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Fritz Stoltenkamp stand im Maschinenhaus und wartete auf die Arbeiter, die er hierher bestellt hatte. Die Kolben der Maschinen lagen still, der stöhnende Atem schwieg, und im Hammerwerk nebenan hatte der schwere Reckhammer sein Pochen eingestellt. Die Leute wuschen sich in ihren Arbeitsstätten die Hände und machten sich bereit, vor ihrem Arbeitsherrn zu erscheinen.
Fritz Stoltenkamp stand in der Stille und wartete geduldig. Eine Zeit der inneren Aufregungen, wie er sie bisher nicht gekannt hatte, lag hinter ihm. Die Übertragung der Fabrik war durch Gerichtsakt auf seinen Namen erfolgt, bei den jungen Grotes war das Zweite Kindchen angekommen, und Eberhard hatte von irgend einem schönen Punkte des Rheines aus seine Vermählung mit Fräulein Mathilde Schlechtendahl angezeigt. Das alles lag nun dahinten.
Die Arbeiter versammelten sich. Ingenieur Ungemach und Meister Frowein meldeten ihm, daß sie vollzählig seien. An die hundert standen sie im Kreise und blickten auf ihn hin. Da richtete er sich gerade auf.
»Ich habe euch hierher gebeten,« sagte er mit lauter und ruhiger Stimme, »um euch davon in Kenntnis zu setzen, daß das unter der Firma Friedrich Stoltenkamp betriebene Gußstahlwerk nach Erlöschen der bisherigen Teilhaberschaften auf meine Person allein übergegangen ist. Von dieser Stunde an bin ich der einzige und alleinige Inhaber. Bevor ich euch als solcher begrüße, wünscht meine Mutter euch durch meinen Mund ihren Dank zu sagen für alle die Treue und Hingabe, mit der ihr sie und ihre Arbeit seit dem frühen Tode des Werkbegründers so nachhaltig unterstützt habt. Dieser Dank soll kein Abschiedswort sein, da sie wie bisher mitten unter uns bleiben wird. Nehmt ihn als ein Segenswort einer dankbaren Frau der Arbeit.
»Werksangehörige, und nun begrüße ich euch als alte und neue Arbeitsgefährten zu Beginn dieses für mich so wichtigen und ernsten Zeitabschnittes. Ich sehe hier viele ältere und vertraute Gesichter, die zu sagen scheinen: ›Wir haben mit dem Werk schon so manche wichtige und ernste Stunde durchgemacht, und wir werden auch die kommenden zu überwinden wissen im Vertrauen auf die gute Sache, der wir dienen.‹ Aus diesen Gesichtern schöpfe ich immer aufs neue meinen Mut, wie ich weiß, daß auch die später Eingetretenen sich von demselben Geiste beseelen ließen. So muß es sein. So und nicht anders kann es sein, wenn das Wort Werksangehörige den rechten Klang und Inhalt haben soll: wir gehören allesamt dem Werke an, und jedem von uns wird es durch seine Lebensarbeit ein Stück von ihm selber, wie er ein Stück des Werkes wird.
»Keinen größeren Stolz habe ich als den, mich auf euch zu jeder Stunde verlassen zu können. Und das Versprechen, daß ihr ebenso zu jeder Stunde auf mich bauen könnt, das gebe ich euch heute erneut.
»Noch ein anderes aber ist heute zu erwähnen. Muß erwähnt werden. Das ist die augenblickliche Arbeitslage und der Stand des gewerblichen Lebens, unter dessen Zeichen ich die Firma übernehme. Ihr seid Männer des offenen Blicks und wißt, was die Glocken läuten. Am politischen Himmel ist es dunkel und in Frankreich am dunkelsten, und von Paris aus sind noch immer die Wetterzeichen gekommen. Wie ein lähmender Druck ist es deshalb über Handel und Wandel gekommen, das ganze Geschäftsleben ist plötzlich ins Stocken geraten, alte Häuser haben ihren Bankrott anmelden müssen, und die andern haben schwer zu kämpfen. Unsere Eisenzölle aber sind immer noch derartig, daß nur England und immer wieder England sich an deutschem Gut bereichert, dieweil die Herren Bürokraten schlafen. Gebe Gott, daß sie bald erwachen und den gefährdeten Industrien beispringen. Ich sage euch dies alles heute, damit ihr euch nicht wundern sollt, wenn es in den nächsten Jahren nur langsam vorwärts geht und wohl auch einmal stockt. Und damit ihr mir helft, die Zähne zusammenzubeißen und über die verfluchte Flaue hinwegzukommen. Wenn ihr zu mir steht, fest geschlossen wie bisher, dann fürchte ich den Teufel nicht, und sollten wir im Schmelzofen einen Erzengel aus ihm machen müssen. Glückauf, Leute. Nun wollen wir an die Arbeit.«
Es schrie keiner Hoch und Hurra. Aber es war ein lachendes und trotziges Gemurmel im Maschinenhaus: »Glückauf, Herr Stoltenkamp,« und dann warf Ungemach die Maschinen an, und alles drängte hinaus.
