Rudolf Herzog
Hanseaten
Rudolf Herzog

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XIX

Robert Twersten hatte sofort nach dem Empfang der Depesche seinem Vater Mitteilung gemacht, daß er die ›Hammonia‹ für den nächsten Abend seeklar haben möchte. Bevor er sich in den ›Hamburger Hof‹ begab, fuhr er am Morgen auf die Werft.

»Ich möchte dich nur fragen, Vater,« sagte er, nachdem er den Vater herzlicher als sonst begrüßt hatte, »welchen deiner Ingenieure du mir mitgeben möchtest. Kann es Vanheil sein?«

Twersten bestimmte Feldermann. »Er ist der Bauleiter gewesen und wird dich am genauesten informieren können.«

»Weiß Feldermann, daß ich das Schiff an Hand habe?«

»Er ist sehr froh darüber und wird es dir sicher in bestem Lichte zeigen.«

»Ich hoffe, es hat keine Schattenseiten, da es auf K. R. Twerstens Werft gebaut wurde.«

»Eben deshalb. Um welche Zeit wünschest du, daß Feldermann an Bord kommt?«

»Um vier Uhr, wenn ich bitten darf. Wir dehnen die Probefahrt bis Helgoland aus und sind morgen gegen Mittag zurück. Ich telephoniere dir dann sofort.«

»Abgemacht. Und gute Reise!«

Robert Twersten fuhr mit einem Wagen vor dem Hotel vor und holte seine russischen Gäste. Die Excellenzen waren in bester Laune. Der lustige Abend prickelte noch im Blute nach. Die Begleiter waren gewöhnt, ihre Stimmung nach der des Chefs einzustellen. So fuhren sie nach dem Hafen und setzten in einer Dampfjolle nach dem Kai über, an dem die ›Hammonia‹ vertäut lag.

Der Kapitän, der die früheren Probefahrten ausgeführt hatte, war schon mit der geschulten Werftmannschaft an Bord. Er begrüßte den Sohn Twerstens respektvoll und geleitete ihn mit seinen Gästen durch alle Räume des Schiffes. Bis in den letzten Kohlenbunker dehnte sich die Besichtigung aus. Schweigend schritten die Russen einher, mit beherrschten Mienen, aber Robert Twersten fühlte mit geschärften Instinkten, daß sie wenig oder nichts auszusetzen fanden.

Um ein Uhr mittags kehrten sie ins Hotel zurück und dinierten in einem besonderen Raum. Und um vier Uhr nachmittags waren sie wieder an Bord der ›Hammonia‹. Vom Hotel aus hatte Robert Twersten ins Kontor telephoniert, daß man ihn nicht mehr erwarten möge.

Feldermann war schon zur Stelle. Er befand sich bei der Maschine, als Robert Twersten ihn aufsuchte.

»Ich habe noch einige Gäste für die Spazierfahrt mitgebracht. Wir werden ja doch nur Ehre mit diesem schönen Schiff einlegen. Ist alles bereit?«

»Die ›Hammonia‹ liegt unter Dampf. Der Lotse ist an Bord, und der Kapitän wartet nur auf Ihren Befehl, Herr Twersten.«

»In Gottes Namen denn. Sie bleiben wohl bei der Maschine, bis ich zu Ihnen zurückkehre?«

»Ich möchte sie so wenig wie möglich aus dem Auge lassen.«

Robert Twersten begab sich an Deck zurück. Die ›Hammomia‹ warf los. Die russischen Gäste betrachteten aufmerksam jedes Manöver. Geschmeidig wand sich die ›Hammonia‹ durch die Schiffsgassen in den offenen Strom. Fast lautlos arbeiteten die Schrauben. Mit angespanntem Atem stand Robert Twersten und horchte auf den geringsten Ton. Ihm war, als ob die Seele des Schiffes lebendig geworden wäre, als ob diese Seele und die seine in ihren Empfindungen eins geworden wären.

»Du bist so gut Twerstens Art wie ich,« klang es in ihm. »Wir Twerstens wollen uns nicht enttäuschen. Ich vertraue auf dich.«

Und das Schiff glitt durch das Wasser dahin und ließ das Häusermeer Hamburgs entschwinden und Altona in der Ferne und stürmte vorwärts, als ob es sein ureigenstes Element, das Meer, wittere und nach seinem Kampf- und Liebesfeld verlange. –

Es wurde Abend, und die Ufer verschwammen, und die Konturen lösten sich auf. Den Mantelkragen hochgeschlagen, kam die Exzellenz von einem neuen Rundgang zurück.

»Wenn die Kombüse auch so tadellos funktioniert, Herr Twersten –«

»Gerade wollte ich Exzellenz bitten, sich davon zu überzeugen. Ich habe, der Bequemlichkeit halber, das Büfett im Rauchzimmer aufschlagen lassen.«

»Ah – das ist sehr gut, Herr Twersten.«

Und die russischen Herren hielten für den Abend ihre Inspizierung für beendet, und während das Schiff immer schneller dem Meere entgegenzog, wurde es im Rauchzimmer lauter und lebhafter. Die Köpfe röteten sich hinter den Flaschen, und erst als die Uhr Mitternacht zeigte, erhob sich die Exzellenz und ging an Deck.

Einen schwarzen Mantel warf die Nacht über das Meer und hüllte Wasser und Luft in undurchdringliche Finsternis. Nur der Anprall der Wogen zeigte an, daß das Schiff seine Fahrt in offener See vollführte.

»Wie manche Nacht war ich für das Vaterland draußen,« sagte der Russe, und seine Stimme hatte einen schwermütigen Klang. »Von diesem Krieg aber erwarte ich nicht viel Gutes, und ich bin froh, daß meine Jahre mir gestatten, zurückzubleiben, statt all das Elend da draußen mitmachen zu müssen. Gott erhalte Rußland!«

Der Wein sprach aus ihm und trieb seine Schwermut an.

»Wenn Exzellenz sich auf ein paar Stunden zurückzuziehen wünschen,« meinte Robert Twersten höflich, »die Kabinen sind bereit.«

»Gut, sehr gut. Ich möchte beim ersten Morgengrauen geweckt werden.«

Die russischen Herren folgten dem Beispiel ihres Chefs. Es wurde kühl an Bord, und nur die Maschine kannte keine Ruhe. So wenig wie das ruhelos wandernde Meer.

Robert Twersten begab sich in den Maschinenraum. »Bitte, kommen Sie jetzt doch zu mir hinauf, Herr Feldermann. Ich möchte mit Ihnen die Nacht verplaudern, wenn auch Sie nicht schlafen können.«

Feldermann folgte ihm an Deck. In ihre Mäntel gehüllt, saßen sie an der Reling und tauchten ihre Blicke in die Dunkelheit.

»Ich bitte, mich nicht für indiskret zu halten, Herr Twersten,« sagte Feldermann nach einer Weile. »Es steht selbstverständlich in Ihrem Willen, meine Frage rundweg abzulehnen. Nur weil der Chef die Angelegenheit mit mir besprach und nichts davon erwähnte –«

»Bitte, fragen Sie nur ruhig,«

»Die Herren, die Sie mir als Ihre Gäste bezeichneten und mit denen Sie wiederholt den Gang der Maschine feststellten, verfügen über so überraschende nautische Kenntnisse, daß –«

»Daß Sie auf die Vermutung kamen, Seeleute vor sich zu haben. Sie haben sich nicht geirrt, Herr Feldermann.«

»Es sind Herren aus der russischen Marine, Herr Twersten.«

»Ganz recht. Exzellenz Willaroff vom russischen Marineministerium mit seinem Stab.«

»Sie sagen das so ruhig, Herr Twersten, daß ich annehmen muß, Ihr Herr Vater vergaß nur, mich von der Anwesenheit der Herren zu unterrichten.«

»Mein Vater konnte Ihnen nichts mitteilen, was er selbst nicht wußte.«

»Ich dachte es mir,« sagte Feldermann und sann mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin.

