Rudolf Herzog
Hanseaten
Rudolf Herzog

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XVII

Am Abend verließ Twersten das Kontor Brambergs. Der Reeder hatte ihm eine Bilanz vorgelegt, und er hatte sie mit den Büchern verglichen und eingehend die Abschreibungen auf das Schiffsmaterial geprüft. Die Versäumnisse der letzten Jahre konnten eingeholt werden. Nur die richtige Hand mußte ans Steuer.

Gegen eine Verschreibung Brambergs hatte er zunächst die Summe eingeschossen, die der Reeder zur Begleichung seiner dringenden Verpflichtungen benötigte. Die neue Eintragung ins Handelsregister sollte sofort bewerkstelligt werden und gleichzeitig mit ihr die größere Kapitalseinlage erfolgen. Auch hatte sich Twersten zum Bau eines neuen großen Dampfers bereit erklärt, der mit Nachdruck in die Konkurrenz eingreifen könne.

Bramberg war es nicht um einen Abend daheim zu tun. »Ich fühle sehr deutlich das Bedürfnis, mir nun endlich diese widerwärtigen Geschäftsplackereien aus dem Kopfe zu jagen,« hatte er beim Abschied geäußert. »Gehen Sie nur allein und trinken Sie Ihren Tee in Gesundheit.«

Und Twersten war gegangen. Erst langsam und in seinem Sinne alles noch einmal nachprüfend. Dann schneller, als er sich sagte, wohin der Weg führe. Und als ihm ein Wagen entgegen kam, rief er ihn an und fuhr nach Uhlenhorst. Frau Ingeborg hatte ihn erwartet. Als sie ihn allein eintreten sah, stand sie auf und ging ihm schnell entgegen.

»Der Abend gehört uns!« sagte er zur Begrüßung.

»Ich hatte es erhofft, Karl.«

In ihrem Zimmer war der Abendtisch gedeckt. Sie vergaß es längst nicht mehr, ihn mit Hausfrauensorge zu umgeben. Sie wußte, der Mann, der zu ihr kam, hatte ein schweres Tagewerk hinter sich, und der heimliche Sturm und Drang, mit dem sie ihn früher erwartet hatte, war einer geklärten frauenhaften Ruhe gewichen.

Als der Diener abgeräumt hatte, saßen sie auf ihren Lieblingsplätzen und ihre Hände ruhten ineinander.

»Das war gestern eine heftige Überraschung für mich, Karl.«

»Du – ahntest nicht, daß er mit seinem Vermögen zu Ende war?«

»Nichts ahnte ich. Daß er große Summen verschwendete, das fühlte ich ja an seinem ganzen Auftreten und aus seinen Bemerkungen heraus, die er gelegentlich über seine Reisebekanntschaften machte. Daß man aber ein Millionenvermögen in fünf, sechs Jahren verschwenden könne, das hätte ich nie für möglich gehalten.«

»Jedes Kapital, das nicht arbeitet, ist ein Fluch für seinen Besitzer. Sieh dir die alten, abgewirtschafteten Familien an, die glaubten, ein Erbe bestände nur aus Namen und Geld. Erst geht's lustig von den Zinsen, dann kommt ein Unvorhergesehenes, und man greift für einmal das Kapital an, dann reichen natürlich die Zinsen nicht mehr, und wieder muß das Kapital den Ausgleich besorgen, und mit dem Rest will man in wilder Überstürzung das Verlorene wieder gewinnen und setzt es auf eine Spekulation, die hohe Erträgnisse verspricht, und der Rest ist auch hin. Man verdient eben kein Geld im Schlaf, und Geschäfte, die überraschende Gewinne versprechen, sind entweder gut, und dann werden sie nicht wie saure Milch ausgeboten, oder sie sind ein Bauernfang.«

Sie nickte vor sich hin.

»Ich verstehe dich. Geld ist eine Macht, die sich nur dem Mächtigeren unterwirft. Schwächlinge tritt sie zu Boden.«

»Ja, Ingeborg. Und ein Erbe besteht nicht nur aus Namen und Geld. Das Einsetzen der eigenen Kraft gehört dazu. Und nur von diesem Gesichtspunkt aus kann auch das Erbe des alten Bramberg verwaltet werden.«

»Ist ihm damit gedient, daß ich als Teilhaberin eingetragen werde?« fragte sie.

»Das ist zunächst eine Barriere für weitere unstatthafte Attacken. Die nächsten sechs Monate müssen einer gründlichen Beruhigung und Befestigung des Geschäftsganges gewidmet sein. Inzwischen werden wir nach einem Kopf mit frischen, eigenen Intentionen Ausschau halten, der die Geschäftsführung übernimmt und das Signal ›Vorwärts‹ zu geben versteht. Unser kaufmännischer Nachwuchs, soweit er nicht von Kavalierideen angekränkelt ist oder von schlappem, ästhetischem Lebensgestaltungswahn, ist nicht schlecht.«

»Ich danke dir, Karl,« sagte Frau Ingeborg plötzlich.

»Du dankst mir –? Wofür?«

»Nein, Karl. Sprechen wir nicht davon. Wie sehr

wir beide zusammengewachsen sind, das habe ich gestern abend verspürt. Das war mir alles wie eine Selbstverständlichkeit, daß du mich rufen ließest, und ich nahm ohne weiteres an.«

Sie erhob sich, trat zu ihm und küßte ihn auf die Augen.

»Nun bin ich auch deine Verwalterin.«

»Nein, ich bin der deine. Denn das ist dasselbe.«

»In deinem Gesicht ist ein neuer Zug. Du hast etwas erlebt und die Mitteilung davon nur der Geschäfte wegen zurückgedrängt.«

»Wie gut du zu lesen verstehst,« erwiderte er und drückte ihr dankbar die Hand.