Fritz Stoltenkamp war der alleinige Herr des Stahlwerkes. Wie der Führer einer Fregatte auf immer stürmischer werdender See stand er am Steuer. Und bald ging es nicht mehr um den Kurs, bald ging es nur noch um das eine: das Steuer mit klammernden Fäusten zu halten, damit das Schiff nur auf den tobenden Wellen bliebe.
So schwer hatte sich Fritz Stoltenkamp, hatte sich keiner drinnen und draußen die Jahre gedacht, die sich folgten, ohne daß Gewitterdruck und Wetterschläge nachließen. Das politische Paris brodelte, die Feindschaft gegen den Bürgerkönig Louis Philipp wuchs, wie des Königs schönste Bürgertugenden, Geiz und Geldgier, wuchsen; das französische Geschäft, das so glänzende Erträgnisse versprochen hatte, lag wie erschlagen am Boden. In Deutschland mißrieten die Ernten. Und die Verteuerung aller Lebensmittel half mit, die Unzufriedenheit mit den politischen Maßnahmen der Machthaber zu steigern.
Es war die Zeit der eisernen Arbeitsjahre für Fritz Stoltenkamp. All sein großes Planen, das er von England mit herübergebracht hatte, war umgestoßen, mußte zurückgestellt werden. Kriechend langsam bewegte sich der spärliche Bau einiger kurzen Eisenbahnstrecken, die englisches Material benutzten. Unter dem Wetterdruck hielten die Banken mit dem Kapital zurück. Fritz Stoltenkamp vermochte sich aus Mangel an Geld nicht an den Lieferungen zu beteiligen.
Jetzt hatte er die Muße, die er dem spielerischen Bruder Eberhard so oft im Drang der Arbeit abgesprochen hatte, selber. Jetzt stand nichts im Wege, sich grüblerischen Erfinderplänen hinzugeben, die nach seinen Worten meist mehr Zeit stehlen als klingenden Gewinn bedeuten. Und eines Tages fand er sich vor dem Zeichenbrett und führte den Stift.
Nein, er wünschte auch nicht, die Zeit zu bestehlen. Er griff nicht in das Reich der Phantasie und bastelte an allem und jedem, bis der Zufall die Linien zusammenfügte. Er nahm eine feste Grundlage und – entwickelte weiter. Die alte Walzmaschine war es, die er seit Jahren den Münzen zur Prägung des Geldes lieferte. Er wandelte sie um, er vervielfältigte ihre Zwecke, und nach langer, mühevoller Arbeit gelang ihm der Wurf: er erbaute ein Walzwerk zur Massenerzeugung von Löffeln, Gabeln und Messern. Und der Kampf mit den Patentämtern begann. Das Walzwerk blieb liegen, bis sich – vielleicht einmal – bessere Verkaufsmöglichkeiten ergaben. Hin und wieder arbeitete der Erfinder an seiner Vervollkommnung. Die verzopften Patentämter liehen ihm reichlich Zeit dazu.
Aber Fritz Stoltenkamp träumte nicht am Zeichenbrett besseren Tagen entgegen. Hundert Menschen war mit dem täglichen Brot der Arbeit das tägliche Brot des Lebens zu geben, und seine Augen waren überall, wo nur eine Arbeit und ein Verdienst winkte. In den Bergbau stieg er hinab und studierte die Maschinen, bis sein Gußstahl den Weg in die Tiefen der Erde fand, in denen er als Eisenerz gewachsen war. Um sein Hammerwerk voll auszunutzen, ließ er Kürasse schmieden, wie er es einst auf der Enneper Landstraße gesehen und gelernt hatte. Und dann stand er selber wieder am Amboß, den Hammer in der Hand, wie der erste und der letzte seiner Leute, und versuchte, aus einein Stück Stahl ohne Schweißnaht einen Gewehrlauf hohl zu schmieden.
Einen Gewehrlauf.
Er konnte sich selber leine Rechenschaft darüber geben, weshalb es ihn gerade zu diesen Versuchen immer wieder schob und drängte und stieß. Er wußte nur, daß es sich für ihn um den Gewehrlauf allein nicht handelte, daß er damit seinem Gußstahl nur ein neues, noch unbekanntes Feld erschließen wollte. In ihm wuchs eine Ahnung, aber bis zur Gewißheit war es noch weit.
Mit einer beharrlichen Verbissenheit stand er am Amboß und schmiedete seinen weichsten Stahl über einen kalten Dorn, bis die Läufe eine nicht mehr zu steigernde Zähigkeit erlangten. Für ihn war der Versuch geglückt.
