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9

Tagaus, tagein stampfte die Dampfmaschine, glühten die Öfen, donnerte der schwere Hammer. Tagaus, tagein arbeiteten alle Hände an Tiegel, Gußform und Amboß, um die liegengebliebenen Bestellungen auszuführen, die verlorene Zeit einzuholen, freie Bahn zu schaffen für die Fülle des Neuen, das sich draußen in der Welt ankündigte. Der junge Ingenieur Ungemach, den sich Fritz Stoltenkamp verschrieben hatte, erwies sich als ein Mann nach seinem Herzen. Wortkarg, aber unverdrossen und von schneller Fassungsgabe, wußte er sich ohne Zögern in die rastlose Gedankenarbeit des Werkherrn hineinzufinden und ihn nicht minder am Zeichenbrett und den sich drängenden neuen Versuchen zu unterstützen. Immer reiner wurde der erzeugte Werkzeugstahl, und wenn dem englischen Wettbewerb immer noch der Löwenanteil des deutschen Bedarfs zufiel, so war es weniger die Güte des Stahls als der billigere Herstellungspreis, der den Ausschlag gab. Und Fritz Stoltenkamp wußte wohl, daß dem Engländer durch eine uralte Eisenindustrie, mehr aber noch durch unübertreffliche Eigenschaften des Rohmaterials als gereifte Frucht in den Schoß fiel, was er sich selber erst durch mühsame und kostspielige Versuche erwerben mußte, die seine Erzeugnisse erheblich verteuerten. »Käm ich nur hinter das Geheimnis ihrer Bezugsquellen,« sagte er oft zu Ungemach, »dann wären sie geliefert.« Und der Ingenieur erwiderte: »Sie müssen den Löwen in seiner Höhle aufsuchen, Herr Stoltenkamp.«

»Glauben Sie, daran hätte ich nicht schon gedacht? Seit zehn Jahren lerne ich Englisch und spreche es heute so gut wie Deutsch. Zuerst lernte ich es auf meiner Dachstube, später auf den langen Fahrten in der Postkutsche, und dann kam das Französische mit an die Reihe, das mir heute auch ziemlich geläufig ist. Sie sehen also, ich bin für jeden Fall vorbereitet. Fragt sich nur, ob die Brüder mir ihr Geheimnis gutwillig auf die Nase binden.«

»Wie ich Sie kenne, Herr Stoltenkamp, wird Ihnen das ziemlich gleichgültig sein.«

»Das stimmt, Ungemach. Aber das Werk kann jetzt, in der Übergangszeit, auch nicht auf eine Hand verzichten.«

»Wir wollen uns beeilen, daß Sie die Hände frei kriegen, Herr Stoltenkamp.«

Das taten sie Tag um Tag, und an Tiegeln und Schmelzöfen lernte der Schmelzer Poensgen die neuen Arbeiter an, und am neuen Reckhammer stand der lange Haniel und erteilte durch den Donner der Hammerschläge mit Kürassierstimme seine Befehle. Meister Frowein aber war überall, wo man ihn nicht vermutete, und wo man ihn vermutete, da war er gerade gewesen. »Ordnung halten! Sachen sauber halten! Oder soll ich euch erst mal zum Traualtar schleppen lassen, damit ihr den Arbeitstag über den Feierabend stellt! Wie? Ja, da können sie plötzlich schuften, die Feiglinge.«

Auch Eberhard Stoltenkamp blieb eine Zeitlang bei der Stange. Die Anwesenheit Ungemachs spornte ihn an. Er wünschte sich nicht durch die Fähigkeiten eines anderen übertrumpfen zu lassen.

Die umfangreichen Walzenlieferungen für die süddeutschen Gold- und Silberwerkstätten waren zu ihrem größten Teil ausgeführt. Glashart und spiegelblank ging jedes Stück hinaus, erregte Bewunderung und zog den Kundenkreis weiter. Bayern hatte dem verwandten Griechenland die unbedingt verläßlichen Münzstempel empfohlen, und zu den griechischen Aufträgen gesellten sich bald die der holländischen Regierung und der ostindischen Kolonien. Die südamerikanischen Länder folgten, und die Ausfuhr hob an, als im deutschen Vaterlande immer noch zuerst nach dem Preis und dann erst nach der Güte gefragt wurde. Fritz Stoltenkamp aber begann mit Feuereifer den Guß einzelner Maschinenteile. Hier winkte ein Zukunftsfeld. Und er wollte die Sense schärfen.

Das neue und geräumige Wohnhaus war nun längst bezogen. Die einfach und gut bürgerlich hergerichteten Zimmer hatten auch die Einrichtung des alten Hauses unter sich verteilt. Nur das Arbeitszimmer war auch hier getreulich in der alten Form wieder hergestellt worden. Frau Margarete saß wie immer am Schreibtischplatz dem ältesten Sohne gegenüber, wenn Fritz Stoltenkamp zur Erledigung besonders wichtiger Briefschaften hereinkam.

»Fritz,« sagte Frau Margarete, als nun ein Jahr und mehr die Dampfmaschine stampfte, »Amalie hat ihre Aussteuer fertig genäht, der junge Grote steckt sich hinter mich, die beiden machen lange Gesichter. Du bist das Familienoberhaupt, Fritz.«

»Sie müssen sich noch ein wenig gedulden, die beiden. Die Hauptsache ist doch, daß sie wissen, sie haben sich lieb.«

Frau Margarete blickte ihren großen Jungen lächelnd an, so lange, bis er unter ihrem Blick errötete.

»Was ist denn, Mutter? Hab ich eine Dummheit gesagt?«

»Du großer Junge,« und sie schüttelte immer noch lächelnd den Kopf, »ich glaube wahrhaftig, für dich würde es genügen, und du würdest dich sehr glücklich dabei fühlen. Andere Leute aber denken anders und wollen ihre Liebe – wie erklär ich es dir nur – in die Ehe hineinsteigern, ganz eins werden in Rechten und Pflichten. Sie wollen ihre eigene Familie bilden und sich unabhängig von anderen Liebes und Ernstes sagen können, wann sie der Geist treibt, und – und – es ist wirklich schwer, Fritz, dir eine erschöpfende Erklärung dafür zu geben.«

Fritz Stoltenkamp hatte die Feder hingelegt. Den Kopf in die Hände gestützt, saß er am Arbeitstisch und starrte geradeaus.