»Ist es etwas Erfreuliches?«

»Ich hoffe es.«

Und er berichtete ihr, während seine Stimme wärmer und wärmer wurde, von seinem Zusammentreffen mit Fritz Vanheil. »Ich mußte mich seiner annehmen. Es war mir wie ein Vermächtnis. Nicht der Frau wegen, die mit ihm gespielt hatte, sondern der Zeit wegen, in der das alles geschah und an der ich Anteil hatte. Du wirst mich verstehen, ohne daß ich es dir erkläre. Außerdem – und da lugt schon wieder der Geschäftsmann hervor – scheint er mir ein ganzer und brauchbarer Kerl zu sein, und ich tue eigentlich nicht mehr für ihn, als daß ich ihn mit der Einstellung als Ingenieur der Werft in sein richtiges Wirkungsfeld versetze.«

»Das allein stimmt dich nicht so fröhlich, Karl.«

»Nein, das allein nicht. Robert ist gekommen. Der junge Vanheil teilte es mir mit.«

Beide Hände legte sie um seinen Kopf. Ein Zittern der Freude lief durch ihren Körper, als wäre sie die Mutter des Heimgekehrten, und doch war es nichts als die Freude über das stille Glück des geliebten Mannes.

»Ingeborg –«

»Ja, Karl. Ich bin bei dir. Nun fehlt mir nichts mehr, denn du hast ganz glänzende Augen.«

»Er ist noch nicht zu mir gekommen, Ingeborg. Und ich meine, ich sollte das als ein gutes Zeichen nehmen.«

»Ihr starren Hamburger Kaufmannsschädel,« sagte sie lächelnd und strich über seine Stirn. »Das Vorbringen eines Befähigungsnachweises ist euch lieber als eine Gefühlsäußerung. Schämen solltet ihr euch.«

»Durchaus nicht,« wehrte er heiter ab. »Gefühle müssen nicht hergeredet, sondern bewiesen werden. Das wissen wir eben aus unseren Geschäften: Hier Ware – hier Geld. Hier Gefühle – hier der Beweis. Das ist guter, alter Hamburger Brauch. Mach du ihn mir nicht schlecht. Es wachsen Wetterfeste daraus hervor, und Hamburg ist eine Seestadt!«

»Ach – ach – ach!« – rief sie lachend und faßte seinen Bart. »Wenn dein Junge jetzt hier wäre und gäbe dir einen Kuß, wie ich es jetzt tue, ich möchte den Chef der Firma K. R. Twersten sehen, der nach Beweisen fragte. Gestehe sofort, du verknöchertes Herz!«

Diesen Übermut hatte er noch nie an ihr gewahrt. Mit starkem Arm zog er sie an sich.

»Ist das alles – des Jungens wegen? Du?«

»Natürlich ist es des Jungens wegen, du kalte heiße Seele! Er ist doch ein Stück von dir, und ich bin doch nun mal auf der Welt, um alles, was du bist, lieb zu haben und zu umfangen. Was ich im Arm halte, gehört mir! Sonst nichts.« Er stieß ein Wort hervor, das nur ein Ton wurde.

Aber er preßte sie so dicht an sich, daß ihnen das Atmen schwer wurde. Und nun sah er, daß ihre Augen feucht schimmerten, die sie groß zu ihm aufgeschlagen hatte. –

Als er sein Haus betrat, ging er in Roberts Zimmer. Das Zimmer war leer wie immer. Deshalb trug er seine Liebe hinein, um es zu füllen. ...

Und zur selben Stunde, in der Karl Twersten bei Ingeborg Bramberg weilte, klingelte es an der Korridortür der Vanheilschen Wohnung, und der Besucher gab dem Dienstmädchen den Auftrag, den Herrschaften mitzuteilen: »Der Onkel aus Amerika wäre da!«

Ein Jubelgeschrei war die Antwort und ein wildes Durcheinander, daß die Wände hallten.

»Gott sei Dank,« sagte sich Fritz Vanheil, »sie sind noch die Alten.«

Und schon war er ins Zimmer gezogen, umringt, gedrückt, geküßt – er mußte wohl ein paarmal durch sämtliche Arme gewandert sein. –

Die Mutter weinte herzzerbrechend vor Freude, die Schwestern lachten klingende Tonleitern, und die Herren Neffen vollführten unter gewaltigem Spektakel einen indianischen Kriegstanz um ihn her, weil sie das für amerikanisch hielten.

»Täuw! Täuw!« schrie Fritz Vanheil vergnügt. »Nun lot dat man good sin! Nu wär' ick ja wull to Hus.«

»Fritz, Fritz –« stammelte Frau Henriette und zog ihn von neuem an sich. »Meine liebe Mutter –,« flüsterte er seltsam weich.

»Daß das der Vater nicht mehr erlebt hat, Fritz! So schmuck siehst du aus und so unternehmend. Der hätte sich gefreut, Fritz!«

»Ja, Mutter« – und er wehrte sich gegen die Weichheit, die über ihn zu kommen drohte – »das müssen wir nun für ihn mitbesorgen. Herrgott, seht ihr alle famos aus. Du wirst ja überhaupt nicht älter. Und die Erika hat wahrhaftig ihre Mädchenfarbe wieder. Und die Marga – sapperlot, du bist jetzt wohl Mutter vons Ganze? Was für ein fixer Kerl bist du geworden! Und die Bengels sind auch nicht aus der Vanheilschen Art geschlagen; krähen wie die Bürstenbinder!«

»Weshalb hast du nicht mehr geschrieben, Herumtreiber?«

»Kinder, die Arbeit, die Arbeit!«

»War's so arg drüben, Junge?« fragte Frau Henriette ängstlich.

»Wenn's arg ist, ist es doch gerade fidel, Mutter!«

»Einen funkelnagelneuen Anzug hat er an!« rief Erika lachend.