Die Bestätigung erhielt er durch einen Besuch Moldenhauers Der Jugendfreund hatte ein paar Jahre unter französischer Fahne in Algier gekämpft, war durch die Zuneigung der französischen Politik für den Orient nach Ägypten verschlagen worden und in den Generalstab Mohammed Alis gelangt, der gegen die Pforte zu rüsten begann. Ein Urlaub führte den ebenso abenteuerlustigen wie waffenkundigen Mann zum erstenmal auf eine kurze Zeit in die Heimat.
Er hatte die alten Schulkameraden aufgesucht und kam hinaus auf das Stoltenkampsche Werk.
»Wie es mir inzwischen ergangen ist, Stoltenkamp, weißt du aus meinen gelegentlichen Briefen. Es war alles gut und reichlich. Von den algerischen Wüstenkämpfen bis zu den bräunlichen Töchtern Pharaos. Da ich nicht gekommen bin, um hier den wilden Ägypter zu spielen, so zeige mir lieber dein Werk; denn ich möchte meine europäische Bildung auf dem laufenden halten, und Eisen und Stahl gehören nun einmal zu meinem Handwerk.«
Fritz Stoltenkamp holte seinen gußstählernen Gewehrlauf hervor.
»Das ist wohl etwas für dich. An Stelle der eisernen, die den neuzeitlichen Anforderungen kaum genügen dürften. Es gibt kein Metall, das meinen Gußstahl heute an Festigkeit und Dehnbarkeit übertreffen könnte.«
Der junge Generalstabsmajor wog den Lauf in den Händen. Er betrachtete ihn von allen Seiten und betastete und beklopfte ihn liebevoll, während er eine Frage nach der anderen stellte.
»Erhöhte Festigkeit und Dehnbarkeit in eins, Stoltenkamp. Das ist es, worauf es in der Praxis ankommt, um die erhöhte Schußzahl zu sichern, um die Feuertätigkeit zu beschleunigen. Beim Gewehr wie beim Geschütz.«
Und Fritz Stoltenkamp antwortete, als fiele ihm eine Binde von den Augen: »Diese Versuche hier sollen zum Geschütz hinüberführen, Moldenhauer.«
»Zur Gußstahlkanone. Stoltenkamp?«
»Zur Gußstahlkanone.«
Die beiden Männer standen und sahen in die Weite. Dann sagte der Artillerist: »Das wäre eine große Zukunft.«
»Ich muß daran arbeiten, sie bald zur Gegenwart zu machen. Ich bin nicht für Zukunftsbilder.«
»Worauf gründest du deine Hoffnungen?«
»Immer wieder auf die Eigenschaften meines Stahls. Seine Reinheit und Gleichmäßigkeit bürgt für alles in der Hand erfahrener Arbeiter. Meine und meiner Leute Hände sind erfahren. Das kommt hinzu.«
»Das kommt sogar sehr hinzu. Die edelste Araberstute kann von einem Karrenbinder krumm und lahm geritten werden. Aber aus welchen Umständen ziehst du den Vergleich mit den bisherigen Rohren gerade zu deinen Gunsten?«
»Unsere leichten Feldgeschütze sind aus Eisen. Daher ist ihre Haltbarkeit nicht durchaus zuverlässig. Sie zerspringen oft, wenn man sie am nötigsten braucht. Unsere schwere Artillerie besitzt Bronzerohre. Die Bronze aber nutzt sich so schnell ab, daß nach einer beschränkten Anzahl Schüsse die Treffsicherheit verloren geht. Nimm meinen Gußstahl dagegen. Stell auf seine Zähigkeit und Härte hin jeden Versuch an. Was dem Eisen fehlt und der Bronze, er besitzt es. Ein Meister wird damit zu jedem Ziele kommen.«
»Stoltenkamp,« sagte der Artillerist, »stell dir dies Ziel. Stell es dir für Deutschland.«
»Deutschland,« wiederholte Fritz Stoltenkamp. »Es sitzt im heiligen Bundesrat und redet und redet, bis es sich allmählich totgeredet hat.«
»Wenn deine Kanonen donnern, wird es aufwachen.«
Da glitt seit langen Jahren das erste Lächeln über Fritz Stoltenkamps Gesicht.