Robert Twersten sah ihn lächelnd an. »Herr Feldermann,« begann er, »ich verstehe Ihre Empfindungen so vollkommen, als läse ich hinter Ihrer Stirn. Aber es hat keinen Zweck, daß Sie sich abmühen. Ich habe den Handschlag meines Vaters, daß die ›Hammonia‹ in meinen Besitz übergeht, wenn ich den vereinbarten Preis erlege. Ich erklärte damals meinem Vater, daß ich das Schiff für die Firma Martin Vanheil benötige, um diese Firma in ein anderes und besseres Fahrwasser zu bringen. Das tue ich. In welcher Weise ich von dem Schiff Gebrauch mache, ist lediglich meine Angelegenheit und nicht die meines Vaters, der ja ohnedies seinen Gewinn bei dem Geschäft findet, denn er hat mir durchaus keine von Vatergefühlen beeinflußten Preise gemacht. Das wissen Sie so gut wie ich. Die Firma K. R. Twersten erleidet also keinerlei Schaden. Die Firma Vanheil aber, und alles, was von ihr abhängt, wird endlich und gründlich aufatmen können.«

»Herr Twersten,« erwiderte Feldermann offen, »ich teile Ihren Standpunkt nicht nur, er ist mir sogar, weil er für die Firma Vanheil eintritt, sehr sympathisch. Trotzdem, als Angestellter und Vertrauensperson Ihres Vaters, muß ich anders denken. Hätte Ihr Herr Vater eine Ahnung von Ihrem Vorhaben gehabt – nun, wir kennen beide den Unternehmungsgeist Karl Twerstens zur Genüge, als daß ich den Satz beenden müßte.«

Robert Twersten schüttelte den Kopf. »Sie irren, Herr Feldermann, wenn Sie an den Abschluß mit Spanien denken. Zunächst ist mein Vater inzwischen um sechs Jahre älter geworden, was ja nicht viel bei ihm besagen will. Aber das spanische Geschäft war ein Kinderspiel gegen dies russische. Sehen Sie sich nur die Unterhändler von damals und von heute an. Dort Männer, die an nichts als an ihr Vaterland dachten, hier Männer, die nebenbei auch sehr – sehr, sage ich Ihnen – an sich denken. Das war eine Minierarbeit in Petersburg! Und hier – nun, hier läßt man schon das Visier viel offenherziger fallen. Der gestrige Abend hat mich, abgesehen von einer nicht gerade sehr geschmackvoll durchtobten Nacht, zum zweiten Male die Summe von zehntausend Mark gekostet, und der endgültige Abschluß wird noch einmal das Fünffache fordern. Nein, lieber Freund, derartig komplizierte Geschäfte sind nichts für Karl Twersten. Dazu gehört jugendliches Draufgängertum, das sich in der Wahl der Waffen nach dem Gegner richtet. Karl Twersten würde der Humor dazu fehlen, sich als Gast dieser Exzellenz zu fühlen, der er ein Trinkgeld gibt. Verlassen Sie sich darauf, er wird mir danken, daß er unbehelligt geblieben ist, und – sich über das gute Geschäft freuen.«

»Noch mehr, wenn er es selbst gemacht hätte. Nicht des Geldes wegen.«

Robert Twersten blickte lange in die Nacht hinaus. Dann wandte er Feldermann ein offenes Gesicht zu.

»Nein, alter Freund, die Dinge liegen anders. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß mein Vater über nichts glücklicher sein wird, als über diesen Ausgang, daß er sogar unbewußt darauf wartet. Nicht gerade auf diese Veranlassung, aber auf eine Veranlassung, die ihm zeigt, daß ich ein für allemal aus den unklaren Schwärmereien heraus bin und als ein Fertiger neben ihm stehe. Neben ihm! Darauf wartet er. Um vieles aus der Vergangenheit zu vergessen und noch mehr von der Zukunft zu erhoffen. Auf die unerschütterliche Zuversicht wartet er. Vater und Sohn wollen wieder zueinander, als ebenbürtige Menschen, nachdem sie so lange im Kreise umeinander herumgegangen sind. Herr Feldermann, glauben Sie nicht, daß dies Ziel jeden Einsatz wert ist?«

»Ich danke Ihnen, Herr Twersten,« entgegnete der Oberingenieur mit Wärme, »daß Sie mich Ihres Vertrauens für wert halten. Ja, ich sehe Ihre Beweggründe ein. Und jetzt wünsche ich Ihnen von Herzen Glück zum erfolgreichen Ausgang.«

Über die Brüstung reichten sich die beiden Männer die Hände.– –

»Sie sind ein regelmäßiger Gast im Hause Vanheil geworden, Herr Feldermann,« meinte Robert Twersten. »Es sind so seltsame Menschen, daß ich alles, was ihnen Gutes begegnet, dankbar begrüße.«

Eine starke Verlegenheit überkam den Ingenieur. »Mir – mir ist viel Gutes dort begegnet. Mein ganzes Leben, Herr Twersten, weist nicht so viele schöne Stunden auf – als die Abendstunden in diesem Hause. Ich – ich habe das dankbar zu begrüßen.«

»Solche Unterscheidungen machen Vanheils nicht. Dort ist alles gegenseitig.«

»Aber ich – darf mir doch nicht das Recht nehmen – solche Ansprüche geltend zu machen.«

»Weshalb Sie nicht? Übrigens –« Robert Twersten lächelte vor sich hin – »müssen Sie ja selbst empfinden, ob man Ihnen das Recht zugesteht.«

»Die alte Dame des Hauses – ist immer sehr gütig gegen mich.«

»Und die junge? Ich spreche deshalb nur von einer, weil ich die Güte der anderen für mich allein in Anspruch nehmen möchte.«

»Herr Twersten –!« bat der Ingenieur. »Wir dürfen den Namen Frau Erikas – nicht in unsere Unterhaltung ziehen.«

»Ich gedenke innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden der Schwager dieser Dame zu sein. Da brauche ich wohl nicht zu betonen, daß mir ihr Wohl und Wehe nicht nur ein Gesprächsstoff ist. In der Ehe, die sie mit einem Egoisten reinsten Wassers führte, hat sie nur das Wehe kennen gelernt. Dieses feine, zärtliche Geschöpf. Um so mehr wünsche ich ihr nun ein tiefinneres Wohlbefinden von unverrückbarem Bestand.«

»Diesem Wunsche schließe ich mich an,« sagte Feldermann und atmete schwer.

»Und weshalb Sie –?«

»Weil ich sie liebe, Herr Twersten – – !«

Robert Twersten schob sanft seine Hand in die des vor sich hinstarrenden Mannes. »Sie wissen, was dieser Händedruck bedeutet, Feldermann –«

Der andere hob den Kopf. Eine Röte der Erregung lief über sein Gesicht. »Ja, Twersten.« –

Als der erste Morgenschein wie ein zitternder Streifen über den Himmel zog, saßen sie immer noch beisammen, und der Name Vanheil war es, der aus jedem Satze widerklang. »Wir werden ihnen den Schlummer geraubt haben,« sagte Twersten, »so stark haben wir sie beschworen. Aber nun soll's auch in ihrem Namen an die Arbeit gehen! Da zeigt sich die erste Morgendämmerung. Lassen wir unsere Herren wecken, und nehmen wir inzwischen eine gesunde, kalte Dusche. Auf Wiedersehen nach der Schlacht im Hause Vanheil!«

Gleichzeitig mit den russischen Herren war Robert Twersten wieder an Deck. Sie prüften den Schnelligkeitsmesser und den Kohlenverbrauch, untersuchten den Stand der Maschine und zogen sich zum Frühstück zurück. Helgoland war in großer Kurve umfahren worden, und der Kurs stand wieder auf die Elbmündung zu. Der Leuchtturm kam in Sicht. Vom Vorderdeck aus beobachtete der Russe die Einfahrt.

»Spüren Sie nicht, Herr Twersten, daß unser Schiff ohne Veranlassung die Nase ein wenig tief ins Wasser steckt? Schade ...«

Robert Twersten holte ein Zeitungsblatt hervor. »Exzellenz wollen entschuldigen, daß ich die schöne Morgenstunde störe. Es ist das gestrige Hamburger Mittagsblatt mit den Reutertelegrammen, das ich mir kaufte, als wir am Nachmittag an Bord gingen. Ich kam erst in der Nacht dazu, einen Blick hineinzuwerfen, und da fand ich zu meinem tiefsten Leidwesen dies.«

Der Russe hatte schon die Hand ausgestreckt. Er nahm das Blatt und las. Eine Verwünschung kam durch seine Zähne.