»Hab' ich auch!«

»Bist du Millionär geworden, drüben?«

»Nee – das ist das einzige noch, was ich mir für hier aufgespart habe. Der Mensch muß doch noch Fortschritte zu verzeichnen haben.«

»Was bist du denn geworden? Spanne uns doch nicht so lange auf die Folter!«

»Also ich bin – nee, setzt euch mal erst – also ich bin – pst! – ich bin nämlich Ingenieur in Firma K. R. Twersten – –!« »Was?« schrie Marga auf. »Bei Karl Twersten? Schwindelst du nicht?«

»Wahrhaftig,« sagte Fritz Vanheil, »da sieht man wieder, daß Frauenzimmer eine innere Bedeutung nie auf den ersten Blick zu ersehen wissen. Blickt so ein Idiot in die Welt oder ein Schiffbauingenieur? Karl Twersten sagte sofort: So kann nur ein Schiffbauingenieur von K. R. Twerstens Werft aussehen. Und er überreichte mir gleich bei der Landung in Kuxhaven atemlos diesen Kontrakt.«

Er schwenkte das Papier in der Luft, das Twersten ihm am Nachmittag noch hinausgeschickt hatte. »Sehet und schmecket wie lieblich der Herr ist. So kehrt Fritz Vanheil zurück von seiner amerikanischen Studienreise.«

»Nun nimm doch 'mal endlich die Hand aus der Tasche!«

»Welche? Die da? Kann ich nicht!«

»Mach doch keine dummen Witze.«

»Ich mache keine dummen Witze. Sie tut's nun einmal nicht. Nicht für Brasilien!«

»Du bist doch wirklich der richtige Hinterwäldler geworden,« sagte Marga und faßte ihn beim Arm.

Stumm sah sie ihn an. Ihr Gesicht war plötzlich schneeweiß geworden.

»Mädchen, Mädchen!« Fritz Vanheil legte den rechten Arm um ihre Taille. »I nun, was ist dabei? Futsch ist sie. Futschikato perdutto! Es ist nur die Linke, und sie war zum Teil wirklich überflüssig. Wenn's der Kopf gewesen wäre, hätte ich auch geheult. Übrigens ist das schon eine so uralte Geschichte, daß man sie als geschmackvoller Mensch gar nicht mehr erwähnen sollte.« Frau Henriette zitterte am ganzen Körper. Die Mädchen hatten Mühe, sie zu beruhigen.

»Wie – ist denn das nur – gekommen, Fritz? Großer Gott!«

»Auf dem Felde der Ehre, Mutter,« sagte Fritz Vanheil mit einer Schelmenpathetik. »In diese Kategorie fallen nämlich die meisten dummen Streiche.«

»Nein, du sollst ernst sein und es mir ganz ernst erklären.«

»Also hört zu. Da lag in der Bucht von Santiago ein spanisches Kriegsschiff, die ›Viscaya‹. Ich wollte absolut die Maschinen kennen lernen und schmuggelte mich zu diesem Zweck in den Maschinenraum. Eben will ich meine Studien beginnen, da fährt das Schiff los und fängt mit einigen anderen die Seeschlacht von Santiago an. Na, und dann, pardauz, wie das bei solchen Gelegenheiten geht, wird geschossen, und so richtig im blinden Dusel schießt mir ein Amerikaner durch die Maschine hindurch die Hand weg. In Hannover hätte das als unkommentmäßig gegolten. Man nannte das dort ›einen Sauhieb‹. Und das von Rechts wegen. Dieses ist die berühmte Geschichte von der verlorenen Hand an der Kirchhofsmauer, und nun bitte ich euch allen Ernstes: wird denn hier überhaupt nicht mehr zu Abend gegessen?«

»Fritz, Fritz – –,« flehte Frau Henriette, als wollte sie seinem Übermut wehren.

Aber es gelang ihm doch, die Seinen über den ersten Anprall des Schreckens hinwegzubringen. Und er zeigte ihnen bei Tisch, wie wenig ihn der Verlust der Hand geniere, wobei er nie unterließ, Bemerkungen über das Anpassungsvermögen der Lebewesen einzuflechten.

»Reißt ihr zum Beispiel einer Eidechse den Schwanz aus –«

»Nein, Fritz, das tun wir nicht. So ein armes Tier.«

»Nun, nun! Nehmen wir also einen ganz gemeinen Regenwurm. Ihr schneidet ihn genau in zwei Teile –«

»Pfui, Fritz. Beim Abendessen!«

»Da habt ihr recht. Ihr braucht es nicht gerade beim Abendessen zu tun. Das wäre mir auch eklig.«

»Hör auf! Hör auf!« Sie warfen Messer und Gabel hin und lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Die Jungens aber stürmten in heller Begeisterung des Onkels Knie. Das war doch noch ein Onkel!

»Bist du denn auch ins Meer gefallen, als du die Seeschlacht mitmachtest?«

»Jungens, mit einem Plumps, daß die ganze Schlacht stockte.«

»Hat dich denn da kein Haifisch zu fassen gekriegt?«

»Und nicht zu knapp. Wutsch, hatte mich so ein gefräßiges Biest quer im Maul. Das war kein Spaß, kann ich euch sagen.«

»Ja – aber – wie bist du denn da wieder herausgekommen?«

»Geistesgegenwart, Kinder, nichts als Geistesgegenwart. Merkt euch das für euer ganzes Leben. Im kritischen Moment blitzt mir durch den Kopf: du hast ja noch einen Trumm Schnupftabak in der Westentasche. Ich ihn herausgeholt und dem Ungeheuer mit aller Kraft in die schnaubenden Naslöcher gerieben. Erst wehrte es sich gegen das Niesen und kriegte beinahe den Kinnbackenkrampf. Dann aber ging's euch mit Macht! ›Huiah – Huidschi! Huiah – Huidschi!‹ Mit einem Luftdruck, daß ich wie aus der Pistole geschossen eine gute halbe Seemeile durchs Wasser flog. Hinter mir her flog noch ein kleiner Negerknabe, den das Untier wenige Stunden vorher an der Küste von Haiti einfach übergeschluckt hatte, und der sich noch im Wasser bei mir bedankte.«

»Donnerwetter,« sagte der ältere Neffe, und der jüngere betastete heimlich erschauernd seinen Körper.