»Ich versteh dich ganz gut, Mutter. Und – und – Amalie und Walter Grote versteh ich auch. Ich hatte nur gedacht, wir wären – alle miteinander – zuerst – mit dem Stahlwerk verheiratet. Wohl, weil ich für meine Person dem alles unterordne. Man soll eben nicht von sich auf andere schließen. Man soll nicht verallgemeinern. Ich begehe darin gewiß manche Dummheit, Mutter. Na, sehen wir zu, wie wir die langen Gesichter wieder in eine vergnügtere Breite ziehen.«

»Wird's dir schwer, Fritz?« fragte Frau Margarete weich.

»Sehr schwer, Mutter. Immer, wenn ich glaube, einen Gipfel zu haben, ist es nur ein Vorberg. Mach keine traurigen Augen. Wir werden auch über diesen Vorberg schon hinwegkommen, Mutter. Kannst du uns den heimlichen Schmachtriemen noch etwas enger ziehen?«

»Ich kann alles,« sagte die tapfere Frau.

»Hör mich an, Mutter. Es ist noch nicht die Hälfte des Groteschen Geldes, das ich in diesen anderthalb Jahren habe zurückzahlen können. Trotzdem ich kaum einen Pfennig Betriebskapital zurückbehalten habe. Trotzdem ich für vieles, vieles und nicht zuletzt für große und wichtige Reisen das Geld dringend benötigte. Aber Mutter« – er holte den Atem tief aus der Brust – »die Tochter der Frau Stoltenkamp, Mitinhaberin des Stahlwerks Friedrich Stoltenkamp, soll nicht in eine Familie hineinheiraten, der wir verschuldet sind. Wir verkaufen Stahl, aber keine Mädels. Ob das übertrieben ist, ist mir einerlei. Wenn ich erst wieder glatt bin und die neuen Unterlagen danach sind, nehme ich auch wieder Geld vom Schwager, soviel ich brauche. Eher nicht. Ich bin kein Springer, Mutter. Ich gehe meinen festen Weg.«

»Also noch ein weiteres Wartejahr,« sagte Frau Margarete still.

»Mutter. Erscheint dir das wirklich so schwer für Amalie? Ja, ja, ihr Frauen denkt darin anders als wir. Ihr seid die glücklicheren Naturen. Könnt ich's doch auch sein. Siehst du, da gerate ich wahrhaftig auch schon in den Tiefsinn, ohne euch herausgezogen zu haben. Also, Mutter, ich werde das Jahr abkürzen.«

»Du kannst es, Fritz?«

»Ich kann die alte Mühle verkaufen. Das Grundstück stammt nicht aus Großmutters Erbe, für das ich mich verpflichtet habe, und es liegt so weit aus dem Wege, daß es für die Fabrik nie wieder in Betracht kommt. Ich wollte den Erlös in den Stahl stecken, der nach jedem Groschen seufzt. Nun wollen wir ihn in Eiderdaunen stecken, da danach doch noch starker geseufzt zu werden scheint.«

Er schob den Stuhl zurück und ging zur Tür. Auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um. Ernst und ruhig. »Und was ich dir vorhin von dem heimlichen Schmachtriemen sagte, Mutter, das stärkere Anziehen, das muß nun, leider, zur Wahrheit werden. Nur deinethalben sag ich ›leider‹, Mutter. Du zu Haus, ich in der Fabrik. Denn nun ist fürs erste kein Taler Betriebskapital mehr flüssig zu machen, und wir müssen uns mit Gottes und unserer eigenen Hilfe durchschlagen, bis für die neuen Aufträge wieder Bargeld hereinsickert.«

»Es wird schon gehen, Fritz,« bekräftigte Frau Margarete und hatte einen ganz hellen Schein in den Augen.

»Ihr Frauen, ihr Frauen,« murmelte Fritz Stoltenkamp, »was ihr nicht alles um der Liebe willen könnt.« Und er ging hinüber ins Maschinenhaus, Ungemach und Frowein aufzusuchen, und von dem hellen Schein war auch in seinen Augen.

In dem neuen Wohnhaus wurde die Hochzeit gerüstet. Das Mühlengrundstück samt den Gebäulichkeiten war verkauft, der Betrag als letzte Ablösung an den erstaunten Ohm Grote gewandert.

»Ihr macht jetzt wohl Gold statt Stahl?«

»Zu Trauringen, Ohm Grote.«

Da verstand der alte Fuchs.

»Stolz wie ein Stoltenkamp.«

»Daher der Name, Ohm Grote. Die stolzen Eichenkamps, in denen die Höfe meiner Vorvoreltern lagen, beugten sich keinem Windstoß. Der machte sie nur wetterfester, Ohm Grote. Fest wie Gußstahl.«

»Stolz, ja. Aber satt scheint der Gußstahl nicht zu machen. Du wirst immer schmächtiger, Fritz.« –

Die Hochzeit wurde im engsten Kreise begangen. Keine fremden Gäste waren geladen, trotz Eberhards eifriger Fürsprache. Amalie erklärte, auch ohne Hochzeitsmahl glücklich werden zu können, und war mit ihren Gedanken schon in ihrem neuen Heim, in dem alten Ruhrstädtchen aus Kaiser Karls des Großen Zeiten. Doch es war nicht die ehrwürdige Vergangenheit, die sie lockte, es war die werktätige Gegenwart, und schon hatte der alte Grote trotz langen Widerstrebens den Sohn mit Sitz und Stimme als gleichberechtigten Teilhaber anerkennen müssen.

»Ich hab den gerichtlichen Akt zweimal durchgelesen,« erzählte der Alte augenzwinkernd beim Hochzeitsmahl. »War mir doch immer, als hätt der Schreiber ›Amalie‹ geschrieben statt Walter Grote. Und ich glaub's immer noch.«

Dann waren sie alle drei abgefahren, der Ohm Grote und das junge Paar. In einer Kutsche, die von den schönsten Rappen des Ohms gezogen wurde. Denn jetzt hatten die Grotes das Wort. Als Frau Margarete die Tochter beim Abschied in die Arme schloß, wehrte Amalie jeder weichen Stimmung. »Aber Mutter, dazu liegt doch kein Grund vor. Wir gehen doch nicht aus der Welt, und die Kohlen bezieht ihr doch von unserer Zeche.«

Da trocknete Frau Margarete schnell die feuchtgewordenen Augen und dachte: Sie ist wieder die alte Amalie, und nur der Liebeslenz hatte sie das Singen gelehrt. Davon wird sie nur die Oberstimme mit in die Ehe nehmen.