»13. April. Admiral Togo lockte das russische Geschwader durch einen Scheinangriff aus dem Hafen von Port Arthur, nachdem er während der Nacht in die Kurslinie Streuminen hatte legen lassen. Der russische Panzer Petropawlowsk flog durch eine berührte Mine in die Luft. Admiral Makarow und der Schlachtenmaler Wereschtschagin, der sich an Bord aufhielt, fanden mit fünfhundertsechsundsiebzig Mann den Tod in den Wellen. Der Hafen ist so gut wie gesperrt. Es herrscht tiefste Niedergeschlagenheit.« –

»Heiliges Rußland – es wird ernst!«

»Sie werden sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, Exzellenz. Sobald die baltische Flotte ausfahren kann –«

»Ja, sobald sie ausfahren kann ... Es wird tüchtig Arbeit kosten.«

»Um so höher wird der Erwerb von Schiffen, besonders von der Klasse der ›Hammonia‹, bewertet werden. Ich meine, bevor die Verkäufer imstande sind, auf diese wichtige Nachricht zu reagieren.«

»Die Nachricht ist über die große Lügenfabrik Schanghai eingetroffen. Vorläufig fehlt die Bestätigung.«

»Vielleicht finden Exzellenz eine Depesche im Hotel vor. Es bedarf wohl keiner Betonung meinerseits, daß ich mich trotzdem nach wie vor an den vereinbarten Preis gebunden halte. Sagen wir bis heute abend, Exzellenz.«

Der Russe blickte nervös nach der Uhr. Kuxhaven lag hinter ihnen.

»Wir haben noch drei Stunden bis Hamburg,« sagte er und preßte einen Fluch zurück.

»Bis Mittag landen wir. Sehen Sie nur, wie ausgezeichnet die ›Hammonia‹ läuft.«

Der Russe grüßte und begab sich mit seinen Herren in den Rauchsalon. Das Zeitungsblatt nahm er mit. Bis das Schiff in den Hamburger Hafen einlief, kamen die Herren nicht mehr zum Vorschein.

»Befehlen Exzellenz, daß ich mit ins Hotel fahre und dort Ihre weiteren Dispositionen abwarte?«

»Ich möchte Sie darum bitten, Herr Twersten. Die Zeit ist knapp geworden.«

Sie fuhren auf kürzestem Wege zum Hotel. –

Eine halbe Stunde hatte Robert Twersten im Lesezimmer zugebracht, als er nach oben gebeten wurde.

»Es ist nicht so schlimm, Herr Twersten. Ein Schiff mehr oder weniger bedeutet, dem Himmel sei Dank, für das mächtige Rußland nichts. Immerhin – die Depesche, die ich vorfand, gab mir Order, bei befriedigendem Verlaufe der Probefahrt mit Ihnen abzuschließen.« »Darf ich Exzellenz ersuchen, sich mit mir in mein Kontor zu bemühen? Die Papiere liegen bereit.«

»Es werden noch eine Anzahl Fragen zu erledigen sein,« sagte der Russe.

»Es gibt keine Frage, an der der Abschluß scheitern könnte,« erwiderte Robert Twersten höflich. Und sie fuhren zum Millerntor. –

Marga Vanheil hatte einen ruhelosen Tag und eine schlaflose Nacht durchlebt. In der Nacht war sie hinübergegangen in Erikas Zimmer. »Du wachst also auch? Du hast doch keinen Grund, dich zu beunruhigen?«

»Ja, Marga – beunruhigst du dich denn?«

»Es war ein so langweiliger Abend gestern. Kein Mensch kam. Selbst Fritz stromerte irgendwo herum wie das böse Gewissen.«

»Und Herr Feldermann hatte den Jungens fest versprochen, gestern schon um halb sieben Uhr zu kommen.«

»Den Jungens? Gott, nein, Erika!«

»Was willst du denn von mir? Natürlich mir auch, aber in der Hauptsache doch der Jungens wegen.«

»Ach, Erika, wenn du wüßtest, wie süß dir das Schwindeln steht!«

»Marga!«

Aber Marga Vanheil hielt ihr den Mund zu. »Still, ich will ja gar nichts wissen. Und dieses erhitzte Gesicht – das ist 'sicher ein Erkältungsfieber. Nein, nein, nein, ich spreche keinen Ton mehr. Denn ich – ich muß mich wohl auch erkältet haben.«

»Komm – ich mache dir Platz.«

»Nur einen Moment. Weil ich dir was ins Ohr sagen muß. Ich – ich, also ich – habe den Bob – den Bob Twersten – rasend lieb!«

Und sie kuschelte den Kopf in den Arm der Schwester, und nun lag sie ganz still.

»Schlägt eigentlich dein Herz so, oder ist es meins?« fragte sie nach einer Weile.

»Sprich jetzt nicht, du Kindskopf.«

Da fuhr Marga Vanheil lachend auf und lief in ihr Mädchenstübchen.

»Damit du besser träumen kannst! Gute Nacht, Erika!«

Als am anderen Morgen Bob nicht auf dem Kontor erschien, steigerte sich ihre Unruhe. Am liebsten wäre sie zu Frau Ingeborg gelaufen, aber sie fürchtete, Bob inzwischen zu verpassen. Gegen Mittag aber läutete sie telephonisch bei Frau Ingeborg Bramberg an.

»Haben Sie nicht ein wenig Zeit für Ihre verlassene Freundin?«

»So viel Sie wollen. Kommen Sie nur.«

»Ich muß das Kontor hüten. Herr Rochus geht zur Börse, und Herr Robert Twersten treibt sich unbekannten Aufenthalts in der Weltgeschichte herum.«

»Was tut er? In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen.«

»Bleiben Sie noch einen Augenblick am Telephon, ja?«

»Weshalb, Kind?«

»Ich möchte Ihnen einen Kuß geben. Das riskiere ich sonst doch nicht. So! Danke!«

»Sehr unglücklich scheinen Sie mir nicht zu sein!« Und Frau Ingeborg klingelte lachend ab.– –

»Also, wo haben Sie unseren Bob gelassen?« fragte Frau Ingeborg, als die Freundinnen beieinander saßen. »Haben Sie ihn mit Ihrem Mutwillen in die Flucht geschlagen? Haben Sie ihm die schwere Hand des Chefs gezeigt? Irgend etwas müssen Sie doch angestellt haben?«

»Du lieber Gott, mein Mutwille!« seufzte Marga Vanheil kläglich. »Sein Mut ist so gewachsen, daß mein Wille gar nicht mehr dagegen ankommt. Und die schwere Hand des Chefs? Glauben Sie wohl, daß er bei den größten Geschäften kaum noch meine Meinung einholt? ›Ich habe das bereits geordnet‹, oder ›damit sollst du dich nicht quälen‹, und die Sache ist für ihn erledigt.«

»Ja, was hat er denn getan, daß er fort ist?«

»Was er getan hat?« sagte sie unter zornigem Lachen. »Beim Kopf hat er mich gestern morgen genommen, abgeküßt – und fort war er.«

»Das hätte ich auch getan!« Und Frau Ingeborgs herzliches Lachen mischte sich mit dem der Freundin. »Damit hat er den Beweis erbracht, daß er wiederzukommen gedenkt.«

»Man läßt ein Mädchen nicht einfach mit einem Kuß auf dem Mund sitzen und sich wundern –«

»Eben deshalb, Marga. Machen Sie sich nur auf weitere Überraschungen gefaßt.«

»Ach, Frau Ingeborg!« Und sie umschlang die Freundin heftig, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen.

Ingeborg Bramberg streichelte ihr Kopf und Schultern. »Du liebe, liebe Braut! Nun wirst du eine Twersten werden, und das bedeutet ein Leben leben. Blick einmal zu mir auf, damit ich dich küssen kann. Und sage ›du‹ zu mir wie ich zu dir.«

»Du liebe Ingeborg! Nun habe ich außer Bob auch dich noch. Kein Mensch kann reicher sein.«

Und Ingeborg Bramberg spürte heimlich und tief, wie wohl ihr die Liebe des Mädchens tat.

»Willst du mir den ganzen Nachmittag schenken?« bettelte Marga Vanheil. »Ich kann heute nicht allein sein. Ich treibe nur Unnützes. Oder wirst du zu Hause von Herrn Bramberg erwartet?«

»Herr Bramberg,« wiederholte sie den Namen, »ist gar nicht in Hamburg. Seit Februar schon befindet er sich an der Riviera, in Nervi.«

»Zur Erholung?«

»Ich glaube nicht, daß er sich wieder erholen wird. Er hat nicht viel Kräfte mehr zuzusetzen.«

Mit angstvoll geweiteten Augen blickte Marga Vanheil die Freundin an, und Ingeborg Bramberg strich ihr ruhig über diese angstvollen Augen, als wäre es nicht der rechte Blick.