»Nicht wahr? Es ist etwas Schönes um die menschliche Dankbarkeit, und das müßt ihr euch auch merken.«

Die Frauen waren aufgesprungen. Sie wußten vor Lachen nicht mehr ein noch aus und wollten es den Kindern nicht zeigen. »Zu Bett, zu Bett!« riefen sie und brachten die überrumpelten Jungens geschwind hinaus. Die aber beschlossen noch in der Nacht, nie wieder ohne Schnupftabak an die Elbe zu gehen. Morgen übrigens wollten sie die Sache an einem Schellfisch probieren, der gerade in der Küche im Fischkasten schwamm. – – –

»Spielt mir ein wenig vor,« bat Fritz, als sie nachher im Wohnzimmer saßen. »Das gehört zu einem Vanheilschen Familienabend, und ich weiß, daß ich – wieder daheim bin. Was ist das für ein Wort – daheim!«

Er drückte sich tief in den Lehnstuhl und sprach keine Silbe mehr. Die Mutter setzte sich ans Klavier, und die Schwestern sangen zweistimmig die alten Volkslieder und Reigen, die sie der Vater gelehrt hatte, als sie noch Kinder waren. Wohl eine Stunde lang. Und plötzlich sah Fritz Vanheil den Vater durchs Zimmer kommen, den Vater mit dem strahlenden Gesicht und den seinen schlanken Händen. Und nun saß der Vater statt der Mutter am Klavier, suchte mit kurzsichtigem Blick die Noten, griff in die Tasten und rief mit seiner goldenheiteren Stimme: »Antreten zur Quadrille, meine Herrschaften! Kompliment, meine Herren! Knix, meine Damen! Vorwärts – marsch!« Und die Töne hüpften unter seinen Händen und verschlangen sich zu Figuren, und alles, was im Raum war, wurde zum Abbild von Martin Vanheils strahlenden Augen.

Mit voller Gewalt stürmte die Erinnerung an den Vater auf Fritz Vanheil ein. Daß er ihn im Jugendübermut hatte lassen können! Daß er ihn nicht mehr wieder finden durfte! Alle diese Liebe, alle – diese – hingebende Vaterliebe – war nicht mehr.

Und mit zusammengepreßten Lippen erhob er sich mitten im Liede, trat ans Klavier, drückte Mutter und Schwestern heftig die Hand und ging auf sein Zimmer. Und der Vater saß neben ihm am Bett und sagte: »Junge, daß du wieder da bist! Das ist jetzt die Hauptsache.« Und darüber schlief er ein und schlief bis in den hellen Morgen. –

Der alte Rochus war zur Börse gegangen. Marga Vanheil saß im Privatkontor allein und erledigte die schwedische Korrespondenz. Es klopfte, und ein jüngerer Kommis steckte den Kopf durch den Türspalt und fragte, ob Fräulein Vanheil zu sprechen wäre.

»Wer ist es? Das müssen Sie doch wissen, Herr Klausen. Nun, lassen Sie eintreten.«

Sie war zu froh gestimmt, als daß sie heute einen Menschen hätte abweisen können. Dieser Fritz hatte mit seiner unversiegbaren Laune am Morgen schon das ganze Haus angesteckt.

Im ersten Augenblick glaubte sie, Karl Twersten wäre es, der eingetreten sei. Karl Twersten, der sich den Vollbart habe abscheren lassen. Und ihr nächster Herzschlag sagte ihr, daß es Robert sei. »Bob .... Bob!«

»Bleib sitzen, Marga. Wie geht es dir? Gut? Und im Geschäft auch alles gut? Das freut mich herzlich.«

Er schüttelte ihr kräftig die Hand, und sie saß noch immer wie gelähmt. Dieses Wiedersehen hatte sie sich anders ausgemalt.

»Bist du von Sinnen, Bob –?«

»Verzeihe! Habe ich dir wehe getan? Man gewöhnt sich dieses wilde Händeschütteln drüben so an, daß man selbst Damen gegenüber vergißt –«

»Herrgott, nun redest du auch noch Unsinn!«

»Ich verstehe dich nicht ganz, Marga.«

»Ja, was willst du denn hier?« rief sie zornig werdend. »Oder muß ich Sie zu dir sagen?«

Robert Twersten blieb ganz ruhig.

»Ich wollte dich nur fragen, ob du nicht einen besseren Kommis brauchen kannst? Sagen wir: einen Prokuristen oder dergleichen.«

»Das würde sich wohl sehr nach deinen Zeugnissen richten.« Und sie suchte ihren grimmigsten Humor hervor.

»Zeugnisse stellt man sich drüben nur selber aus. Wenn ich meines nicht für angemessen der Firma Martin Vanheil hielte, würde ich mich nicht bewerben.«

»So! Das klingt ja gar nicht unbescheiden. Und welches Salär glaubst du daraufhin beanspruchen zu dürfen?«

»Im ersten Jahr ein Drittel, in den folgenden Jahren die Hälfte vom Reingewinn.«

»Unverschämter Kerl,« sagte sie und wußte nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte. »Da würde ich doch lieber gleich das Ganze beanspruchen.« Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Ich sehe, du wunderst dich über mich. Weshalb, Marga? Du weißt ja gar nicht, mit wem du es zu tun hast. Fünf Jahre Amerika ändern mancherlei, und du wirst mich – wenn du überhaupt Lust dazu hast – doch mal erst wieder kennen lernen müssen. Vielleicht bin ich so sehr ein anderer geworden, daß du nach näherer Besichtigung Gott dankst, mir nicht gleich mit ausgebreiteten Armen entgegengestürtzt zu sein.«

Sie antwortete nichts. Sie mußte ihn nur immer ansehen. War das Bob, der zärtliche, sich anschmiegende Junge? Und sie versuchte, in dem schmalen gebräunten Gesicht, das so fest sein Muskelspiel beherrschte, und in den kühlen, willensstarken Augen den schwärmenden Knaben von einst zu entdecken.