Die Zeit des heimlichen Sparens begann. Die Zeit, in der Frau Margarete und Fritz Stoltenkamp dreimal den Taler in der Hand herumdrehten, bevor sie ihn wechseln ließen, während die Fabrik dastand wie ein blitzender Schmuckkasten und den Gaffern in die Augen stach. Die Zeit, in der Frau Margarete und Fritz Stoltenkamp bei Tisch aneinander vorüberblickten, um nicht sehen zu müssen, daß sie ein wenig hohlwangig geworden waren, während Eberhard kopfschüttelnd und grollend in Speisen stocherte. Die Zeit, in der Fritz Stoltenkamp bei Eintreffen einer jeden Postsendung hastig auffuhr, in der Hoffnung, es könnte eine Geldsendung angekommen sein. Und die heimlichen Sorgen wuchsen, weil sie sich an sich selber nährten und sich nicht äußern und im Wechselgespräch zerflattern durften, und sie drohten, alle Freude und alle stille Herzensheiterkeit zu zerstören.

Es war im Winter, und die Arbeiter saßen beim Nachmittagskaffee im warmen Kesselhaus, während in den Betrieben längst die Öllampen flackerten. Fritz Stoltenkamp machte allein seinen Rundgang. Da gewahrte er eine Frauengestalt, die sich an den Lampen zu schaffen machte, und sie ging von einem Arbeitsraum in den anderen und steckte die Dochte tiefer herunter, damit sie sparsamer das Öl verbrauchten.

»Mutter,« sagte er ganz überrascht, als sie in einer langen, grauen Kittelschürze vor ihm stand, die all ihre Zierlichkeit entstellte. »Mutter, was tust du denn hier im Betrieb?«

»Die Leute verstehen nicht, mit dem Öl umzugehen, Fritz. Ich sehe allabendlich nach und erspare eine ganze Menge.«

»Wie siehst du denn aus, Mutter? Ich kenne dich ja gar nicht wieder?«

»Du siehst mich wohl weniger an als früher oder doch weniger scharf, Fritz. Ich muß meine Kleider schonen, und anders laßt das meine Arbeit nicht zu, als in der Vermummung.«

»Nein, nein, nein,« stieß er hervor. »Das nicht. Das nicht.«

Er hatte das Gesicht zur Seite gewandt, damit sie nicht darin lesen sollte. Nun war er wieder gesammelt und wandte sich ihr zu.

»Geh jetzt hinein, Mutter. Bitte, tu es. Die Leute können in jedem Augenblick zurückkommen. Ich mache heute früher Feierabend und bleibe dann bei dir.«

Und eilends schritt er weiter und streifte durch das ganze Werk und murmelte nur immer: »Das nicht. Das nicht.«

Er trat bei Ungemach ein und fand den Ingenieur über den neuen Maschinenentwürfen.

»Ist mein Bruder nicht hier?«

»Soeben in die Stadt gegangen. Wollte sich anderes Zeichenpapier aussuchen.«

Fritz Stoltenkamp zuckte die Achsel. Heut war es ihm recht. »Es ist gut, daß wir allein sind. Ich möchte einmal im Vertrauen mit Ihnen beraten. Der Betrieb fängt wieder an zu schleppen, Ungemach. Und wir könnten ihn dreimal so stark ausnutzen.«

»Das könnten wir, Herr Stoltenkamp. Wir brauchten nur zu wollen.«

»Zu wollen. Da sprechen Sie mir aus der Seele. Das ist ganz mein Fall. Aber will ich vielleicht nicht?«

»Wenn wir nun die weniger einträglichen Arbeiten, die noch zu viel kostspielige Versuche erfordern, für einige Zeit beiseite stellten und lediglich das arbeiteten, was uns keiner nachmacht: Walzen, Lahnwalzen, Stempel. Das aber im großen, Herr Stoltenkamp. Kein Auftrag darf an uns vorübergehen. Da arbeiten wir sozusagen maschinenmäßig, ohne Unterbrechung, von einer Hand in die andere, jeder an seinem Teil. Wie in einer Kette. Das schafft.«

»Meine Pläne gingen nach einer ganz anderen Richtung, Ungemach.«

»Sie holen es leicht nach, Herr Stoltenkamp. Wir sprachen doch schon einmal von einer Reise nach England, um den billigen Lieferungen und Unterbietungen auf den Grund zu kommen. Mit der einen Reise holen Sie das ganze Versäumnis nach – Sie, kein anderer – und inzwischen haben wir hier durch den Massenbetrieb des Kleinkrams, der Ihnen jetzt lästig erscheint, die freie Bahn geschaffen.«

»Ja, ja, Ungemach. Das leuchtet mir ein. Vom Kleinen zum Größeren, so hab ich's immer gehalten. Nur daß ich dachte, ich wäre nun endlich beim Größeren. Aber Sie haben recht. Zähne zusammen. Besser als ins Aschgraue springen.«

Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu dem Ingenieur an den Zeichentisch. Nur noch ruhige Überlegung.

»Ich will den Eberhard einmal auf die Reise schicken. Luftveränderung wird ihm ohnedies gut tun. Er ist ein unruhiger Geist und in der Welt draußen vielleicht besser zu gebrauchen als hier im Käfig. Er kann nach Süddeutschland gehen, die alte Kundschaft besuchen und neue gewinnen. Ich schlag da zwei Fliegen mit einer Klappe, denn die alten Kunden werden dadurch an ihre Zahlungen erinnert und rücken einem Stoltenkamp gegenüber eher mit den Beträgen heraus als einem Vertreter, dem es nur um die Vermittlergebühr für neue Aufträge geht. Er kann von Bayern aus Osterreich besuchen und die Schweiz und die französische Münze in Straßburg, zu der wir die Verbindungen schon angeknüpft haben. Gut. So wird's gemacht. Ich werde alles vorbereiten.«

Noch einmal schritt er durch die ganze Fabrik. Dann ging er hinüber ins Wohnhaus, kleidete sich um und suchte die Mutter auf.