»Was ich für ihn fühlen kann, ist Mitleid, tiefes, menschliches Mitleid. Als man uns zu dieser Familienheirat drängte, hat man uns nicht viel nach unserer Liebe gefragt, und nach dem Gleichklang unserer Lebensauffassungen überhaupt nicht. Die Frau Theodor Brambergs mußte glücklich sein. Schon allein, weil sie Frau Bramberg hieß. Und Theodor Bramberg hat nie in seinem Leben anders gedacht. Siehst du, Marga, wenn ich trotzdem ein großes, großes Glück gewinnen durfte, ihm habe ich es nicht zu verdanken. Nur mir und meinem Mut zum Glück. Verstehst du mich ganz?«

Marga nickte, und ihre Augen wurden hell.

»Deshalb habe ich ein so herzliches Mitleid mit ihm,« fuhr Ingeborg Bramberg fort, »weil er sich kein Glück gewann. Weil er Leib und Seele verwechselte und nie verstand, daß erst das eine dem anderen Schönheit und Weihe gibt. So gewann er hundert Schemen und kein ganzes Wesen.«

»Sprich nicht weiter, wenn es dir schwer wird. Eine Frau versteht leicht.«

»Deshalb darf ich auch nicht lügen, wenn du mich nach Theodor Bramberg fragst. Was sich im Leben fremd blieb, kommt sich im Tode nicht näher. Das ist nur eine fromme Legende, die die Zurückbleibenden erfanden, um sich vor der Welt ein Ansehen zu geben. Mein gefestigtes Glück braucht diese Mittel nicht.«

Und die Frauen sprachen lange von dem Stärksten, was Frauenherzen bewegt, und was nur wenige Männer als das Wunderbarste erkennen.– –

Marga Vanheil richtete sich auf. Horchend beugte sie sich zum Fenster. Ein Wagen fuhr vor.

»Da ist er! Da ist er, Ingeborg! Ach – und noch ein Fremder.«

»Ich lasse dich allein.«

»Bitte, tue es nicht. Er bringt ja einen Fremden mit. Willst du Mutter und Erika begrüßen? Und gehe nicht, bevor du mir Adieu gesagt hast.«

Ingeborg Bramberg huschte hinaus. Gleich darauf betrat Robert Twersten mit seinem Begleiter das Privatkontor.

»Fräulein Vanheil,« stellte er mit einer Handbewegung vor, grüßte selbst mit einer kurzen Verbeugung, und die Herren setzten sich an Robert Twerstens Schreibtisch. Die junge Dame existierte nicht mehr. Der Gast mochte sie für eine Privatsekretärin halten.

Marga Vanheil blickte starr vor sich hin auf die Tischplatte. Mechanisch schrieb sie die Buchstaben nieder, aber ihr Herz pochte laut, und ihrem Ohre entging nichts.

Robert Twersten entnahm einem verschlossenen Fach seines Schreibtisches einige Papiere. »Wenn Exzellenz Einsicht zu nehmen belieben – ich habe den Kaufvertrag wörtlich nach unseren Petersburger Vereinbarungen aufgestellt.«

»Exzellenz?« dachte Marga Vanheil. »Und Petersburger Vereinbarung?« Und sie schielte ein wenig zu Robert Twersten hinüber. Der aber sah kalt und undurchdringbar über sie hinweg, während der Fremde aufmerksam die Papiere studierte.

Nach einiger Zeit legte der Fremde die Papiere auf den Tisch und glättete sie mit der Hand.

»Ich erwähnte bereits heute vormittag, Herr Twersten, daß die ›Hammonia‹ eine gewisse Neigung zeigt, mit dem Kopf ins Wasser zu stoßen. Ich gebe zu, daß die angegebene Geschwindigkeit vollauf erreicht worden ist, aber dieser Schönheitsfehler müßte doch wohl durch einen Preisnachlaß geregelt werden.«

»Leider vermag ich Exzellenz nicht darin beizustimmen,« entgegnete Robert Twersten ruhig. »Ich darf – schon der renommierten Werft wegen, auf der das Schiff erbaut wurde – seinen Wert nicht herabmindern lassen, da ich, wenn es bekannt werden würde, meiner liebsten und angesehensten Verbindung verlustig gehen könnte. Das werden Exzellenz, bei den erprobten freundschaftlichen Gefühlen für mich, selbst nicht wünschen.«

»Es läßt sich nicht aus der Welt schaffen, Herr Twersten.«

»Ich bin gewillt, Exzellenz von der Kaufsumme den Betrag von fünfzigtausend Mark für gemeinnützige Zwecke à discretion zur Verfügung zu stellen. Exzellenz wollen diesen Betrag gütigst selbst bei der Auszahlung in Abzug bringen.«

»Ist er toll geworden?« dachte Marga Vanheil, und ihr Herzschlag stockte.

Der Fremde spielte mit der Feder.

»Vorausgesetzt,« fuhr Robert Twersten fort, »daß die Unterschrift heute noch erfolgt. Für morgen vermag ich mich nicht mehr unter den gleichen Bedingungen zu binden.«

»Ich trage die Bankanweisung bei mir, Herr Twersten,« sagte der Fremde langsam. »Ich kann die Überschreibung auf Ihr Konto im selben Augenblick vornehmen lassen, in dem ich dem Schiff Segelorder erteile.«

»Die ›Hammonia‹ kann jeden Tag zur Abfahrt nach dem nächsten russischen Hafen bereit sein. Sobald Exzellenz den Vertrag durch Unterschrift vollzogen haben werden, geht der Befehl hinaus, Kohlen zu nehmen. Den erwähnten Betrag könnte ich auch, da ich keine offizielle Danksagung liebe, morgen bei der bankgeschäftlichen Regelung persönlich in Euer Exzellenz Hände legen.«

Der Fremde tauchte die Feder ein. Einen Augenblick kreuzten sich die Blicke der beiden Männer. Dann malte die Feder in breiten Zügen die Unterschrift.

Robert Twersten erhob sich. »Ich gratuliere Exzellenz zu dem schönen Schiffe. Wollen Exzellenz auch heute über meine Zeit verfügen, so bitte ich darum.«

»Ich danke Ihnen, Herr Twersten. Aber dieser Abend gehört der Arbeit. Darf ich Sie morgen vormittag Punkt zehn Uhr bei mir erwarten?«

»Zu jeder Minute.«

Der Fremde verabschiedete sich. Ein flüchtiges Kopfnicken galt der Dame. Robert Twersten verfolgte den Gruß mit einem hochmütigen Blick, der Marga Vanheil das Blut in Wallung setzte. Dann geleitete er den Fremden hinaus, kehrte zurück und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Noch behielt er den hochmütigen Blick bei.

»Nun – –?« fragte er.

»Ich zweifle bald an deinem Verstand, Bob,« sagte sie atemlos.

»Nun?« wiederholte er. »Muß ich dich erst holen?«

»Um alles in der Welt, Bob, erkläre mir –«

»Muß ich dich erst holen?«

Da gewahrte sie, daß seine Augen lachten, und daß sein Blut in hellem Aufruhr war. Mit mädchenhafter Gelenkigkeit brachte sie den Stuhl zwischen sich und ihm.

»Was hast du, Bob?«

Über das Hindernis hinweg riß er sie in seine Arme. »Dich habe ich, dich!« Und er suchte ungestüm ihren Mund.

»Das geht nicht so, wie gestern morgen!«

»Das geht noch ganz anders!«

»Frecher Mensch!«

»Liebe, angebetete Braut ...!«

»Herrgott, Bob – – ! – –«

Sie ergab sich ihm und erwiderte seine Küsse. Und in Martin Vanheils altem Privatkontor lief ein Flüstern die Wände entlang. ...