Ein anderer saß vor ihr. Und dieser andere hatte recht. Sie mußte ihn erst kennen lernen.

Plötzlich war ihr, als schnürte sich ihr die Kehle zu. Als wollte ihr etwas Wildwehes die Brust sprengen. Aber sie lächelte ihn nur an und nickte ihm zu.

Und Robert Twersten sagte: »Es freut mich, Marga, daß du so denkst wie ich. Das erleichtert unsere alten und unsere neuen Beziehungen.«

»Mußt du – auch mich neu kennen lernen?«

Da verloren seine Augen den kühlen Blick für Sekunden.

»Nein, Marga. Und gerade deshalb muß ich dein gutes Herz vor Übereilungen bewahren. Du wärst imstande und nähmst mich ruhig wieder an die Schürze.«

»Mein gutes Herz – mein gutes Herz –« murmelte sie. »Ich weiß, was ich tue.« »Aber ob ich weiß, was ich tue! Siehst du, darauf kommt es für uns beide an. Und nun wollen wir von anderen Dingen reden.«

»Vom Geschäft. Natürlich. Denn du bist Karl Twerstens Sohn.«

»Wenn ich es geworden bin,« sagte er, und es klang wie liebenswürdiger Spott aus seinen Worten, »so geschah es vielleicht, weil du mich so oft und nachdrücklich darauf aufmerksam machtest. Ich kann nicht annehmen, daß du deine Ansichten darin geändert hast. Und so wollen wir uns denn ruhig und friedlich auf diese Basis begeben. Ich möchte gern in demselben Geschäfte, im selben Raume mit dir arbeiten. Erfülle bitte meinen Wunsch, und ich glaube dir versprechen zu können, daß du vom kaufmännischen Standpunkt aus deinen Entschluß nicht zu bereuen haben wirst.«

»Ich werde mit Rochus darüber sprechen,« stammelte sie verwirrt.

»Was ich in Amerika lernte, lernte ich immer nur unter diesem Gesichtswinkel,« fuhr er fort. »Und als ich fühlte, daß ich auf eigenen Füßen stand, habe ich keinen Augenblick gezögert, mir alle die Verbindungen zugängig zu machen, die ich von Hamburg aus gründlich realisieren könnte. Ich klopfe also nicht mit leeren Händen an, wenn du das Herrn Rochus sagen möchtest.«

»Ich werde es ihm gerne sagen.«

»Schön. Würde es dir passen, wenn ich morgen vormittag wieder vorspräche?«

»Es paßt mir.«

Robert Twersten erhob sich und nahm seinen Hut.

»Ich würde selbstverständlich darum bitten, jetzt deine werte Familie begrüßen zu dürfen. Aber ich habe meinen Vater noch nicht gesehen, und mein erster Besuch muß doch wohl ihm gelten.«

»Demnach wünschest du, diesen Besuch bei mir nur als rein geschäftlichen betrachtet zu wissen?«

»Es wäre mir lieb, Marga.«

Nun erhob sie sich auch. »Also auf morgen,« sagte sie und streckte ihm die Hand hin.

Er hielt sie in der seinen und ließ zum ersten Male den Blick voll auf ihrem Gesicht ruhen. Und dieser Blick verwirrte sie aufs neue.

»Bitte,« sagte sie kurz, »man hält sich unter Geschäftsfreunden nicht so lange bei der Hand.«

Da lachte er, wie der alte Bob gelacht haben würde, drückte die Hand noch einmal und ging. Und sie blieb zurück, blickte sprachlos nach der Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte, verzog krampfhaft das Gesicht – und schlug mit der flachen Hand wütend auf das Briefpapier.

»So ein Bengel! Wollte mir den Herrn zeigen. Beim Kopf hätte ich ihn nehmen sollen, beim Kopf! Ohne weiteres!« – –

Robert Twersten fuhr hinaus auf die Werft. Gerade ging der alte Schürmeister Matthes über den Hof und blieb verwundert stehen. »Dat's en Naturspill,« brummte er kopfschüttelnd, als der junge Twersten im Bureaugebäude verschwand.

Karl Twersten war schon von der Börse zurück. Er hörte den Diener anklopfen und rief: »Herein!« Statt des Dieners war Robert Twersten eingetreten.

Steil erhob sich der alte Twersten von seinem Platz. Und stand und wartete. »Guten Tag, Vater. Gestattest du mir, daß ich dich begrüße.«

»Guten Tag, Robert.« Die Männer reichten sich die Hand.

»Ich bin gestern schon angekommen. Aber ich wollte mich erst wieder an Hamburg gewöhnen.«

»Auf lange –?«

»Auf immer.«

»Setz dich, bitte.« Und Twersten wies dem Sohne einen Stuhl an. Schweigend saßen sie und blickten sich in die Augen. Und das, was Twersten mit scharfem Blick aus den Augen des Sohnes herauslas, mißfiel ihm nicht. Der Atem, der ihm beim Eintritt Roberts gestockt hatte, kehrte beruhigt zurück.

»Hast du dir schon Pläne für die nächste Zeit gemacht?« fragte er freundlich.