»Wenn meine Kanonen donnern ...«
Ein Büchsenmacher hatte den Gewehrlauf in die Feuerwaffe gezogen, und auf den Wiesen vor der Fabrik war ein Schießstand gezimmert worden. Dort verbrachten die Freunde die nächsten Tage, und es knallte ununterbrochen von den Wiesen her wie bei einem Jahrmarktschießen. »Gäbe es noch keine Feuerwaffen,« meinte der Major Moldenhauer beim Abschluß der Schießversuche, »so müßten sie eigens deines Gußstahls wegen erfunden werden. Und nun laß die Kanonen auffahren, Fritz. Mein Artilleristenherz schreit danach, und Mohammed Ali von Ägypten, mein hoher Herr und Gönner, soll auch danach schreien, und wenn sich seine Fellachen die Zechinen aus den Rippen schneiden müßten. Heilige Barbara, Schutzgöttin aller frommen Artilleristen, deine Zeit kommt.«
Der Freund hatte Abschied genommen. Er mußte zurück zu seinem Pharao. »Sollten mir die Töchter des Landes auf die Dauer doch zu bräunlich werden – ich bin nämlich sehr farbenempfindlich, Stoltenkamp – so kehre ich doch wohl einmal zurück. Zu dir, Stoltenkamp. Des guten Eisens und des noch besseren Stahles wegen. Bis dahin werde ich mich an den Ufern des Nils im Glückauf-Rufen üben.« –
Fritz Stoltenkamp hatte die wenigen Wochen des Zusammenseins nach seiner Art gründlich ausgenützt und nichts getan, als sich belehren lassen und gelernt. Entwürfe und Berechnungen standen auf dem Papier. Ungemach hatte sie als geschulter Mathematiker nachgeprüft. Fehlgriffe waren richtig gestellt. Und mit der ganzen Spannkraft seines Wesens machte sich Fritz Stoltenkamp mit seinen Getreuen ans Werk und ruhte und rastete nicht, bis er dem preußischen Kriegsministerium die Fertigstellung eines Dreipfünderrohres aus gußstählernem Seelenrohr und gußeisernem Mantel mit der Anfrage melden konnte, ob er es mit seinen nahtlosen Gewehrläufen zu Versuchszwecken übersenden dürfe.
Die Erlaubnis wurde erteilt. Die erste Gußstahlkanone ging nach Berlin.
Fiebernd vor Ungeduld wartete Fritz Stoltenkamp auf die Entscheidung. Die Entscheidung fiel.
Das preußische Kriegsministerium zollte dem Gußstahlrohr die höchste Anerkennung. Es mußte feststellen, daß die Rohre aller Materialien bei weitem übertroffen worden seien. Es stellte des weiteren fest, der Preisunterschied sei ein so bedeutender, daß in Hinsicht darauf und auf die Wiederverwendbarkeit abgenutzter Bronzerohre durch Einschmelzverfahren zurzeit von einer Änderung in der artilleristischen Bewaffnung abgesehen werden müsse, die Firma Friedrich Stoltenkamp aber nur angehalten werden könne, in ihrem Eifer nicht zu erlahmen.
»Abgelehnt aus Sparsamkeitsgründen,« sagte Fritz Stoltenkamp trocken. Daran lag ihm nichts, so sehr er Geld und nochmals Geld benötigte. Ihm lag daran, festgestellt zu sehen, daß sein Gußstahlrohr alle anderen schlug! Diese Gewißheit besaß er jetzt mit Brief und Siegel. »Menschenleben sind das Kostbarste,« meinte er. »Sobald es sich im Ernstfalle darum handeln wird, werden sie ihre Sparsamkeit schon schießen lassen. Jedenfalls halte ich mich von heute ab bereit.«
Die Verbindung mit den schwedischen Eisengruben, die die vollkommenen Erze nach England lieferten, hatte er längst. Sich die eine von ihnen nutzbar zu machen, war lediglich eine Geldfrage. Er mußte die Förderung einer Grube in Bausch und Bogen und auf langjährige Verträge kaufen. Alle Vorkehrungen waren seit langem getroffen. Nur das Geld fehlte. Es fehlte bisweilen so sehr, daß er sich an den Lohntagen blank ausgezahlt hatte und nichts mehr für sich übrig behielt. Es war ein Abrackern ums Geld von Woche zu Woche. Aber die Arbeiter durften nichts verspüren.
Während ihm Ungemach und Frowein die Bürde der täglich wiederkehrenden Geschäfte erleichterten, warf er sich mit ungeschwächter Spannkraft auf die Herstellung eines neuen Rohres. Der eiserne Geschützmantel mußte fallen. Es mußte ein massives Gußstahlrohr werden, Seelenrohr und Mantel. Und schon arbeitete sein Gehirn an dem Plan, lange Stahlblöcke zu gießen und sie mit den stärksten Werkzeugmaschinen auszubohren.
Und urplötzlich entlud sich die Wetterwolke. Jahre und Jahre hatte sie über Europa gelastet, unheimlich und lähmend. In den Februartagen des Jahres 1848 entlud sie sich über Paris. Das verarmte Volk rief nach einem Regierungswechsel. Es verlangte die Erweiterung seines Wahlrechts, um der Verdorbenheit und Bestechlichkeit der französischen Pairs- und Deputiertenkammer zu steuern. Die Regierung untersagte jede Versammlung und ließ Straßen und Plätze militärisch besetzen. Die Nationalgarde aber ging zum Volke über, der Ruf »zu den Waffen!« schrillte durch ganz Paris, das Pflaster wurde aufgerissen, Barrikaden wuchsen aus der Erde – Volk und Militär wurden im blutigen Kampfe handgemein. Wieder machten ein paar Linienregimenter die Sache des Volkes zu der ihren. Schon waren die Tuilerien erreicht, als der Bürgerkönig Louis Philipp so hastig entfloh, daß er nur noch sein Geld zu retten vermochte, nicht mehr seine Krone. Jubelnd stürmten die Aufständischen in den Sitzungssaal der Kammer, hielten Kehraus und setzten eine vorläufige Regierung ein. Die zweite Republik hatte ihren Anfang genommen.
