wänden und einem Fenster aufs Dach.
Auf einem schmalen Bett liegt ein bleicher Bub mit eingefallenen Backen, über die ab und zu ein brennend Rot huscht. Zuletzt sind sie blaß, ganz blaß und nur eine kleine dunkle Rose blüht auf jeder Wange. Und die bleiben!
Die großen Kinderaugen haben einen feuchten Glanz.
Das war der kleine, kranke Vetter Lenes. Bald saßen die zwei Mädchen am Bett und plauderten mit dem Buben. Vor ihm auf der Decke lag der mächtige Blumenstrauß, den Klein-Elsbeth von ihrem Garten, von der Wiese, bunt zusammengetragen hatte.
Der Knabe schaut glückselig auf die Blumen. Ach, wie lang war's doch her, daß er selbst draußen war, weit draußen vor der Stadt, wo's noch Wiesen und Blumen und blühende Bäume gibt! Die Erinnerung packte ihn wohl etwas unsanft an, denn ein quälender Husten schüttelte den kleinen Körper. Elsbeth zuckte bei jedem Ton wie von einem schmerzenden Schlag getroffen. Der kleine Franz aber kam sich gar nicht so bemitleidenswert vor. Denn nun erzählte er den aufhorchenden Mädchen, daß er bald, sogar recht bald wieder aufstehen würde. Es ginge ihm schon viel, viel besser, auch der dumme Husten wäre nicht so schlimm. Morgen sicher erlaubt der Doktor das Aufstehen. »Denn wißt ihr's schon? Daß ich in die Ferienkolonie darf? Nun schon zum zweiten Mal! Nur muß ich rasch gesund werden, daß ich aufstehen kann. Denn in der Ferienkolonie da wird tüchtig rumgesprungen. Und auf die Bäume darf man klettern und auf der Wiese Blumen pflücken und gute Milch trinken soviel man nur will. Ja, das darf man alles tun. Ach, so schön wie dort ist's nirgend in der Welt.«
Klein-Elsbeth lauscht einer neuen Offenbarung.
Gab's wirklich einen Ort, der schöner sein konnte als ihr Garten daheim und die Wiese daran, durch die das liebe Bächlein rauschte? Schwer war's zu glauben.
»Schöner als Dein Garten kann's nicht sein, Elsbeth? Da muß ich lachen. Aber freilich, kannst es ja nicht wissen. Warst ja noch nie in der Ferienkolonie. Bist halt zu gesund. Da bin ich froh, daß ich nicht so bin.«
Schier mitleidig schaut der Franz auf das blühende Kindergesicht, wie er jetzt alle genossenen Herrlichkeiten auskramt, wie einer, der immer noch einen Schatz, ein Wunder an Schönheit zurückbehält. Bis er endlich fertig ist. Dann liegt er mit heißen Backen fiebernd und doch so glückselig in den Kissen.
Die Mutter schickt die beiden Kinder in den Hof zu den Geschwistern des kranken Buben, dort sollen sie eine Weile mitspielen, indes der Franzl ausruht.
Auf dem engen Hof drängt sich eine ganze Schar spielender Kinder. Laut und lustig und ganz hingegeben sind sie.
Abseits von denen spielen drei ganz allein für sich. Sie legen ein seltsam Gärtlein in einem Winkel an. Mit Reisern wird es sorgsam umfriedet. Der Garten selber ein kleiner Sandhaufen. Dünne Grashalme, die zwischen den Steinen ein lichtarmes Dasein gefristet haben, verwelkte Blümlein, achtlos weggeworfen und zertreten, sind Bäume und Sträucher und Blumen zugleich.
Ein armselig Sandhäuflein ist's.
Aber nein! Ein wundervoller Garten, ein Paradies ist's, vor dem die Kinder stehen, und sie schauen mit großen Augen all die leuchtenden Farben der blühenden Bäume und Sträucher und atmen wirklich die süßen Blumendüfte.
Da treten Klein-Elsbeth und Lene zu den spielenden Kindern.
Das jüngste klatscht eben jubelnd in die Hände und ruft:
»Die Ferienkolonie ist fertig!«
Und ein anderes:
»Jetzt kommen die kranken Kinder. Die müssen nun einmarschieren, schön im Zug eins hinter dem andern. Dann dürfen sie herumspringen und spielen und lustig sein.«
Was für seltsame Patienten da einziehen in die eröffnete Kolonie!
Kleine Puppenkinder und Zinnsoldaten. Allen hatte das Leben schon hart mitgespielt, allzuheiße Liebe auch einigen den roten Jugendschimmer von den Wangen geküßt. Dem einen fehlte ein Arm, dem andern ein Bein, manchem beides. Wieder eins schaute aus einem Auge trostlos in die Welt.
Endlich war der Einzug fertig, der Garten voll von kleinen Kolonisten.
Klein-Elsbeth spielte mit, aber ihre Seele war oben bei dem kranken Buben.
Die Lene war ganz Feuer und Flamme und sorgte, daß die Patienten ausgiebig sich bewegten.
Und dann fiel einem Büblein ein, daß der Franz gar viel von der guten Milch erzählt hatte.
Eine Kuh also fehlte noch. Aber woher eine bekommen?
Doch Lene wußte Rat. Sie fliegt in ein paar Sätzen hinauf und reißt eine Schachtel mit Spielzeug unter Franzls Bett hervor.