»Nun komme ich nicht als Heimatloser zu dir, und nicht als Stellenloser. Und ich komme nicht mit leeren Händen zu Marga Vanheil.«

»Ich bitte mir nur dein volles Herz aus. Es darf nie leerer sein als meines.«

»Und dem Vater bringe ich den Beweis, daß ich ein Kaufmann geworden bin, wie er. Nein, die Tochter bringt ihm den Beweis.«

»Zwei Minuten, Bob. Und du sollst mich so viel küssen dürfen, wie du willst. Aber in den zwei Minuten will ich erfahren, was los ist.«

»Das weißt du nicht?« tat er erstaunt. »Die ›Hammonia‹ habe ich verkauft, Mädchen!«

»Die ›Hammonia‹? Junge, die gehört doch deinem Vater?«

»Das weißt du auch nicht? Ich habe doch darum gehandelt und sie mir fest an Hand geben lassen. Heute ist sie mein!«

»Und du hast inzwischen mit Rußland verhandelt? Und in Petersburg warst du?«

»Also selbst das weißt du nicht! Und so etwas will sich als Chef aufspielen! Und hat seit Wochen und Monaten nichts als Liebesgedanken im Kopfe gehabt. Warte, morgen revidiere ich die Bücher!«

»Revidiere lieber heute meinen Kopf,« rief sie und griff nach dem seinen.

»Schickt sich das im Kontor?«

»Was die Frau tut, schickt sich. Befasse dich mit den Prinzipalseigenschaften gefälligst allein!«

»Tu den Schreibärmel ab! Meine Frau könnte wahrhaftig glauben, ich küßte meine Kontoristin!«

»Da liegt er! Und jetzt erwartet deine Frau auf der Stelle die Huldigung, die deiner Frau zukommt!«

»Deern!« rief er und riß sie auf seinen Schoß.

Und wieder lief das Flüstern durch das alte Privatkontor Martin Vanheils. ...

Es klopfte. Sie fuhren auf, und Robert Twersten drückte das Mädchen mit weichen Händen in den Stuhl. Dann ging er und öffnete.

»Herr Twersten in Firma K. R. Twersten,« meldete ein Buchhalter.

»Ah – Papa! Bitte, tritt ein!«

Karl Twersten trat näher, legte Hut und Stock ab und begrüßte Marga.

»Nun –? Wie sehen Sie denn aus, Kind?«

»Meine Frau, Papa!«

»Was –?« Karl Twerstens Blicke gingen erstaunt von dem einen zur anderen.

»Entschuldige, Papa.« Robert Twersten lachte ihn an. »In unserer Glückseligkeit haben wir bereits die Begriffe verwechselt. Ich möchte dir in Marga deine Tochter zuführen und dich bitten, sie so lieb zu haben, wie ich sie habe.«

Marga Vanheil hatte sich glühend rot erhoben. Mit niedergeschlagenen Augen stand sie vor Karl Twersten.

»Sieh mich einmal an, Kind. Ich denke, zwei alte Geschäftsfreunde wie wir wissen, was sie voneinander zu halten haben und fürchten sich nicht voreinander. So ist es recht.«

Sie hatte die Augen gehoben, die tränenschwer waren. Und jetzt streckte sie mit einer mädchenscheuen Bewegung die Hände aus. Karl Twersten aber nahm sie fest in seine Arme. »Du warst mir schon lieb, als du mir noch nicht den Jungen da wiedergebracht hattest.«

»Habe ich das, Vater?« Und sie küßte ihn. »Ich glaube,« sagte Karl Twersten, »noch solch ein Tochterkuß, und ich verzeihe ihm sogar, daß er mich, was keinem gelang, kaltblütig übervorteilt hat.«

»Das hätte Bob getan? Ja, dann wirst du ihn als Kaufmann anerkennen.«

»Gib mir mal den Kaufvertrag, Robert, den du mit dem Russen geschlossen hast. Feldermann hat mir Bericht erstattet.«

»Hier ist er, Papa.«

Karl Twersten ließ sich am Schreibtisch nieder. Seine Augen überflogen das Papier, trafen auf die Kaufsumme – langsam blickte er auf.

»Du hast viel gelernt, Robert. Das war eine meisterliche Ausnutzung der politischen Konjunktur.«

»Es ist deine Schule, Papa. Hamburger Kaufleute, so hast du mich gelehrt, sollen ihre Augen nicht nur im Hauptbuch, sondern in der Weltgeschichte haben.«

»Und diese Lehre wendest du zuerst sehr lobenswert gegen den eigenen Lehrer an. Tja! Und wenn ich die ›Hammonia‹ nicht aus dem Hafen ließe? Denn noch gehört sie mir.«

»Der Handschlag von Karl Twersten ist so viel wert, wie seine ganze Werft, und noch etwas mehr.«

»Und noch etwas mehr.« Twersten erhob sich. »Komm, Junge, ich habe dir noch nicht zu dieser Frau gratuliert. Denn sie – sie ist auch noch etwas mehr wert als die Werft. So, Robert,« sagte er und hielt den Kopf des Sohnes von sich ab, um den Blick in seine Augen senken zu können, »nun haben wir unseren Frieden gemacht.«

Er streckte die Hand nach Marga aus.

»Komm du auch, Kind. Du darfst nie mehr zwischen uns fehlen.«

Und nach einer Weile fragte er: »Weiß es schon Frau Henriette? Nein? Dann wollen wir zu ihr gehen.«

»Frau Bramberg ist bei ihr, Vater,« sagte Marga Vanheil hastig.

Twersten sah sie ruhig an. »Ihr liebt euch wohl sehr, Marga?«

»Sie liebt uns beide, Bob und mich. Und mir hat sie zur Verlobung das schwesterliche Du geschenkt.«

Robert Twersten reichte seinem Vater stumm die Hand. Und sie gingen hinauf in die Wohnung.

»Frau Henriette,« sagte Twersten, »Sie müssen mir schon gestatten, daß ich Sie bei Ihrem Vornamen nenne. Denn Marga möchte den Namen Twersten annehmen, und ich bin sehr glücklich über ihren Entschluß. Machen Sie ihn ihr nicht schwer.«

Frau Henriette kam nicht zu Wort. Die jungen Menschen ließen sie nicht aus den Armen und drehten sie im Kreise.

»Kinder – aber Kinder! Man sollte wirklich nicht meinen, daß man in Hamburg wäre!«

»Ach, Mutter, wie die Stadt heißt, ist ja gleich! Wenn wir nur darin sind!«

Und sie nahmen sie und liefen mit ihr zu Erika, die im Nebenzimmer die Schreibübungen ihrer Jungen beaufsichtigte.

Karl Twersten wandte sich Ingeborg Bramberg zu. Ungerufen kam sie zu ihm.

»Daß du heute hier sein mußtest, Ingeborg! Als ob ein unsichtbares Schicksal es ausspräche: Ihr seid die Familie.« Ihre Schulter berührte leise die seine. Es wallte wie dasselbe Blut durch sie hindurch. »Ob ein sichtbares oder ein unsichtbares Schicksal es ausspricht, Karl – ich weiß nur, daß wir es sind.«

»Nun haben wir zwei Kinder, Ingeborg.«

»Und Liebe genug für sie.«– –

Im Kontor wurde Feierabend gemacht. Man hatte nach dem alten Rochus geschickt, und er erschien mit der Miene eines Erlösten.

»O, wenn Sie wüßten, wie es mich nach meinem alten Stuhl im Vorderkontor verlangt hat, seit Herr Robert Twersten im Geschäft erschien. Haben Sie Dank, Herr Twersten, daß Sie es mit einem alten Manne gut gemeint haben. Und meinen herzlichsten Glückwunsch.«

Und Fritz Vanheil erschien und brachte Feldermann mit.

»Nein, Feldermann, Sie bleiben,« bestimmte Robert Twersten, als der Oberingenieur erschrocken zurückweichen wollte. »Oder ich erzähle alles, was wir uns diese Nacht auf See gebeichtet haben.«

»Was war das?« fragte Marga leise, und drückte seinen Arm.

»Liebesgeschichten. Nur für Junggesellen.«

Es war kein fürstliches Verlobungsmahl, das sie abhielten. Aber alle, die um den runden Tisch Martin Vanheils saßen, unter den lustigen, schwarzen Schildereien des kunstsinnigen Großvaters, fühlten sich wie Fürsten des Lebens. Karl Twersten erhob sein Glas.