Und schon war der Funke auf Deutschland übergesprungen. Ein Funke, der keinen Brand, der ein heiliges Feuer entfachen wollte. In der Darmstädtischen Kammer verlangte Heinrich von Gagern die Errichtung einer deutschen Zentralgewalt mit Volksrepräsentation. In einer Versammlung zu Heidelberg wurde ein Siebenerausschuß gewählt, der alle früheren und gegenwärtigen Landtagsmitglieder aufforderte, sich am 30. März zu einer Versammlung in Frankfurt am Main einzufinden. Um die Wiederaufrichtung des deutschen Kaiserreichs ging es. Dem Bundestag und den Regierungen entfiel der Mut. Unvorbereitet gaben sie nach, auf Schritt und Tritt. In Wien stürzte das Voll den verhaßten Metternich, in München erzwang es die Abdankung des Königs Ludwig, in Berlin kämpfte es auf den Barrikaden, bis König Friedrich Wilhelm IV. versprach, sich an die Spitze der deutschen Bewegung zu stellen. In Stadt und Land loderten die Brände auf, am heftigsten in den einst Napoleonischen Ländern Rheinlands und Westfalens, und in der Paulskirche zu Frankfurt am Main erfolgte am 18. Mai die feierliche Eröffnung der ersten deutschen Nationalversammlung. Es waren 568 rechtliche, angesehene und meist gelehrte Männer, die zur Wiedergeburt des Deutschen Reiches zusammengetreten waren, aber ihr Idealismus war stärker als ihre politische Schulung und ihre Einsicht in die Wirklichkeitsforderungen der Zeit. Die begeisterten Reden wurden zu Kampfansagen, eine seltsame Verkennung und Überhebung griff Platz, häusliche Zwiste aus der Versammlung wurden ins Land getragen, und in dem Durcheinander der redenden Kämpfer erholte sich die preußische Regierung vor den anderen von ihrem Schreck, ergriff die schleifenden Zügel und wahrte sich das Hausrecht. Zu Frankfurt am Main aber befehdeten sich Nationale und Radikale so ingrimmig, daß die Auflösung des ersten deutschen Parlaments nach Jahresfrist von selbst erfolgen mußte, und zum zweitenmal wurde die große deutsche Sache auf die Straße getragen. In den rheinpreußischen Städten, in Hessen und Württemberg brach sich die bewaffnete Bewegung Bahn, in Dresden knatterten die Gewehre, in der Pfalz und in Baden donnerten die Kanonen.
Und die Erregung lief wie eine Springflut durch die deutschen Lande, peitschte blindzornige Triebe auf, unterbrach die Arbeit, drohte mit der Vernichtung des Gewerbefleißes und der Schaffensfreude.
Im Stoltenkampschen Werk drehte sich das Schwungrad der Maschine, glühten die Schmelzöfen und pochten die Hämmer wie immer Tag um Tag. Fritz Stoltenkamp hatte nicht stillgelegt. »Ich muß hindurch,« sagte er der Mutter. »Zu verdienen gibt's nichts, aber meine Leute, die ihre Familien zu ernähren haben, haben ein Recht auf Arbeit, solange noch ein Tiegel Stahl zu gießen ist. Und ich selber würde für die Folgezeit mehr verlieren, als ich jetzt ersparte. Die ganze seit Jahren geübte Schulung würde durch Suff und Müßiggang in die Brüche gehen und damit die Güte und Gleichmäßigkeit meines Stahls. Daran muß mir gerade jetzt mehr gelegen sein als an ein paar Fasttagen mehr in der Woche.«
Frau Margarete nickte ihm zu. »Ich sehe alles mit deinen Augen, Fritz.«
In der Stadt stieg die Unruhe. Allerlei merkwürdige Menschen tauchten auf, die bisher keiner gesehen oder beachtet hatte. Sie saßen in den Wirtshäusern und steckten mit den Bürgern die Köpfe zusammen. Sie schlugen mit der Faust auf den Tisch und tranken auf Deutschlands Freiheit. Und wenn die Wirtsstuben sich mit den Zechen- und Grubenarbeitern der Umgegend füllten, stiegen sie auf die Tische und Stühle und lasen ihnen aus zerknitterten Flugblättern die neuesten Revolutionsnachrichten vor oder mit überschwenglichem Vortrag aufwühlende Lieder der Freiheitsdichter. Dann ging es in lärmendem Zuge durch die Straßen, Katzenmusiken wurden gebracht, Fenster eingeworfen, und wenn die Polizei sich aufraffte und in den Haufen griff, hatte sie stets den falschen erwischt, und die Anführer saßen längst wieder in ihrem Wirtshaus.