»Was suchst denn in der Arche Noah? Spielt ihr was recht Schönes im Hof unten?«
Darauf die Lene:
»Ferienkolonie spielen wir. Du, das ist fein! Aber jetzt fehlt uns noch die Kuh! Gelt, die gehört doch dazu?«
Der Franzl nickt und lacht glückselig vor sich hin. Dann besinnt er sich.
»Die Kuh fehlt in der Arche, Lenerl! Die hat der Seppel schon lang zerschlagen.«
Doch Lene läßt sich nicht abschrecken. Sie sucht und wühlt in dem Holzgetier.
Endlich hat sie einen Elefanten gefunden. Zwar fehlen die Beine, aber dafür ist sein langer Rüssel völlig unversehrt. Er ist jedenfalls der stattlichste Überrest. Lene hebt ihn triumphierend hoch und meint:
»Den nehm' ich. Der muß halt die Kuh machen. Ist selber krank, da kann's ihn freuen, wenn er auch in die Ferienkolonie kommt.«
Und fort ist sie.
Bald lehnt der beinlose Elefant hilflos in dem kleinen Gartenzaun im Hofwinkel. Die Kinder aber staunen mit lauter Freude die stattliche Milchkuh an. Nun sind sie restlos glücklich. Sie können des Spieles gar nicht satt werden.
Klein-Elsbeth aber ist nicht mehr im Hof. Sie hat sich leise zu dem kranken Buben geschlichen und läßt sich lieber von dem erzählen, wie es in der wirklichen Ferienkolonie zugeht.
Und dann kommt der Doktor.
Er sieht das kleine Mädel am Fuß des Bettes gar nicht, so erschreckend groß leuchten ihm die Augen Franzls entgegen.
Der Bub drängt den Husten, der schon wieder kommen will, zurück.
»Gelt, Herr Doktor, ich bin gesund? Muß auch fast gar nimmer husten. Gelt? Morgen darf ich aufstehen? – Sonst nehmen's mich ja nimmer mit in die Ferienkolonie. Und der Lehrer hat mir's doch ganz fest versprochen.«
Eine weiche Männerhand streicht dem kranken Buben das feuchte Haar so lind aus dem glühenden Gesicht.
»Gib Dich zufrieden, Franzl! Die Ferienkolonie ist Dir sicher und die allerschönste noch dazu, verlaß Dich darauf! Du kommst gewiß hinein!«
Ein doppelter Jubelruf aus Kindermund, und der Doktor schaut erstaunt auf das kleine Mädel, dessen Augen so hell glänzen vor lauter Freude.
Klein-Elsbeth muß sich aber wundern, daß der Doktor sich zur Mutter wendet, die in der Ecke steht, und die so traurig und mitleidig anschaut. Und Franzls Mutter trocknet sich die nassen Augen, was ist denn da zu weinen? Warum freuen sie sich denn nicht mit dem Franzl?
Am Abend geht Klein-Elsbeth heim, still und schweigsam und hört gar nicht auf das Geplauder der Lene.
Wieder muß der Vater Rat schaffen.
Von dem Spiel der blassen Kinder im dunklen Hof erzählt sie, von dem kranken Buben in der engen Dachstube und von den Herrlichkeiten einer Ferienkolonie. Dann meint sie:
»Alle die Kinder, Vater, sollt man halt hineinschicken können, daß sie gesund werden und rote Backen kriegen. Sonst müssen sie sich auch ins Bett legen und können nimmer spielen und lustig sein.«
»Ja, Kindl, wär' schon gut, wenn man es könnte. Aber – aber, da fehlt viel!«
»Was fehlt denn, Vater?«
»Geld, Kind! Geld, Geld und wieder Geld.«
Klein-Elsbeth ist erstaunt.
»Ja, Vater, in der Welt gibt's doch einen großen, großen Haufen Geld, nicht?«
Der Vater lächelt.
»Magst Recht haben! Aber weißt, man braucht's halt auch zu vielen andern Dingen!«
»Soll man aber nicht! Gelt, Vater? Die Kinder sollen lustig im Garten springen und gesund sein und nicht im Bett liegen. Das müssen die großen Leute doch wissen.«
»Ja, Kind, wissen tun's die meisten, vielleicht fehlt's auch manchmal an der Liebe zu den Armen und Kranken.«
Klein-Elsbeth denkt nach und läuft ins Haus. Dann kommt sie zurück.
»Hier ist meine Sparbüchse, Vater. Die gibst dann den großen Leuten, daß sie eine Ferienkolonie bauen und der Franzl soll in meine gleich kommen.«
Der Vater stimmt den Plänen Elsbeths zu.
Nach drei Tagen hört sie, daß der Franzl tot ist. Friedlich und mit lachendem Gesicht ist er in die Ferienkolonie seiner Träume hinübergeschlummert.
Klein-Elsbeth aber umzäunt das schönste Stück in ihrem Blumengarten und pflegt und bepflanzt es mit der ganzen Inbrunst ihres Kinderherzens.
Es ist ihre Ferienkolonie und alles was krank und elend und schutzbedürftig ist, sei es Vogel oder Käfer oder Blume, wird dort hineingebettet und muß gesunden. Später aber, wenn sie größer ist, wird Klein-Elsbeth eine große, große Ferienkolonie bauen.
Und wenn sie daran denkt, kommt ein großes Freuen über sie. Klein-Elsbeth ist ein glückliches Kind.