»Ich gedenke in die Firma Martin Vanheil einzutreten. Zuerst auf Probe. Die Leute sollen selber prüfen, was ich für sie wert bin.«

»Es ist kein großes Geschäft.«

»Man kann es dazu machen, wenn man den nötigen Unternehmungsgeist besitzt.«

»Freilich. Damit kann man alles.«

»Es geht dir gut, Vater?«

»Ich danke dir, Robert. Ich hoffe auf einen schönen Lebensabend.«

»Der Lebensabend steht wohl noch in weiter Ferne. Ich habe dich nie so frisch gesehen, und das macht mich sehr glücklich.«

»Bei mir kommt wohl alles etwas spät,« sagte Twersten. Aber es war ein stiller, froher Klang in der Stimme, der dem Sohne nicht entging. »So wirst du gerade dann sehr reich sein, Vater, wenn andere das Leben längst abdanken mußten.«

»Du hast es erraten,« antwortete Twersten, und seine Stimme hatte den Klang beibehalten.

Wieder schwiegen sie. Denn sie fühlten, daß in ihrem Gespräch eine Lücke bleiben müßte, über die es keine Brücke mehr gab. Und Twersten sagte sich: Ich bin der Ältere und bin der Vater. Ich muß den neuen Weg schaffen.

»Robert,« begann er, »du bist wiedergekommen und bist zu mir gekommen. Ich will dir gestehen, daß es mir eine Freude ist, dich zu sehen. Du wirst, wenn du einmal selber Söhne hast – doch das läßt sich nicht in Worten sagen. Hier ist mein Vorschlag. Wir wollen über Vergangenes nicht reden und nur noch vom heutigen Tage an rechnen. Führte dich derselbe Wille hierher, so reich mir deine Hand.«

Ohne zu antworten, ergriff der Sohn die Hand des Vaters und drückte sie fest.

»Ich heiße dich herzlich willkommen, Robert. Deine Zimmer findest du wieder, wie du sie verlassen hast.«

»Ich möchte dich nicht in der ersten Stunde betrüben, Vater. Sonst wäre es mir lieber gewesen, du hättest mir gestattet, eine eigene Wohnung zu nehmen. Ich möchte dir gerne mehr werden, als nur der heimgekehrte Sohn. Und dazu wird sich nur Gelegenheit finden, wenn ich ganz auf eigenen Füßen bleibe. Ich weiß, trotz dieser Empfangsstunde, daß ich in Wahrheit erst dann wieder ganz der Deine sein werde, wenn du an meine Energie und mein Zielbewußtsein glauben gelernt hast.«

»Es ist wahr,« sagte Twersten. »Nimm mir den letzten Zweifel an deinem Hamburger Blut. Zeige mir, daß ich mich deiner nicht zu schämen habe, auch wenn du nicht wieder in die Werft eintrittst.«

»Hast du Zeit, mit mir einen Rundgang zu machen?«

Twersten willfahrte sofort. Und während sie über die Arbeitsplätze der Werft schritten und Twersten die durchgreifenden Neuerungen im Betriebe erklärte, beobachtete er heimlich die Haltung des Sohnes, und es gefiel ihm die ernste Männlichkeit und die kühlen, fachgemäßen Fragen.

»Von morgen an,« erwähnte er, »arbeitet dort drüben unter Feldermann dein alter Freund Fritz Vanheil. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich einen guten Griff an ihm getan, und es wird sich nach seinen Leistungen richten, ob ich ihm bald ein Ressort anvertrauen kann.«

»Fritz Vanheil ist in Hamburg? Und als Ingenieur deiner Werft? Das macht mich sehr froh.«

»Mir scheint, wir haben da eine Ehrenschuld zu begleichen.« Twersten brach ab. »Sonderbar, ein Twersten geht zu Vanheil, und ein Vanheil kommt zu Twersten.«

Er ging nicht mehr aufs Kontor zurück. Es kam ihm gar nicht einmal der Gedanke. Dieser Tag gehörte dem Sohne. Und sie blieben bis in die späte Nacht beisammen.

»Sehen Sie, Fräulein Vanheil,« sagte der alte Rochus am Tage darauf im Privatkontor der Firma, und er errötete wie ein Mädchen, »dies ist einer der köstlichsten Augenblicke meines Lebens. Es nützt nichts, daß man vierzig Jahre und mehr ein ganzes Bündel kaufmännischer Kenntnisse gesammelt hat, zum Chef muß man geboren sein. Ich, Fräulein Vanheil, bin zum Buchhalter geboren, und wenn es hoch kommt, zum Prokuristen. Wenn ich meine Marschroute erhalte, führe ich sie nach Vorschrift aus, und es bleibt auch kein Tüpfelchen, das ich überschlage. Aber selber die Marschroute angeben und die Distanzen abmessen und das ungeheure Verantwortlichkeitsgefühl mit sich herumtragen, ob das nun auch strategisch alles seine Richtigkeit hat, das drückt auf meinen alten Kopf wie ein Gewicht.«

»Davon habe ich aber auch nicht das geringste verspürt, Herr Rochus. Sie haben Ihre Sache nie anders als ganz vortrefflich gemacht.«

»Aus Angst, Fräulein Vanheil, aus Angst! Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen, ohne Sie zu beunruhigen. Ich bin auf der Börse immer wie das böse Gewissen herumgegangen, und ich mußte mir immer einen jähen Ruck geben, wenn mich einer auf die Firma Vanheil anredete und mich als Chef ansprach. Das hätte auf die Dauer nicht mehr gut getan, Fräulein Vanheil, mein Kopf wurde zuweilen etwas wirr. Und ich begrüße es wirklich als ein Gnadengeschenk für meine alten Tage, daß ich das alles nun an eine jüngere Kraft abgeben darf. Nein, nein, nein,« und er schüttelte, aufs neue errötend, den weißen Kopf, »zum Chef muß man geboren sein.«

»Haben Sie – wirklich – so sehr unter der Last gelitten, die ich Ihnen aufgebürdet habe?«

Der Alte wehrte mit den Händen. »Ich habe Sie doch lieb gehabt, Fräulein Marga, und mich an Ihrer Tapferkeit von Herzen erbaut. Da spürte ich es nicht als Last. Nur als Unvermögen. Passen Sie auf, wie wohl dem Geschäft die jüngere Hand tun wird.« »Es ist noch gar nicht bestimmt,« meinte Marga Vanheil, »wie weit ich ihm freie Hand lassen werde. Da entscheiden lediglich seine Leistungen.«

Der Alte blickte lächelnd zur Seite und rieb sich die Hände.