Und wie die Arbeiter, so feierten bald die Bürger. Sie hatten den Ordnungsdienst eingerichtet und marschierten als Bürgerwehr durch die Straßen, zogen es aber, nachdem die erste Freude am Soldatenspiel vorüber war, vor, in der Wirtsstube bei vollen Gläsern und Mäulern ihre Zeit abzusitzen, statt im Regen auf Posten zu stehen und Patrouille zu laufen.
Es waren nicht nur die Kannegießer, die Halbgebildeten und die Lärmmacher, die die Unzufriedenheit schürten und die täglichen Straßenaufläufe herbeiführten. Es waren auch Männer von hohem Ansehen und großem Wissen, die aus aufrichtiger Seele zu der Überzeugung gelangt waren: dies sei der Wendepunkt in Deutschlands Geschichte, und jetzt oder nie müsse sich der alte Kaisertraum und die Sehnsucht des Volkes nach der Größe und Freiheit Deutschlands erfüllen, wenn nicht anders durch Pulver und Blei.
Fritz Stoltenkamp hatte in diesen Tagen manche freie Stunde. Die Arbeiten in der Fabrik schleppten sich mühsam weiter, und wenn er des Morgens die paar dazu notwendigen Verfügungen getroffen hatte, war seine Tagesaufgabe auch schon erledigt. Aber die freien Stunden schenkten ihm darum keine Ausspannung des Geistes. Die Arbeit nahm doch zum wenigsten seine Gedanken in Anspruch und zwang sie, sich ganz und gar auf das zu richten, was er unter den Händen hatte. In der Muße aber stürzten sich Gedanken und Sorgen wie ein Fliegenschwarm auf sein Hirn, bis er sich erschlaffter fühlte als nach dem sauersten Dienst am Amboß.
»Ich muß einmal unter vernünftige und klar blickende Männer,« sagte er sich, »und wenn auch nur, um festzustellen, daß sie nicht klüger sind als ich.« Und er strich grübelnd durch die Felder bis zur Ruhr und folgte ihr, bis er das alte Städtchen und die Maschinenfabrik seines Jugendfreundes Karl Schulte vor sich sah.
Das Werk lag still. Vereinsamt und von Menschen verlassen.
Er ging durch das offenstehende Tor, an den verödeten Maschinensälen vorüber, und dann hörte er eine Stimme, die laut und feierlich aus dem Geschäftszimmer Karl Schuttes ertönte. Er horchte auf. Worte von Bürgerfreiheit und Bauernkraft erschollen, von Arbeiterliebe, staatlicher Fürsorge. Karl Schulte arbeitete an einer Parlamentsrede. Der feurige Arbeiterfreund gehörte der Frankfurter Nationalversammlung an.
Als Fritz Stoltenkamps Schritt auf den Steinfliesen durch das leere Haus klapperte, öffnete sich die Tür des Geschäftszimmers, und Karl Schulte stand auf der Schwelle. Erstaunt blickte er den Gang hinauf.
»Du bist es, Stoltenkamp? Nimmst du endlich auch Anteil an dem Riesenfortschritt der Zeit? Tritt ein. Ich bin gerade fertig.«
Er wandte sich seinem Schreiber zu, der die letzten Zeilen des Redeentwurfs zu Papier gebracht hatte. »Alles in Ordnung, Müller? Geben Sie her. Danke Ihnen. Und in einer Stunde bereit sein. Wir fahren pünktlich.«
»Ich habe immer noch ein halbes Stündchen für dich, Stoltenkamp. Morgen abend ist große Sitzung im Frankfurter Parlament. Ich war nur für vierundzwanzig Stunden hergekommen, um an einer Versammlung teilzunehmen. Dich sah ich nicht.«
»Hast du mich vermißt, Schulte?« fragte Fritz Stoltenkamp und setzte sich.