Frau Margarete saß am Schreibtisch vor den Büchern. Sie hatte die graue Kittelschürze abgelegt. Sein erster Blick sah es, und sie sah, ohne aufzuschauen, seinen Blick.

»Gott sei Dank, Mutter,« sagte er erleichtert, trat hinter ihren Stuhl und nahm ihr sanft die Feder aus der Hand. »Nicht wahr, Mutter, und das tust du mir nicht mehr an, daß du dich so entstellst. So arm sind wir nun doch nicht.«

»Ach, Fritz,« entgegnete sie leise und schloß die Augen, »auf das bißchen Kleidung kommt's doch wirklich nicht an.«

»Doch, Mutter, doch. Es kommt mir sogar außerordentlich darauf an. Wie war's denn beim Vater? Hast du dich denn für den Vater nicht auch immer geschmückt an Leib und Seele, nur damit er wissen sollte, wie reich er in allen Nöten sei? Und für deinen Sohn willst du das nicht? Und glaubst, für den Jungen war das nicht nötig? Mutter,« sagte er hart, »du bist mein ganzer Reichtum. Den laß ich mir nicht plündern. Auch von dir nicht. Wenn ich dich nicht mehr so schön und fröhlich sehen kann wie früher, dann pfeif ich auf alles. Dann hab ich vorbeigespielt.«

»Fritz,« sagte sie, »Fritz.« Und dann hob sie die Arme und zog seinen Kopf auf ihre Schulter hinab.

»Fritz, kann ich denn noch einem ein Freund sein? Ich dachte, das wäre nun auch vorbei.«

»Mutter! Du willst wohl Schmeicheleien hören? Ich will dir mal etwas verraten. Du bist nur siebzehn Jahre älter als ich, siebzehn kleine Jährchen, und so müssen wir schon zusammen alt werden.«

Sie nestelte ihren Kopf ganz dicht an den seinen. »Das hat mir lange gefehlt, Fritz –«

Da tat Fritz Stoltenkamp einen Schritt weiter in der Erkenntnis der Frauenseele. Er, der erst so wenige Schritte darin getan hatte. – –

Frau Margarete huschte nicht mehr in der Dämmerung wie ein grauer Falter durch die Fabrikräume, um die Dochte der Öllampen zu kürzen. Sie sah auch nicht mehr bei den einfachen Mahlzeiten an dem Sohn vorüber, als ob sie ein schlechtes Gewissen hätte. Sie trug wieder geblümte Kleider und einen lustig sich bauschenden Rock, und ihre Augen glänzten und lachten, wenn der Sohn sie bei beiden Händen nahm. Als wäre ein Strom von Leben in sie zurückgekehrt, so war ihr, seit sie wieder an den Wert ihres Wesens glauben durfte, und das Haus bekam davon ab, und die Zimmer und Kammern waren voll Licht und Duft wie einst.

Und Fritz Stoltenkamp merkte bald, wieviel auch er davon abbekam, seine alte Spannkraft war zurückgekehrt und sein ganzer Zukunftsglaube. »Man braucht sich nur selber in die Asche zu legen, und man sieht alles grau,« gestand er sich. Und nun legte er sich nicht mehr in die Asche, sondern lief zur Mutter, wenn ihn etwas drückte, und ließ sich »hellbrennen«. – –

Eberhard war auf der Reise. Er hatte erst gestutzt und Einwendungen erhoben, nach ein paar Tagen aber erklärt, es sei der erste Schritt zur Selbständigkeit. Die erste größere Zahlung, die einlief, wurde von Fritz Stoltenkamp zur Reisekasse geschlagen, und Eberhard fuhr übermütig gen Düsseldorf, um von dort mit der Schnellpost weiterzureisen.

»Er ist mit seiner Keckheit und seinem Humor der geborene Geschäftsreisende,« räumte Fritz Stoltenkamp freimütig ein, als jede Post die Bestellzettel ins Haus trug. »Dazu seine unstreitbar großen Fachkenntnisse und die Gabe, sich in jede fremde Maschine sofort hineinzuleben. Gottlob, daß ich ihn draußen hab.«

»Du solltest auch einmal wieder hinausgehen,« munterte ihn Frau Margarete auf. »Jugend will wechselnde Bilder.«

»Später, Mutter. Wenn Eberhard zurück ist und alle Schornsteine rauchen. Dann will ich einmal nach England hinüber und dem alten Nebenbuhler in die Karten sehen. Jetzt heißt es, fein stillhalten.«

»So fahr doch hin und wieder einen Tag zur Ausspannung nach Düsseldorf. Du hast doch alte Schulkameraden dort. Den Leutnant Moldenhauer von der Artillerie und den lustigen Maler Kröger. Es frischt auf und kommt der Arbeit zugute.«

»Wenn du mitfährst, Mutter.«

»Junge,« sagte Frau Margarete, »ich glaube, du denkst, ich spreche für mich. Ich denke zwar reichlich viel an mich, aber diesmal nur allein an dich. Männer müssen auch einmal andere Gesellschaft haben als die tagtägliche. Wir bekommen schon unseren Teil davon mit, wenn ihr fröhlich heimkehrt.«

»Ich könnte wirklich einmal den alten Noelle wieder aufsuchen,« meinte Fritz Stoltenkamp nachdenklich.

»Den alten Noelle!« rief Frau Margarete. »Den Düsseldorfer Münzwardein! Ich seh es deinem nachdenklichen Gesicht schon an, wie ihr da über die Geschäfte reden werdet! Zu deinen lustigen Altersgenossen sollst du, und wenn der Weg zu ihnen nur über den treuen alten Noelle führt, so soll's mir auch recht sein.«

»Nur über den alten Noelle,« lachte Fritz Stoltenkamp. »Mutter, die Unkosten müssen herauskommen.«

Und dann saß er an einem schönen Vorfrühlingstage beim alten Noelle am Düsseldorfer Hofgarten und besprach mit dem getreuen Freunde vom Vater her das Werden und Wachsen der Gußstahlfabrik und sein großes Planen für die Zukunft. Der alte Münzwardein schenkte ein Gläschen Rheinwein ein. Auf dem Kanapee und den Polsterstühlen prangten kunstvoll gearbeitete Schoner, die einen Cupido zeigten oder eine griechische Tänzerin. Am Fenster schwang sich leise ein blitzblanker Vogelbauer, und der Kanarienhahn darin schmetterte unermüdlich in die Unterhaltung hinein.