»Ich trinke das Wohl der beiden Hamburger Kinder, die sich das Glück nicht schenken ließen, die es sich durch eigene Besitzrechte erwarben. Es gibt kein Glück – oder es muß erkämpft werden. Wenn dieses Wort alle Nachfahren verstehen lernen, wird es wohl um uns stehen und wohl um unsere Vaterstadt, um unser Vaterland. Tragt euer Panier durch die Welt, soweit auf den Meeren die Hamburger Flagge weht. Auf euren Lebenssieg trinke ich, mit allen, die um mich sind, dieses Glas.« – Und alle, die um Karl Twersten waren, dachten mit glänzenden Augen des Sieges, den sie in ihrem Leben erstritten hatten, oder den sie zu erstreiten festen Willens geworden waren. – –

Es war die erste Sommerfahrt, die der Chef der Firma K. R. Twersten sich seit vielen Jahren gönnte. Die Ausspannung, fern von den Geschäften, tat ihm gut. Hatten doch die letzten Monate eine Fülle von Ereignissen gebracht, die bewältigt werden mußten, damit der zukunftsklare Tag in seine Rechte treten konnte.

Theodor Brambergs Kräfte hatten den April nicht überdauert. Von Nervi war seine Leiche nach Hamburg überführt worden, und auf dem frühlingsfrischen Friedhof von Ohlsdorf war der Unruhige zur Ruhe bestattet worden.

Es galt der verwaisten Firma den Chef zu geben. Von Frau Ingeborg kam die Anregung.

»Die Firma Vanheil ist zu eng für Robert. Seine Kräfte beanspruchen ein weites Feld mit einem unumschränkten Gesichtskreis. Und die Firma Bramberg und Co. würde unter seiner Führung einen neuen, großen Aufschwung erleben.«

»Einiges Kapital steht ihm heute zur Verfügung,« meinte Karl Twersten sinnend. »Aber die Haupteinlage bestände doch aus seinen Fähigkeiten.«

»Auch wenn er kein Kapital mitzubringen hätte, Karl – ich betrachte ihn als meinen Sohn und Erben.«

Sie sprachen noch mehrere Tage darüber und fanden, daß es ihr Lieblingsthema geworden war. Da baten sie Robert und Marga zu sich, und Frau Ingeborg erläuterte ihnen ihren Vorschlag, die Firma Vanheil als Nebenstelle in die Firma Bramberg aufgehen zu lassen, deren gesamte Leitung Robert Twersten zu übernehmen haben würde.

Ohne lange Überlegung griff Robert Twersten zu. »Wir sind es ja,« erklärte er Marga, »die die Reederei übernehmen, wir dehnen uns aus. So mußt du die Dinge betrachten. Die Firma Vanheil ist es, die sich zur Firma Bramberg erweitert. Denke dir den Stolz deines Vaters, wenn er das erreicht hätte!«

Da gab auch Marga nach, und ihr hanseatisches Kaufmannsblut fühlte nicht minder den Stolz.

Die Hochzeit Robert Twerstens und Marga Vanheils hatte stattgefunden. Sie blieben in Hamburg und widmeten ihre ganze Tatkraft den Aufgaben, die die neue Situation im Gefolge hatte. Bald schon, und Marga Twersten überließ mit glücklichen Augen dem Manne die Geschäfte allein.

»Es geht mit mir an die Sechzig,« sagte Karl Twersten, als er sich von seinem Sohne verabschiedete, um die Erholungsreise anzutreten. »Ich werde nun auch über die Nachfolge auf der Werft nachzudenken haben, wenn ich auch hoffe, noch für zehn Jahre das Steuer in der Hand behalten zu können. Immerhin – ich habe einen Plan, der mir des Nachdenkens wert scheint.«

»Komme in alter Frische wieder, Papa.«

»Das werde ich. Denn unsere Freundin Ingeborg wird mich überwachen.«

»Ich werde es ihr noch einmal besonders ans Herz legen, Papa.« An einem sonnigen Augustmorgen fuhren Karl Twersten und Ingeborg Bramberg über die See nach Gotenburg und weiter durch den Gotakanal nach Stockholm. Es lag ihnen nicht daran, rasch vorwärts zu kommen. Sie suchten die Ruhe und das Alleinsein in der Ruhe.

Die stark wirkenden Szenerien bei Trollhättan lagen hinter ihnen. Das Kanalboot glitt in stiller Fahrt durch die anmutreichen Lande Mittelschwedens. Sie standen an Deck und blickten in die sonnenbeschienene Welt.

»Das kann man nicht allein genießen,« sagte Karl Twersten.

Und Ingeborg Bramberg antwortete: »Das kann man nur mit dir genießen,« und suchte seine Hand und hielt sie.

»Nun fesselt uns kein Band mehr, als nur noch das unsere, Ingeborg.«

»Und dies Band ist keine Fessel und wird es niemals sein.«

»Ich habe dir noch nicht gesagt, daß Angèle sich wieder verheiratet hat. Sie ist schon längst die Frau eines höheren Beamten auf Kuba. Ich habe es Robert am Tage vor seiner Hochzeit mitgeteilt, und ich merkte ihm an, daß es ihm eine Beruhigung war.«

»So wollen auch wir ihr alles Glück von Herzen gönnen.«

Sie nickten sich zu, und ihre Gedanken nahmen einen anderen Flug.

Der Spätabend fand sie noch immer an Deck. »Fühlst du dich wohl, Ingeborg?« fragte er, und seine Stimme hatte einen besonderen Klang.

»Deine Liebe und Freundschaft ist mir doch die Welt.« »Ich könnte dich fragen, ob dir diese Stellung genügt? Ob du sie vor der Öffentlichkeit befestigt haben möchtest?«

»Befestigt –?« wiederholte sie und sah ihn an. »Gibt es denn etwas Festeres? Nein, Karl, das Verhältnis, in dem wir zueinander stehen, war nie für die Menge, und die Empfindungen, die wir füreinander hegen, haben es nicht nötig, nachträglich der Öffentlichkeit ein Schauspiel zu geben.«

»Du sprichst, was ich denke. Das alles gehört uns allein an.«

»So allein, Karl, daß keine anderen Augen unser Glück bespähen und aus dem Feiertagsraum auf den Werktagstisch legen sollen.«

»Das hat mich in schwerster Zeit über mich selbst erhoben und mich stark gemacht, dieses Bewußtsein, daß du mir den Feiertagsraum hütest.«

»Ich habe nie für deine Größe und Stärke gefürchtet,« sagte sie, und schüttelte leise den Kopf.

Er stand an der Brüstung des Bootes und schaute in Gedanken versunken in das Wasserspiel.

»Ich glaube, ich habe des Rätsels Lösung gefunden, Ingeborg. Wir Männer, die wir Kampfnaturen sind, brauchen jemanden, der unbeirrt an uns glaubt. Und das kann bei einem Manne nur eine Frau sein. Eine Frau, die uns so viel bedeutet, daß wir alle und alle unsere Kräfte spielen lassen, um ihren Gefallen zu erringen, ihre Bewunderung. Damit sie aus ihrem innersten Gefühl heraus das Recht gewinnt, sich zu sagen: Ja, er war meine Seele wert. Und ihre Hingabe adelt ihn wie mich.«

»Wir Frauen,« entgegnete die Freundin, »können das nicht in Worte fassen. Aber unser Leben danach gestalten, das können wir.«

Das Gewand mit Sternen geschmückt, zog die Nacht herauf. – –

Durch Stockholm waren sie gewandert und nichts wollten sie, als ihre Blicke schweifen lassen, während ihre Herzen sich nahe waren. Der Abend senkte sich über den Lärm der genußfrohen Stadt. Die Schären des Salzmeeres schwanden im Dämmerlicht, und über die glitzernde Fläche des Mälarsees spannte sich rote Glut.

Auf der Terrasse des Königsschlosses standen sie, die ein genialer Baumeister aus flacher Hand wachsen ließ, um dem Horst der Fürsten das Herrschergesicht zu geben. Und ihr Blick ging weit hinaus über die Stadt, die Gewässer des Meeres und des großen Sees.

Seltsame Stadt! Ein ewiges Hochzeitlager erscheint sie dem Auge. Aus südlichen Zonen kam der Genuß und vermählte sich mit der frischen Kraft des Nordens, die ihn lachend in die Arme nahm. Hin und her schießen die kleinen, weißen Dampfer, die von Stadtteil zu Stadtteil die Menschen tragen; und wo sie landen, ist ein selig Gestade.