»Ich vermisse jeden einzelnen, der sich in dieser Zeit des Vorwärtsdranges zurückhält.«
»Schulte,« sagte Fritz Stoltenkamp, »das klingt wie die Frage, mit der du mich begrüßtest. Ob ich endlich auch Anteil nähme an dem Riesenfortschritt der Zeit? Und jetzt sprichst du es schlankweg aus, ich hielte mich zurück in der Zeit des Vorwärtsdranges. Was soll das heißen? Ich nehme an, du hast mich nicht richtig angesehen. Ich bin Fritz Stoltenkamp.«
»Gerade weil du es bist. Gerade du darfst dich uns nicht entziehen.«
»Schön. Das möchte ich zunächst einmal beantworten. An dem Riesenfortschritt der Zeit habe ich bereits seit zwanzig Jahren teilgenommen, als noch gar nicht davon die Rede war. Hier mit diesen Fäusten teilgenommen. Und habe meine Arbeiterzahl von sieben auf rund hundert gebracht. Keinen Pfennig Hab ich in all dieser Zeit an mich gewandt. Nur an das Werk und die Werksangehörigen. Auch heute wird bei mir weitergearbeitet, obwohl ich kaum weiß, wie ich die Löhnung beschaffen soll. Heißt das, sich zurückhalten? Heißt das, sich dem Geist der Zeit entziehen? Ja, dann bin ich eben all die Zeit reif für das Narrenhaus gewesen, denn bis jetzt lebte und starb ich des Glaubens, daß nur die Arbeit und dreimal die Arbeit, die zähe, unermüdliche, unüberwindliche, den Fortschritt bringt und nicht das Geschrei in den Wirtshäusern und der Radau auf den Straßen. So. Und nun belehr du mich eines Besseren.«
»Stoltenkamp,« sagte der feurige Schulte, »dir und deiner Tatkraft tritt kein Mensch zu nahe. Die ist schon im ganzen Lande hier zur Berühmtheit gelangt. Aber die Faust muß vom Geiste geleitet sein. Über der Handfertigkeit steht der große Gedanke des Lebensziels und das erwachte Bewußtsein, ein Teil des Ganzen zu sein, ein Werksangehöriger des Vaterlandes.«
»Dieses Lebensziel ist mir nicht unbekannt geblieben. Ich meine sogar, ich hätte es in die Wirklichkeit übersetzt, seit ich mit sechzehn Jahren die Leitung der verschuldeten Fabrik übernahm. In die praktische Wirklichkeit, Schulte. Und was ich geschaffen habe, ist dem Vaterlande zugute gekommen, mein Kampf gegen den englischen Stahl von Anfang an und damit mein Kampf gegen den habsüchtigen Feind deutscher Wohlfahrt. Nein, Schulte, so geht es nicht. Ich nehme an, daß wir gleich feurig für Deutschlands Größe empfinden, aber es muß geachtet werden, wenn der eine diesen und der andere jenen Weg einschlägt. Losdonnern und auf Vorschußlorbeeren drauflos prophezeien, ist nicht nach meinem Geschmack. Erfolg abwarten, Schulte.«
»Ja, du kannst den Erfolg abwarten. Und das Volk, die hungernden Arbeiter?«
»Schulte, das redet ihr den Leuten ein. Hab ich ein Herz für die Arbeiter oder nicht? Gehör ich nicht selber zu ihnen? Da, beschau dir mal meine Hände. Haltet die Leute nicht von der Arbeit ab, dann brauchen sie nicht zu hungern und können doch den Erfolg abwarten. Weshalb hast du den Betrieb geschlossen? Ich kehre den Spieß um und sage dir: ich vermisse dich.«
»Ich habe den Leuten die Freiheit gegeben, zu tun, was sie wollen. Sie haben freiwillig gewählt.«
»Das ist keine Freiwilligkeit, wenn der Herr ihnen als Beispiel vorangeht.«
»Stoltenkamp,« sagte Schulte mit feierlichem Ernst, »ich bin vom Volk erwählt und nach Frankfurt ins Parlament gesandt. Dort ist jetzt mein Platz. Nirgendwo anders. Meine Fabrik muß es ertragen.«
»Gut. Du! Aber fünfhundertundachtundsechzig der besten Köpfe Deutschlands genügen doch. Wir können doch nicht alle unsere Betriebe schließen und als Wanderredner durchs Land ziehen, weil das Parlament bis unter die Dachbalken besetzt ist. Das hieße doch noch ganz anders als bisher das unreife Obst von den Bäumen schlagen.«
»Unreif –?«
»Hältst du die Menschen, die sich tagsüber auf den Bierbänken herumdrücken und nachts Krawalle machen, etwa für reif?«
Karl Schulte ereiferte sich.