Und der alte Noelle riet ab, auf die große Zukunft zu bauen, wie es leider der Herr Vater auch getan hätte, und riet sehr, sich an die kleinere, aber sicherere Gegenwart zu halten, und bat seinen Besucher, sich freundlichst einen Auftrag auf Münzstempel für die Düsseldorfer Münze zu bemerken, den er eigens zurechtgelegt hätte, um dem lieben Geschäftsfreund eine kleine Freude zu bereiten.

Der Wein duftete, der Kanarienvogel sang, und es war sehr gemütlich bei dem alten Herrn. Zu gemütlich, dachte Fritz Stoltenkamp. So weit bin ich noch nicht, um schon auf so viel Gemütlichkeit ein Anrecht zu haben. Und dann verabschiedete er sich in herzlicher Dankbarkeit und stand im knospenden Hofgarten.

Auch heute wieder ging ihm der Vorfrühlingstag ins Blut. Er schlenderte zwischen den hohen Bäumen einher, sah den schönen Frauen zu, die in der jungen Sonne lustwandelten, und den Reitern, die nach ihnen ausblickten und ihre Pferde steigen ließen, um die Aufmerksamkeit der Schönen auf sich zu lenken. Er hätte gern mitgetan, dachte er, und der Gedanke führte ihn zurück zu seinem altgewordenen Rößlein und seinen Ritten nach dem Hammerwerk, und vom Hammerwerk war es nur ein Schritt zum Stahlwerk, und er dachte, was sie jetzt gerade dort schaffen würden. Er zog die Uhr. Sollte er denn wirklich die alten Kameraden aufsuchen? Die Verbindung war doch recht locker geworden. Also gut. Auf ein Stündchen oder zwei. Mutter zuliebe.

In der Altstadt fand er nach einigem Suchen das Haus, in dem Jan Kröger seine Malerwerkstatt aufgeschlagen hatte. Unter den Fenstern floß breit und ruhig der Rhein gen Holland. Flache Ufer mit sprießenden Wiesen begrenzten den Strom. Und Fritz Stoltenkamp verwunderte sich, wie bei diesem Ausblick die romantischen Rheinbilder entstehen könnten, die Jan Kröger einen frühen Ruf gebracht hatten. Vielleicht führte doch der Freund ein reicheres Innenleben, als er es wissen ließ.

»Herein!« rief eine grobe Stimme aus dem Zimmerinnern. Ein Gepolter, und der Türriegel schob sich lässig zur Seite. Jan Kröger stand, die Palette auf dem Daumen, in buschigem Bart und fleckiger Samtjacke breit im Eingang und beäugte den Gast.

»Gottvater,« rief er, »aus solchen blauen Augen blickt kein Manichäer! Fort mit dem weichlichen Quark der Palette! Sei mir gegrüßt, rauher Gußstahl der Heimat!« Und er schleuderte die Palette auf einen zerschlissenen Damaststuhl, zog den Freund ins Zimmer und trieb den Riegel vor. »Stoltenkamp, willst du ein Bild? Was, Geld hast du nicht? Nun, so werde ich mit dir teilen wie der Blinde und der Lahme. Die Lorelei kann dir einen Schnaps kredenzen.«

»Die Lorelei?«

Jan Kröger deutete mit gerecktem Arm auf das Staffeleibild. Da saß die Zauberjungfrau Lorelei auf nacktem Felsen und bedeckte ihre Blöße notdürftig mit goldenem Haar.

»Setz dich, mein Junge, damit es dich nicht umschmeißt. So, und nun sollst du einmal den Vergleich anstellen. Komm herein, deutsches Dichterlied! Und vergiß mir den Schnaps nicht.« Und er rieb sich die Hände.

Betroffen blickte der Besucher auf die Tür, die in ein Nebengelaß führte. Ein Mädchen trat ein, in eine bunte Tischdecke gehüllt, in gelöstem Haar und auf nackten Füßen. »Das gnädige Fräulein Lorelei,« stellte Kröger mit einer runden Handbewegung vor. »Setz den Schnaps auf den Stuhl, mein Kind, und gib Onkel ein Händchen. Auf Küßchen scheint er keinen Wert zu legen. Na, denn nicht.« Er klopfte ihr gemütlich eins hintenauf. »Troll dich, mein Engel.«

Und der Engel trollte sich mit einem großen Blick auf den schlanken Fremden.

»Entschuldige,« sagte Jan Kröger und schenkte ein, »ich hatte nicht daran gedacht, daß du ein Frauenfeind bist. Die meine ist gerade nicht zu Hause.«

»Du bist verheiratet?« staunte Fritz Stoltenkamp.

»Köstlich, kann ich dir sagen. Und ein Wunderkind habe ich auch. Leckt bereits Ölfarbe und trinkt Terpentin. Natürlich heißt er Peter Paul wie weiland der saftige Rubens. Soll uns die Jungfrau Lorelei noch ein Schnäpschen bringen?«

Fritz Stoltenkamp dankte. Er sei nur zu einem Gruß heraufgekommen, und um die Adresse des Leutnants Moldenhauer zu erfragen.