»Wie sich alles drängt, dem Leben die Partie abzugewinnen,« sagte Karl Twersten, »und für jeden ist es ein anderes Spiel. Da soll man nicht Splitterrichter sein. Was wissen wir von all den Seelen!«

»Ein jeder glaubt, auf der rechten Fährte nach dem Glück zu sein,« erwiderte Ingeborg. »Und jeder glaubt den anderen auf der falschen.«

»Wo nähme die Welt sonst wohl ihre Spannkraft her,« meinte Twersten. Und sie standen und schauten, und sprachen ein Wort und wieder ein Wort, und ohne es zu wissen, hatte Twersten begonnen, die Werft in ihr Gespräch zu ziehen und seine Pläne zu entwickeln.

»Es sind grundverschiedene Naturen, die ich im Auge habe, aber wenn ich sie zusammenfasse, wird kein einseitiges Beharren und auch kein leichtfertiges Ungestüm Platz greifen können. Ich denke an meine besten Ingenieure, Feldermann und Fritz Vanheil. Und an Robert. Er wird in der Hauptsache die Reederei leiten. Aber er wird sie von Jahr zu Jahr vergrößern und einen neuzeitlichen Schiffspark auf der Werft bauen lassen, und dadurch, daß er Mitinhaber der Werft sein wird, soll es ihm leichter gelingen. So wird die Werft, wie ich es gewünscht habe, nicht nur den Namen, sondern auch den Mann Twersten behalten, wenn ich einmal nicht mehr da bin. Du weißt, daß ich meines Vaters und Großvaters wegen die Werft nicht in einem anderen Besitz als dem der Familie sehen möchte. Nun: Fritz Vanheil ist Roberts Schwager, und Feldermann wird, wenn mich nicht alles trügt, nicht weit davon ab sein.«

»Ich habe es seit langem bemerkt,« sagte Ingeborg und lächelte in die Ferne.

»Und behältst es für dich?«

»Haben wir nicht genug mit uns zu tun?«

»Liebe Frau,« erwiderte er nur. Und er fuhr fort, seinen Plänen Gestalt zu geben.

»Wenn ich wieder in Hamburg bin, werde ich Feldermann und Fritz Vanheil stärker in den kaufmännischen Betrieb einweihen, damit sie auch hierin selbständig werden, und nicht allein auf Robert angewiesen sind, der doppelte Lasten zu tragen haben wird.« »Du bist aber noch nicht in Hamburg, sondern du bist in Stockholm und auf einer Erholungsreise.«

»Verzeihe, Ingeborg. Ich muß mich wahrhaftig erst an die Ferien gewöhnen. Aber nun auch kein Wort mehr von Geschäften. Sieh, wie fahlgelb über der Altstadt der Mond aufgeht. Komm, der soll uns führen.«

Und sie verließen die Terrasse und überschritten die Straße, und waren im Häusergewühl der Altstadt. Was die großen Brände verschont, was die Spitzhacke der Menschen zu wertlos befunden hatte, hier stand es, engbrüstig, aneinandergepreßt, mit neugierigen Giebeln auf roten Bllcksteinmauern. Stand und wisperte miteinander, wenn das Mondlicht über die Dächer schmeichelte. Von Schwedens Großmachttagen, da rotes Gold floß und rotes Blut.

»Hier ist Stockholm,« sagte Twersten und ließ den Blick über den menschenleeren mondbeschienenen Großmarkt gleiten. »In den alten Bauwerken steckt die Geschichte eines Landes. Man sollte ein altes Bauwerk so wenig niederreißen dürfen, wie man ein Blatt aus dem Geschichtsbuch reißt. Der Phantasie eines Volkes müssen die Weideplätze erhalten bleiben, wenn sein Geist nicht auf den Tag zusammenschrumpfen soll.«

»Es ist gruselig hier,« flüsterte Ingeborg und schmiegte sich fester an ihn.

»Famos ist es! Auf diesem Platze ließ der zweite Christian den Adel köpfen. Schau, ist es nicht, als ob es an den alten Giebelfenstern wie Schemen huschte, die sich drängen und stoßen, und die langen Hälse recken, froh, daß auf ihren Hälsen nur Proletarierköpfe sitzen? Denn mit den vornehmen Köpfen geht der Herr Christian auf den Kegelschub. Er hatte ein königlich Gelüst nach gebeugten Rücken, und die Rücken der Stockholmer waren beängstigend steif. Da half er nach: Hut ab! Und saß der Hut zu fest, mochte der Kopf drin stecken bleiben. Hut ab! Das war ein Stück Arbeit. Zwei Tage brauchte das Henkerschwert. Die Hälse blieben steif, bis das Schwert die Wirbel durchfuhr.«

»Scheußlich!«

»Scheußlich? Doch Kerle, die Männer von damals! Und konsequent wie ihr König!«

Wohin sie gingen in diesen Tagen, überall empfanden sie den starken Gruß des Lebens. Selbst auf den Friedhöfen, in den Kirchen. Sie sahen die Bettler selbst vergnügte Gesichter ziehen, und auf den Bänken zwischen den Gräbern hockten zitterige Greislein und sonnten sich. Ein Händler ging von Bank zu Bank und verkaufte trockene Semmeln an die Alten. Ringsum ein Genießen, trotz der lastenden Hitze.

Unbeobachtet blieben sie stehen, und Ingeborg winkte mit den Augen hinüber. »Sieh dort die zitterigen Greislein, wie sie das Brot brechen, wie sie den trockenen Bissen kauen und schmecken, wie sie mit den Fingern auf die Bruchstellen deuten und sich gegenseitig die Güte ihrer Semmel loben! Vielleicht auch den Gütigen, der sie hier in der Sonne noch sitzen läßt. Sieh hin, wie sie sich freuen, daß sie leben, während um sie her die Toten liegen.«

»Es gibt nur diese eine Sonne,« sagte Karl Twersten still. »Und wenn sie sich neigt, möchten wir sie halten.«

»Noch halten wir sie, Karl, denn noch sehen wir sie.«

Zur Ridderholmskirche führte sie der Weg, zu dem grünen Marmorsarkophag, in dem ein Gustav Adolf seinen Weltentmum weiterträumt. Ein Mann nach Twerstens Herzen. Kaum, daß er dem gewaltigen Porphyrsarkophag Beachtung schenkte, in dem der Ahnherr der neuen Dynastie, einst Marschall Bernadotte geheißen, noch im Tode prunkt. Ein schwarzmarmorner Sarkophag zog ihn an. Eine goldglänzende Löwenhaut lag darauf und neben Krone und Zepter – das Schwert.

»Karl der Zwölfte,« sagte Twersten, »der deutsche Wittelsbach mit dem nordischen Wickingsblut.«

Lange betrachtete er des Helden letzte Ruhestatt.

»Wenn es lehrreich ist, Ingeborg, durch jahrhundertealte Straßen zu schreiten, so ist es lehrreicher noch, zwischen diesen Porphyr- und Marmorsärgen zu wandeln. Zeiten schlagen die Augen auf und wandeln mit. Und sie lehren uns: Nicht die Zeit gibt dem Mann, der Mann gibt der Zeit seinen Stempel – so er ein Mann ist!«

»Eine stolze Beruhigung für den, der sich als ganzer Mann fühlen darf.«

»Einst,« fuhr Twersten fort, »war Schweden eine Großmacht, nicht weil es Schweden war, weil es einen Gustav Adolf, einen Karl den Zwölften hatte! Die Großmachtstellung eines Volkes hing und hängt durch die Jahrtausende davon ab, wie der Führer sein Schwert zu tragen weiß! Das ist der Weisheit letzter Schluß!«

»Auch die Hansa weiß davon zu sagen.«

»Auch die Hansa! So lange sie das Schwert scharf hielt und den Unternehmerblick so scharf wie das Schwert, behauptete sie ihre Vorherrschaft auf den Meeren. Als der Geldbeutel prall war und der Tatendrang nachließ, kam auch schon der Verfall. Merkwürdig – da erinnere ich mich eines Gesprächs, das die Kinder hatten, als wir – wie lang ist es her, und doch ist es wie gestern – zum Stapelpellauf der ›Ingeborg‹ fuhren. Der ›Valdemar Atterdag‹ lag im Hafen, auf dem der alte Vanheil verfrachtete. Und Robert erzählte seinem Mädchen, daß er in Wisby gewesen sei, in Wisby, das einst als die Blüte der Hansa galt, bis Valdemar Atterdag kam und die hanseatische Üppigkeit in dänischen Kriegsschatz ummünzte. Und dann sprachen sie von dem Liebesvermögen des rastlosen Kämpfers, und dann – sah ich dich.«

»Damit also begann es,« sagte Ingeborg aus ihren Gedanken heraus.