»Nun werde ich meinen alten Kontorplatz wieder einnehmen. Das soll ein Wiedersehen mit dem alten Schreibpult werden!«

»Wo denken Sie hin, Herr Rochus? Sie sind der Mitinhaber der Firma, und Sie bleiben im Privatkontor.«

»Aber das ist ja alles nur Formsache, Fräulein Vanheil. Das wissen wir beide doch am besten. Mitinhaber! Geschäftsführer, meinethalben, das will ich gelten lassen, und das ist schon etwas sehr anmaßend. Ich ziehe also heute noch um.«

»Nein,« entschied Marga fest, »das tun Sie nicht. Es kann noch ein Schreibtisch hier hereingesetzt werden. Erstens wünsche ich nicht, daß das Personal annehmen könnte, Sie wären um eine Bank heruntergekommen. Und zweitens wünsche ich nicht, tagaus, tagein mit einem jungen Herrn allein eingesperrt zu sein. Haben Sie denn dafür kein Verständnis, Sie alter Junggeselle?«

»Fräulein Marga,« erwiderte der alte Rochus schmunzelnd und machte sich mit der Brille zu schaffen, »es ist ja der Robert Twersten.«

»Halten Sie den vielleicht für ein Frauenzimmer?«

Und Robert Twersten kam und trat nach mehrstündigen Verhandlungen als Prokurist in die Firma ein. Sie setzten einen förmlichen Vertrag darüber auf, und als die Unterschriften ausgetauscht waren, blieb Robert Twersten gleich auf dem Kontor und versenkte sich bis zum Abend in das Studium der Geschäftsbücher und der Korrespondenzen, als hätte nichts anderes mehr Interesse für ihn auf der Welt.

Als das Personal sich entfernte, trat Marga auf ihn zu. »Wir können hier nicht allein bleiben.«

»Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen, Marga. Es sei denn, daß du früher Feierabend machst als ich.«

»Komm mit hinauf. Die Meinen wissen, daß du hier bist. Begrüße sie, bitte, jetzt.«

Sofort erhob er sich, verschloß die Bücher und wusch sich unter dem Wasserhahn ungeniert die Hände. »Du entschuldigst wohl. Aber wir sind ja hier unter uns Kaufleuten.«

»Tu ganz, als ob du in Amerika wärst.«

Dann gingen sie hinauf, und Robert Twersten küßte Frau Henriette und Erika die Hände. Das Gespräch wurde lebhaft, aber nicht warm. Und es wurde von allen als Erlösung empfunden, als eine halbe Stunde später Fritz Vanheil erschien.

»Ingenieur Vanheil, von der Werft K. R. Twersten zurück!« meldete er unter der Tür. »Menschenskinder, da ist ja der Bob! Her zu mir, alter Junge! Wahrhaftig: durch und durch Jankee.«

»Dann werde ich mich beeilen, wieder durch und durch Hamburger zu werden.«

»Bob,« sagte Fritz Vanheil und legte ihm die Hand auf die Schulter, »du kannst nichts Gescheiteres tun.«

Und nun packte er alte Erinnerungen aus und warf sie kunterbunt durcheinander, und immer zeigte sein unbekümmertes Lachen den Weg und machte die Herzen warm. Und als Robert Twersten schied, hatte auch er ein Lachen in den Augen. –

Es waren keine leichten Zeiten, die für Marga Vanheil folgten. Der Mann, der ihr täglich am Schreibtisch gegenübersaß, ließ sich in geschäftlichen Anschauungen nicht beirren und disponierte so selbstsicher und nur mit der leicht hingeworfenen Frage: »Nicht wahr, es ist dir doch recht?«, daß nach Monatsfrist schon alle Fäden in seine Hand geglitten waren. Oft, wenn er ein großes Geschäft einging, das über den Rahmen der Firma hinausreichte, und es behandelte wie ein alltägliches Vorkommnis, faßte sie ein stilles Entsetzen, und sie blickte hilfesuchend zu ihrem Freunde Rochus hinüber. Der aber nickte ihr nur heimlich und strahlend zu und legte den Finger an den Mund. Seine Buchhalterseele ahnte den geborenen Chef und unterwarf sich willig.

Einige Male machte Marga Vanheil entschiedene Opposition. Es handelte sich um direkte Verladungen nach Südamerika, und zwar der Frachtersparnis halber in Segelschiffen. Robert Twersten hatte gleichzeitig gegen hohe Provision das Inkasso übernommen.

»Geht das Geschäft fehl, so haben wir wenigstens ein Jahr umsonst gearbeitet,« hielt sie ihm entgegen.

»Es geht aber nicht fehl. Erstens kenne ich meine Leute von Rio her, und zweitens habe ich eine billige Rückversicherung.«

»Trotzdem. Das geht mir zu weit.«

Er sah kurz auf. »Liebe Marga, du hast dich überarbeitet. Spanne einmal eine Zeitlang aus.«

»Ich habe keine Nerven. Aber Geschäfte, die man nicht mehr übersieht –« »Ich übersehe sie. Genügt dir das nicht? Sei mir nicht bös, aber Mädchen sollten sich wirklich nicht ohne Not an den Prinzipalstisch setzen. Dazu gehören Fechternaturen.«

Außer sich vor Erstaunen, blickte sie ihn an. »Du vergißt wohl, daß ich das Geschäft fünf Jahre lang geführt habe, und zwar vorwärts.«

»Das war sehr brav von dir,« antwortete er. »Nun sollst du ja auch belohnt werden.« Und er arbeitete ohne aufzuschauen weiter.