»Der Moldenhauer wohnt neben der Artilleriekaserne. Schade, daß ich dich nicht begleiten kann. Er ist in seiner Waffe nämlich ein ganz gescheites Luder geworden und auch sonst nicht ohne. Wir mußten ihm aber seit kurzem den Brotkorb höher hängen.«

»Wir?«

»Wir Künstler natürlich. Er war immer zur Stelle, wenn wir einen holden Unfug begingen, aber stets mit so einem Tick im Gesicht, als ob er sich eine Shakespearesche Rüpelkomödie vorspielen ließe. Da sagt nun eines Tages beim fröhlichen Wein einer der Unsern, eine Leuchte auf der Palette, so ganz harmlos, wie das unsere Art ist: ›Herr Leutnant, was haben Sie für schöne große Ohren.‹

Und der Kerl, der Moldenhauer, sieht ihn ein bißchen über die Zigarre weg an und antwortet kaltblütig: »Gerade dachte ich auch, Sie mit Ihrem Verstand, und meine Ohren dazu, das müßt einen schönen Esel geben.'«

Fritz Stoltenkamp hatte die Türklinke gefaßt. »Auf Wiedersehen,« rief er, »ich muß zum Moldenhauer.«

Und Jan Kröger rief hinter ihm drein: »Stoltenkamp, wenn nicht deine Gußstahlfabrik vielleicht doch noch eine Zukunft hätte, könnte ich deine Eile beleidigend finden!« –

In dem nüchternen Leutnantzimmer saß Fritz Stoltenkamp dem Artillerieleutnant Moldenhauer gegenüber.

»Glaub es mir,« sagte der Offizier, »es ist zum Auswachsen langweilig. Ich bin mit aller meiner Liebe bei der Waffe, ich kenne sie samt Rohr, Protze und Lafette, wie man ein schönes Frauenzimmer vom täglichen Anschmachten her kennt, ohne auch nur zu ahnen, wie sie sich im Ernstfall beträgt. Blinde Schüsse, und wenn's hoch kommt, ein paar scharfe auf dem Artillerieschießplatz. Aber sparsam, sparsam. Kaum, daß man ein paar Erfahrungen dabei sammeln kann, wie man's nicht machen soll. Siehst du, Stoltenkamp, ich möchte aber gerade wissen, wie man's machen soll, und wie man's auf alle Fälle machen soll. Ich beabsichtige doch nicht, mein Leutnantsjubiläum zu feiern. Ich nehme fremden Dienst, Stoltenkamp, irgendwo, wo man sich rauft und der Mann an der Kanone den Schiedsrichter spielt. Gleichviel, ob in Europa, ob in den Kolonien. Aber die Rohre müssen ausprobiert werden bis zum Bersten, sonst gibt's keinen Fortschritt in der Waffe.«

Das war eine Sprache, die dem Besucher besser zusagte als das Lied von der Lorelei. Ganz zusammengekauert saß er und vergaß die Zeit und fragte und horchte und geriet mit jeder Frage tiefer in das Wesen der Artilleriewaffe hinein.

»Wir müssen von jetzt an in Verbindung bleiben, Moldenhauer. Wir passen sehr gut zueinander, Moldenhauer. Wenn du fremde Dienste nimmst und studierst das Material im Ernstfall, so halt mich immer auf dem laufenden.«

»Mit einem gescheiten Menschen tausch ich gern meine Ansichten, Stoltenkamp. Der Kröger genügt auf die Dauer nicht.«

»Ihr steht auf Kriegsfuß?«

»Ach nee,« lachte der Leutnant. »Bös kann man ihm nicht sein. Er hat eben auch Abenteurerblut, nur nach seiner Weise. Gestern nacht bin ich auf der Wachtstube. Ein furchtbares Gebrüll. Wir stürzen allesamt heraus. Da rennt der Kröger vorüber. ›Ein wahnsinniger Mohr!‹ schreit er aus Leibeskräften, weist hinter sich auf ein erleuchtetes Fenster und rast weiter. Aus dem Fenster aber brüllte wirklich ein Mohr. In Nachthemd und Zipfelmütze. Hatte der Kröger mit einem Pinsel voll Ofenruß an einer langen Stange unter dem Fenster gelauert, bis auf das Nachtgeläut eines Kumpans der brave Bürger aus dem Bett heraus am Fenster erschien, und fragte» was es gäbe. Da fuhr ihm der Pinsel übers Gesicht und malte ihn schwarz. Der ganze Stadtteil lag bei dem Gebrüll in den Fenstern und freute sich königlich. Der brave Bürger lieh nämlich auf Pfänder.«

»Glückauf, Moldenhauer. Das waren ein paar schöne Stunden.«

»Glückauf, Stoltenkamp,« antwortete der Leutnant mit dem alten Heimatgruß. –

Am Abend saß Fritz Stoltenkamp bei der Mutter im Schein der Lampe und berichtete. Und Frau Margarete, die schon bei der Loreleierwähnung mit den Augen geblinzelt hatte, lachte helle Tränen, als der brüllende Mohr in die Erscheinung trat. »Ach, Fritz, das Lachen – das Lachen – das erfrischt. Ich hatte es dir vorausgesagt.«

»Und über die artilleristischen Belehrungen Moldenhauers sagst du nichts?«

»Heute wollen wir einmal lachen, Fritz. Das macht die Brust weit und die Augen klar und schafft erst recht die Arbeitskräfte.«

Die Aufträge, die Eberhard aus der Ferne sandte, mehrten sich von Woche zu Woche. Wieder hatte Fritz Stoltenkamp Leute einstellen müssen, damit die Lieferungen ohne Zeitverlust erfolgten und den Ruf des jungen Werkes erhöhten. Die Geldsendungen zwar, die Eberhard von Zeit zu Zeit von den Kunden beitrieb und nach Hause schickte, zeigten mitunter einen Fehlbetrag, und der Reisende schrieb dazu von der Wiederauffüllung seiner schwindsüchtigen Reisekasse. »Der Junge lebt da draußen wie ein Fürst,« rechnete ihm Fritz Stoltenkamp nach, »aber das Bibelwort besagt: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden.«

Süddeutschland und Osterreich hatten ihre Bestellungen gemacht, in den Uhrenwerkstätten der Schweiz war der Reinheit und Härte des Stoltenkampschen Stahles eine Aufnahme bereitet worden wie einst bei den Goldschlägern jenseits der Mainlinie, und aus der französischen Münze zu Straßburg berichtete Eberhard Wunderdinge von Entgegenkommen.