»Ja, damit. Wie ich es deutlich vor mir sehe.«

Dicht nebeneinander schritten sie den Hafen entlang. Und unvermittelt fragte Ingeborg: »Wollen wir ihr einen Besuch machen, der alten Hansestadt?«

Am Abend schon fuhren sie nach Gotland, und wieder war es ihnen wie ein Gruß, daß der Dampfer ›Hansa‹ hieß, der die Meerfahrt machte nach der alten Märchenstadt, in der die sagenhaften Riesendiamanten und Karfunkel nicht mehr galten als Scheinwerfer für die Schiffer, in der selbst die Tiere aus silbernen Trögen fraßen, als noch die deutsche Hansa, die ›dudesche Hanse‹, mächtiger war im Norden denn die Könige von Schweden, Dänemark und Norwegen, und Wisby der Hansa Vormacht hieß.

Von Fels und Wald dunkel gegürtet, blinkten weiß die Gewässer der Schären. Im Wandelpanorama zogen sie vorbei, träumende Binnenseen, ungezählt. Verlassene Töchter des Ozeans, die sich mit sehnsüchtigen Armen umschlungen halten und nach der Brust der Mutter verlangen, dem Ostmeer, dessen Atemzug sie erschauernd empfinden.

Unruhig waren sie heute, die Töchter. Eine Welle, die sich vom offenen Meere her durch die Schären zwängte, hatte ihnen Kunde gebracht, daß die Mutter sich zum Tanzfest rüstete, daß sie sich den tollen Sturmwind zum Partner erkieste und ihm befahl, ihr einen Wolkenfetzen vom Himmel zu reißen, als flatternd Gewand für die schaumweißen Glieder. Mit angehaltenem Atem lagen die Töchter zwischen den Schären und lauschten der Mär. Ein Erzittern flog über ihren Leib und wollte sich nicht beruhigen.

Der wetterbraune weißbärtige Kapitän auf der Kommandobrücke der ›Hansa‹ hielt in seiner gleichmäßigen Wanderung inne, schob die Schirmmütze in den Nacken und lugte aus. Einen prüfenden Blick warf er auf seine Passagiere.

Ein Sprühregen ging nieder. Das Rot der Abendsonne, das die Anmut der Ufer und Inseln magisch umschmeichelte, schwand hinter einem feinmaschigen, grauen Nebelschleier. Gespensterhaft glitt ein Trutzturm vorüber. Fern am Strande blitzten und schwanden die Lichter von Dalarö. Und jäh war es Nacht.

Ins offene Meer hinaus arbeitete sich die ›Hansa‹, von Wogenungetümen umtanzt. Und irgendein Ungeheuer packte den Bug des Schiffes und galoppierte mit ihm durch die vor Wonne kreischende See.

Und die wilde Gemeinschaft des Himmels und des Meeres gebar einen stürmischen Tag.

Auf Deck stand Twersten und hielt Ingeborg fest im Arm.

Der Dampfer war im Hafen von Wisby, und sie kämpften sich gegen den Sturmwind an Land und erklommen die Berglehne. Unter ihnen breitete sich der alten Hansa Stolz, der alten Hansa Ende. Und die noch immer unüberwindlich scheinenden Stadtmauern und Türme redeten zu ihnen von der angestaunten Kraft, die erhabenen Tempelminen von dem märchenhaften Prunk und Reichtum der einstmaligen Hansestadt, in der die Männer, die Kaufherren und Seefahrer, wie Fürsten gekleidet einherschritten, die Frauen an goldenen Spindeln spannen, der Wein aus faustgroßen Edelsteinen getrunken wurde. Bis Valdemar Atterdag kam.

»Die Leute von Wisby,« sagte Twersten, »hatten vergessen, was Atterdag hieß. Sie lebten in den Tag und nicht für den Tag, und ließen das Morgen Morgen sein. Kaufmannsart will andere Rechnung.«

»Heute wie einst,« warf Ingeborg ein.

»Der Dänenkönig,« fuhr Twersten fort, »kam wie ein Kaufmann in die Stadt, und ein heißblütiges Goldschmiedstöchterlein wurde seine Buhle. Königsgelüste schmeichelte er dem Dirnchen ins Hirn. Und sie öffnete ihm, als er in einer Sturmnacht mit seinen Schiffen wiederkehrte, heimlich ein Mauerpförtchen; und ein paar tausend Männer von Wisby erschlug Valdemar Atterdag und die Seinen zur Feier der Hochzeitsnacht. Es ist wahr, nichts vergaß er, als er heimwärts gen Dänemark segelte – nur die Königin der einen Nacht.«

Und während sie die Stadt umkreisten, und die Ruinen der Dome und Schlösser mit Gestalten füllten, sprachen sie von den Verpflichtungen des ererbten Blutes, des ererbten Namens. Wieder waren sie an den Strand verschlagen, und während Wind und Wogen wie Tigerkatzen sie ansprangen, deutete Twersten über die See.

»Einen Namen stützen und nicht davon zehren! Das ist das gleiche bei Königen und Kaufleuten. Da sieh den Nachfahr Valdemar Atterdags, den Theaterkönig Erik der Pommer, wie er auf segelüberladener Snigge in den Hafen Wisbys flüchtet! Was nach des Störtebekers Tod an seefestem, Gott und die Welt verhöhnendem Gesindel übrig geblieben war, sammelte der alternde Erik um sich und gründete das Königtum der freien See. Und Wisby, das einst so stolze, wurde zum Hamsterbau, bis die wütenden Lübecker der dänisch gewordenen Seeräuberstadt selbst den Gnadenstoß gaben. Nach Wisby sollte man die hanseatische Jugend führen, Ingeborg. Sie sparte die halbe Lehrzeit.«

Sie preßte seinen Arm und unterbrach ihn nicht.

»Der alten Hansa Stolz und der alten Hansa Ende. Aber die Verpflichtungen für die neue bleiben. Wenn auch mit anderen Waffen, auf anderen Wegen. Der alten Hansa neue Größe!« –

Früh kam der Abend. Der Wunderbau von Sant Karin, die Schwesterkirchen Sant Lars und Sant Drotten, die gewaltigen Rundbögen von Sant Nikolaus, sie alle und die Ruinen der zahlreichen Kirchen und Türme geisterten durch die Nacht und sahen aus hohlgewordenen Augen dem kommenden König der See entgegen. –

Der Dampfer kreuzte zum Hafen hinaus. Draußen lauerte das Meer und warf sich mit einem Freudenschrei auf das kühne Schiff. Auf der Kommandobrücke stand wie aus Erz gegossen der Kapitän, das Sturmband der Mütze unter dem weißbärtigen Kinn. Jetzt gewahrte er Twersten. Lachend winkte er ihm zu und wies auf die brausende See.

»Meine schlimmste Fahrt!« schrie er durch die hohle Hand. »Aber auch meine schönste!« Und plötzlich packte Twersten ein seltsam Gefühl. Ein Gefühl, unbenannt, und unbekannt: woher. Das wie eine Erbschaft aus wilden Urväterzeiten irgendwo im Blute sitzt und plötzlich, bei losbrechendem Unwetter, nicht minder losbricht und in den Sturm hineinjubelt: »Heraus und heran! Solange ich atmen kann, bin ich der König! Mein ist das Leben!«

Und Ingeborg las es in seinem Gesicht.

»Ich bin mit dir,« sagte sie mutig.– –

Und dies Gefühl trugen sie heim von der Erholungsfahrt.

Ein Herbsttag war es, in aufleuchtenden Farben. Sie fuhren in die Elbe ein und sahen die Schiffe, ungezählt, kommen und gehen. Alles war Leben, wohin der Blick sich wandte. Das reiche Leben des Herbstes. –

Und sie blickten sich an und fanden sich schön und liebenswert wie am ersten Tage.– –

In schweigender Freude reichten sie sich die Hände.

Auf dem Wasser des starken Stromes schimmerten die Lichter Hamburgs.– – –


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