Die Hände zitterten ihr vor Erregung. Eine scharfe Erwiderung lag ihr auf der Zunge. Da sah sie sein willensfestes Gesicht über das Papier gebeugt und seine Hand in energischen Zügen Seite um Seite füllen. Röte und Blässe wechselten in ihrem Gesicht. Und sie erhob sich und verließ das Kontor und suchte oben in der Etage ihr Schlafzimmer auf, in dem sie sich vor jeder Störung verriegelte. Den Kopf in die Kissen gedrückt, weinte sie vor Empörung. Und während ihre Tränen noch flossen, sah sie wieder dies schmale, willensfeste Gesicht, das harte Schulung geformt hatte. Harte Schulung – daran dachte sie. Und sie verglich es mit dem Jünglingsgesicht, das sie einst gekannt und gern gesehen hatte, weil es – zuweilen – Karl Twersten geglichen hatte. Nun glich es ihm ganz, Zug für Zug. Und sie setzte sich beschämt aufrecht und sagte es sich.

»Wahrhaftig – als ob es Karl Twersten selber wäre – – !«

Und sie sann vor sich hin, und die Augen wurden heller, und der Mund wurde weicher.

»Er ist ein Mann geworden. – – Soll ich das bedauern –? Nein, nein, nein– –!«– – Der Herbst verging, und die Winterwinde trieben sich im Hafen umher wie eine Rotte kreischender Gassenjungen. Es war ein Sonntag, und Robert Twersten holte Marga Vanheil zu einem Spaziergang ab. Drüben am Kai lag der ›Valdemar Atterdag‹ vor Anker.

»Weißt du noch,« sagte Robert Twersten, »wie wir uns zum ersten Male das Wort ›Atterdag‹ übersetzten? Damals nahm ich es von der jugendlich temperamentvollen Seite und übersetzte es mit ›morgen ist auch noch ein Tag‹!«

»So heißt es auch. Hast du dein Temperament verloren?«

»Nein, aber ich habe gefunden, daß Temperament etwas anderes ist als Überschwang. Und so heißt ›Atterdag‹ gewiß: Morgen ist auch ein Tag! Aber: zu neuer Arbeit! zu neuen Siegen! – – Ich möchte das Wort wohl zu meinem Wahlspruch machen...«

Und an diesem Tage sprach er nicht mehr von Geschäften. Er sprach mit ihr von der Jugend und zählte einher, was er alles seiner Freundin Marga verdanke. »Sieh, das ist mir alles erst später in harten Tagen aufgegangen, als ich keine andere gütige Stimme mehr im Ohr hörte, als die deine. Und eines Tages sagte ich mir: Es bleibt noch ein Rest. Meine Dankbarkeit muß noch eine viel größere werden, so groß, daß ich sie gar nicht mehr abbezahlen kann und mit meinem Gläubiger einen Vergleich schließen muß. Und deshalb bin ich nun hier. Laß mir noch ein klein wenig Zeit. Bis zum Frühling.«

Sie sprach kein Wort, bis sie zu Hause war. Die Winterwinde pfiffen durch Rahen und Sparren, und sie horchte hin, als erhorchte sie ein feines, flötendes Amselstimmchen heraus....

Zu Haus traf sie Erika allein. Sie lief auf sie zu und schloß sie in ihre Arme.

»Was hast du nur, Marga? Das gilt doch nicht mir?«,

»Doch, doch, doch! Das gilt auch dir! Es war so schön draußen. Du solltest auch mehr an die Luft.«

»Ich –? Allein ist es nicht schön draußen. Man muß etwas mitbringen.«

»So bring doch etwas mit,« murmelte das Mädchen und preßte die Schwester fester an sich.

»Marga!«

»Habe ich dir wehe getan? Wie kannst du nur glauben, daß ich dir wehe tun wollte! Du weißt ja gar nicht, wie hübsch du bist. Viel hübscher als ich. Spürst du denn gar nicht, was ich spüre? Nein. Nicht weinen, nicht weinen. Schwester, wir sind ja noch so jung!«

Erika schloß die Augen. »Ich bin eine geschiedene Frau –«

»Und ich eine alte Jungfer! Was möchtest du lieber sein? Ein paar Jahre bist du nur älter als ich, und ebensoviel, ebensoviel schöner. Gott, Erika, wäre ich doch wie du!«

»Mädchen, Mädchen,« stammelte Erika und zog den Kopf der Schwester an ihre Brust. »Mach doch nicht mein Blut rebellisch. Tu es doch nicht. Hörst du –«

»Also es kann noch rebellisch werden! Gestehe!«

»Ich halt es ja oft nicht aus! Dieses – dieses Alleinsein! Dieses – Niederkämpfenmüssen! Tag und Nacht – Tag und Nacht! Was sage ich dir da –? Du bist keine Frau gewesen...«

Marga lag ganz still an ihrer Brust. »Sag nur alles, sag nur alles. Du sagst ja doch nur, was ich von mir selber weiß...«

»Du – –?«

»Ich glaube, wir Frauen müssen erst aus den törichten Jahren heraus sein, um so stark zu empfinden, was wir alles zu vergeben haben.«

»Und zu wünschen, Marga.«

»Komm,« sagte Marga mit scheuer Heiterkeit, »setzen wir uns zusammen. Wir wollen nichts tun, als wünschen.« – –

Und die Schwestern saßen eng beisammen und flüsterten den ganzen Abend hindurch und das Glück spähte durch die Scheiben, auf Martin Vanheils Kinder. –


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