»Es tut gut, das zu hören,« sagte Fritz Stoltenkamp, »wenn man Jahr für Jahr auf Güte, Güte und nochmals Güte hingearbeitet hat. Es hat viel Lehrgeld und einen langen Weg gekostet. Aber nur was gut ist, hat im Geschäftsleben auf die Dauer Bestand.«

»Der Weg von Straßburg führt nach Paris,« erwiderte Ungemach. »Wenn Sie nach England gehen, berühren Sie ja doch Paris.«

»Wenn ich nach England gehe – – Wissen Sie, daß meine vor Jahren eingeleiteten Verbindungen mit Rußland nun auch ihre Früchte tragen? Heute morgen schickte der Vertreter die ersten größeren Aufträge. Nun sitzen wir so ziemlich in ganz Europa und seinen Kolonien im Sattel. Nur Preußen läßt sich bitten, Heimat, geliebte. Und dabei pfeift schon die Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth. Von Leipzig nach Dresden kann sie jeden Tag eröffnet werden. Und in Preußen stellt man eine Versuchsstrecke von Berlin nach Potsdam her, und in Rheinland und Westfalen brodelt's und kocht's. Ungemach,« er tat einen tiefen Atemzug, »es ist wirklich Zeit, daß ich nach England gehe. Die Fabrik ist mit Aufträgen auf längere Zeit gesichert. Sobald Eberhard zurück ist, reise ich.«

Eberhard Stoltenkamp war zurück. Gebräunt, lebhaft, selbstbewußt. Wie ein Irrwisch flog er durch die Fabrik. Sein Tätigkeitsdrang schien ein unhemmbarer geworden zu sein. Sein Antrieb, seine Anregung war überall. Und der Bruder freute sich seines starken Pulsschlages und betrieb die Englandfahrt, bevor der schöne Eifer nachließ.

Fritz Stoltenkamp hatte die Arbeit eingeteilt. Von Ungemach an wußte jeder Leiter und Meister, was von ihm verlangt wurde. Achtzig Mann schafften im Betrieb. Da war die Verantwortung groß. Und er fuhr zu seinem Schwager Grote und bat ihn, dem Werke, wo es not täte, seinen kaufmännischen Rat zu schenken.

»Verlaß dich ganz auf uns,« antwortete statt des Schwagers Amalie. »Meine Erbschaft steckt doch noch im Werk. Ich werde schon achtgeben.« Da wußte Fritz Stoltenkamp die Fabrik unter besserer Aufsicht als der des Landgendarmen.

Einen Monat blieb er in Paris. Und je mehr er in die Verkehrs- und Lebensadern dieser bei Tag und Nacht summenden Stadt eindrang, je mehr erschien sie ihm als der Bienenstock der Welt. Alle Völker trugen den Honig herbei, und die Bären kamen von nah und fern, um zu naschen. Kam man aus den Stadtteilen der Vornehmheit und des wohlleberischen Müßigganges heraus, so wußte man nicht, wo man mit der Arbeit beginnen sollte. Industrien in echten und unechten Metallen, in echten und unechten Steinen, in beglaubigten und falschen Reliquien und Altertümern, das blühte und reifte früchtetragend bunt durcheinander wie die Arznei- und die Giftpflanzen des Urwaldes. Es war ein Vergnügen, mit den beweglichen Menschen zu plaudern. Sie hatten nicht viel Zeit für den einzelnen, aber sie erfaßten blitzschnell, und wo es sich um ihren Vorteil handelte, da griffen sie zu und feilschten nicht um den Preis. Nein, das war kein Platz, den man gelegentlich einmal besuchte. Das war ein nie versiegender, täglich sich erneuernder Quell. Und als auch die Pariser Münze, von der Straßburger Kollegin unterrichtet, einen Stempelauftrag erteilte, wie er ihn in dieser Höhe noch nicht erhalten hatte, da suchte er vor seiner Weiterreise einen gewiegten Pariser Kaufmann als Vertreter und gab Auftrag nach Hause, sofort ein größeres Warenlager nach Paris zu legen und es ständig aufgefüllt zu halten.

Und nun fuhr er übers Meer nach Engelland!

Ganz straff, die Lippen zusammengepreßt, stand er am Bugspriet des Seglers, der ihn hinübertrug. Die jäh abstürzende weiße Kreideküste tauchte aus den Wassern. Sie erschien ihm wie das Grinsen eines vorsintflutlichen Tieres, das sich satt und lüstern mitten in die Sonne legt, die Krallen in den Pfoten versteckt. Und ganz straff, die Lippen zusammengepreßt, ging Fritz Stoltenkamp von Bord und betrat das Land. –

Fritz Stoltenkamp schrieb an seine Mutter.

»Nun bin ich schon über einen Monat in diesem Lande, das uns Deutschen so gefährlich ist. Die Freiheit des einzelnen, der alte, festgegründete Reichtum der Familien, auf den diese Freiheit sich in der Hauptsache stützt, die Art der Lebensführung, die dem Unkundigen wie eine Kulturhöhe erscheinen muß und doch nur folgerichtig aus dem Hochmutsgefühl entsprang, Herr der Welt zu sein und auf die dienende Umwelt herabzublicken, alles, alles, bis auf das unübersetzbare Wort vom ›Gentleman‹, diese formvollendete Larve, die gleichmäßig den Ehrenmann und den Gauner deckt, – wie wenig genügt doch eigentlich, um uns arme, unverwöhnte Söhne Wittekinds in blindes Staunen zu versetzen und das Einschätzungsvermögen zu rauben und uns zu einer ebenso großen wie ergebenen Hochachtung zu nötigen. Laß England seinen Reichtum verlieren, und es wird ihm ergehen wie Adam nach dem Sündenfall, als er sah, daß er nackend war. So sehr beherrscht hier alles die goldene Tünche. Sie bestimmt Kopfhaltung und Adel des Menschen und verleiht ihm den Bildungsgrad. Und zu ihrem Erwerb sind alle Mittel recht und doch wieder so einfach. Man gewinnt sie durch die Macht. Was man zu haben wünscht, das verbietet man, dem Nachbar zu liefern. Oder man unterbindet dem Volk, das sich sträuben wollte, andere Handelsquellen in der unermeßlichen englischen Welt. Ich weiß, was ich wußte, daß der alles zu Boden schlagende Wettbewerb des englischen Stahles in der Billigkeit seiner Herstellungsweise besteht, in einem ebenso unübertrefflichen wie billigen Rohmaterial, das Gott für alle und die Tüchtigen insbesonders wachsen ließ. In England wächst es nicht. Aber England hat Beschlag darauf gelegt. Raum für alle hat die Erde! Auch für mich.

»Ich habe mich in der Geschäftswelt gründlich umgetan. Es gibt auch hier hochbegabte Köpfe, aber die meisten lassen die Dinge gemächlich an sich herankommen und streichen sie dann vom Tisch in den Kasten, wie man Fliegen fängt. Daß die Regierung von alters her die Industrie unterstützte, trägt goldene Früchte. Nicht nur daß Englands Industrie die Märkte öffnen und schließen kann, wie es ihr beliebt, sie hat auch den Erfindergeist befruchtet und gibt ihm Schwingen durch die Hilfe des Kapitals. Wie war mir oft zumute, Mutter, wenn ich an unsere vergeblichen Eingaben an die Regierung dachte. Gib acht! Auch unsere Regierung wird umlernen, wenn wir nicht in unsichtbarer englischer Sklaverei bleiben und in der Stunde der Gefahr verloren sein sollen.

»Man zeigt mir hier alles, was ich Zu sehen wünsche. Bis auf das, was man mir nicht zu zeigen wünscht. Und das werde ich nun auf andere Weise sehen, von der ich Dir später schreiben werde. Einstweilen studiere ich hier die schon erreichten Fortschritte im jungen Eisenbahnbau. Mir ist, als sähe ich schon, wo sich mir das Feld öffnet ...!

»Die Frauen hier sind schön wie alle Frauen, die auf sich halten. Ach, Mutter, diese Weisheit hast Du mich gelehrt. Ich sehe Dich vor mir, Du sitzest bei mir, die Lampe leuchtet über den Arbeitstisch, und wir plaudern miteinander. Von den Frauen plaudern wir, und Du schiltst mich, daß ich kein Auge dafür habe, wie selbst der brave Jan Kroger, der so köstlich verheiratet ist und dazu die Lorelei singen läßt, mich für einen Frauenfeind hält. Nein, Mutter, nur verwöhnt bin ich, über alle Maßen verwöhnt – durch Dich. Wo findet sich eine gleiche.

»Ein Mann, der englisches Eisen sucht, soll nicht von deutscher Liebe schwärmen. Glückauf, Mutter, Glückauf den Geschwistern und unserem Werk.« – –

Frau Margarete antwortete. Und eine Stelle las der Sohn mit schlagendem Kerzen.

»In einem geht es uns gleich: in der Verwöhnung. Ich war noch sehr jung, als der Vater starb, und leidlich hübsch, wie mir der Spiegel sagte und – wie mir andere sagten. Es kamen mancherlei Anträge an mich, in den ersten Jahren und später, die meiner immer noch lebendigen Jugend wohl gerecht geworden wären. Da gingst Du an meiner Seite. Mein Sohn und mein stillster, tiefster Verehrer. Und Du hast mir einen Platz angewiesen, wie es höher keinen zu erreichen gab. Da ich nicht ausgezogen bin, um englisches Eisen zu suchen, sondern daheim geblieben, um die deutsche Liebe zu bewahren, so sage ich es Dir. Es gibt Dinge, auf die man nicht zum zweitenmal zurückkommen kann, nicht in Schrift und Wort.

»Nein, Du bist kein Frauenfeind. Aber Du nimmst den Wertmesser der Mutterliebe für die Frauenliebe. Und die Größe meiner Mutterliebe besteht darin, daß sie Dir das noch größere Erleben der Frauenliebe wünscht. Die Liebe, die das Selbstvergessen schenkt, das Selbstvergessen, dessen die Männer des rastlos arbeitenden Geistes am stärksten bedürfen, ohne es zu wissen. Glückauf, mein Junge.«

Der Lesende schloß die Augen. Und die jähe Erkenntnis, daß die Mutter ihm noch viel mehr geopfert hatte, als er bisher hatte erfassen können, ihre Jugend, ihre Frauenjugend, Zwang seinen Kopf auf die Tischplatte. – –

Fritz Stoltenkamp schrieb an seine Mutter. Es gab Dinge, auf die man nicht zum zweitenmal zurückkam.

»Erschrick nicht. Nein, das wirst Du nicht. Du wirst Dein fröhliches Lachen herausholen über den verschwitzten Arbeitsmann, der mit blauem Hemd und blanker Brust tagsüber bei den neuen Kameraden am Schmelzofen steht und abends schleichenden Schrittes mit ihnen zur Schlafstelle zieht. Seit zwei Monaten bin ich Werkmann in einem der größten Stahlwerke Englands, und da es jedem freien Briten erlaubt ist, sich emporzuarbeiten, so habe auch ich von dieser Erlaubnis Gebrauch gemacht. Das Geheimnis des Roheisens ist ergründet. Ich kenne die schwedischen Gruben, aus denen es stammt, der Reihe nach. Ich kenne seine Zusammensetzung und die Art seiner Behandlung. Glückauf, Mutter! Aber ich habe noch mehr gefunden als das tote Material. Ich habe auch die Seele der Arbeiter gefunden, nicht im Sonntagsröckchen, wie sie sich dem Arbeitsherrn zeigt, sondern in ihrer ganzen hilflosen Sehnsucht, wie sie sich nur dem gleichstehenden Arbeits- und Feierabendgefährten offenbart. Diese Angst, Mutter, diese Angst vor dem Alter! Und aus dieser Angst heraus dieser dumpfe Groll, diese plötzlichen Entladungen. Ich habe immer die Pflicht über alles gestellt, für das sorgenfreie Leben meiner Arbeiter zu sorgen, die nach ihren Kräften mitschaffen an meinem Werk. Von heute an weiß ich: es ist mit dem sorgenfreien Leben nicht getan, das sorgenfreie Sterben macht es. Ich werde das nicht mehr aus dem Herzen, nicht mehr aus den Augen verlieren. Mit jedem Schritt, den das Werk vorwärts tut, übernimmt es neue Pflichten. Und wird sie erfüllen. Ich will mich, wenn das Glück mit mir ist, nicht am Abend vor meinen alten Leuten zu schämen haben.« –

Amalie Grote, geborene Stoltenkamp, schrieb an ihren Bruder.

»Wenn Du nicht heimkehrst und Eberhard aus der Fabrik entfernst, kündige ich meinen Anteil.«

Da packte Fritz Stoltenkamp, wie schon einmal, seine Koffer.

*

 


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