»Sie sind bis heute von den Regierungen als Kinder behandelt worden. Soll man da von heute auf morgen verlangen, daß sie sich wie Erwachsene betragen? Sie haben viel nachzuholen, die Ärmsten, und wir haben ihnen dazu zu verhelfen.«
»Ja, Schulte,« sagte Fritz Stoltenkamp, »das haben sie, und jeder von uns, der auch nur die Arbeitskraft eines einzelnen für sich nutzt, hat ihm zu helfen. Wir zuerst, Schulte. Jeder an seinem Teil und in seinem Betrieb, Schulte, und die Bierbank ist nie und nimmer eine Schulstube. Ein arbeitsfreudiges Geschlecht erziehen, das durch seinen Lebensfleiß das Recht auf Freiheit erwirbt, das Recht auf Sorgenfreiheit. Erwirbt, sage ich. Und dann möchte ich die Regierung sehen, die nicht mit allen Mitteln zugriffe, um sich ein solches Geschlecht zu erhalten.«
»Ach, Stoltenkamp, du solltest die Redner im Parlament hören – –«
»Schulte,« erwiderte Stoltenkamp, »und du solltest meine Leute bei der Arbeit hören. Das heißt, du hörst sie selber nicht. Du hörst nur den Hammerschlag ihrer Arbeit. Aber mit ihrer Arbeit rücken sie vor, vom Kleineren zum Größeren, vom Leichteren zum Schwereren. Das ist Wachstum, das ist Fortschritt. Und ihre Jungens heben sie langsam aber sicher auf ihre Schultern.«
»Dann müßten wir heute schon ein Edelgeschlecht haben. Wo ist es?«
»Schulte, du weißt es so gut wie ich, daß in allen Klassen und Ständen die Tüchtigen und Zähen dünner gesät sind als die Lauen und Flauen. Es kommt gar nicht darauf an, ein Herrengeschlecht zu haben. Aber es kommt darauf an, daß jeder sich als Herr fühlt vor seinem Gewissen und nicht als Knecht. Fäuste gerührt, Schulte, und sich von keinem beschämen lassen. Das schafft das Herrenbewußtsein. Da kommt dein Wagen. Sag es denen in Frankfurt mal, wenn sie wieder trunken vor Begeisterung den Himmel stürmen statt die Erde, und sag es ihnen auf gut rheinisch-westfälisch. Glückauf, Schulte.«
»Glückauf, Stoltenkamp. Ich hoffe, es war für keinen von uns eine verlorene Stunde.«
Fritz Stoltenkamp schritt langsam die Ruhr entlang. Auf den meisten der Werke, die er auf seinem Spaziergang berührte, wurde gefeiert. Auf der Zeche Robert Hüttemanns waren sämtliche Scheiben des Verwaltungsgebäudes eingeworfen, und der Besitzer kam ihm schon auf dem greulich verschmutzten Hofe entgegen.
»Was willst du denn hier, Stoltenkamp? Doch nicht etwa Geld? Ich habe täglich einen Schaden von Tausenden und halt fest, was ich halte. Diese aufrührerische Bande.«
»Armer Kerl,« bedauerte der Besucher. »Kann ich dir ein wenig helfen?«
»Du? mir? Du stehst doch selbst Zwischen Gehängt- und Geköpftwerden. Nee, Stoltenkamp, soweit ist der Hüttemann noch nicht. Ich halt's aus. Bis sie mir wiederkommen. Und dann sollen sie mir den Schaden schon bezahlen.«
»Ich wollte dir auch nur mit einem guten Rat helfen.«
»Brauch ich nicht.«
»Trotzdem. Zeig den Leuten, daß es auch noch andere und bessere Späße gibt als Fensterscheiben einschmeißen und den Hof bekleckern. Zum Beispiel Fensterscheiben einsetzen, aber im eigenen Anwesen, und das eigene Gärtchen in Ordnung halten. Du hast es doch dazu, und deine Kohlenzeche ist eine Goldgrube. Mach eine Musteranstalt daraus, Hüttemann, und schaff deinen Leuten menschenwürdige Wohnungen. Es verzinst sich, und wenn es sich nur an lachenden Gesichtern verzinst.«
»Du bist wohl noch schwarz-rot-goldener als der Karl Schulte, Stoltenkamp?«
»Ich komme gerade dorther. Und dem wackern Schulte war ich wieder zu schwarz-weiß und viel zu untätig. Wer hat recht?«
»Keiner von euch hat recht. Der eine verhetzt die Leute mit seinen Reden, und der andere verwöhnt sie durch seine Behandlung. Du bist sogar der Schlimmere, Stoltenkamp. Nur ich habe recht, und ihr werdet es einsehen, wenn es für euch zu spät ist. Hier Arbeit, hier Löhnung. Zug um Zug. Nicht mehr und nicht weniger. Brüderschaften trink ich nicht. Aber Herr in meinen vier Pfählen will ich sein. Ich hindere ja keinen Menschen, sich selber eine Zeche zu kaufen.«
»Sicher nicht. Wenn du sie nicht gerade selber willst. Fühlst du dich eigentlich sehr glücklich, Hüttemann?«
»Bitte, keine Gefühlsseligkeiten. Wenn du wüßtest, wie die uns kleiden. Geld ist Macht, mein lieber Stoltenkamp. Du kennst ja wohl noch meinen Wahlspruch?« –
An einem Morgen meldete Frowein seinem Herrn, daß die Arbeiter, die mit wenigen Ausnahmen in der Stadt wohnten, abends auf dem Nachhauseweg von herumziehenden Haufen angehalten und bedroht würden.
»Aus welchem Grunde bedroht, Frowein?«
»Ja, Herr Stoltenkamp, das wird wohl an dem empfindlichen Geruchsinn der Revolutzer liegen. Sie können keinen Arbeitsschweiß mehr riechen. Vornehme Leute, die sie nun sind, können das ja nicht gut.«
»Haut der Bande das Fell voll. Unsere Leute sollen nur geschlossen heimgehen. Am besten, Sie führen sie, Frowein. Niemand herausfordern. Aber in dieser Zeit der Freiheit sich die eigene Freiheit wahren. Sie verstehen mich.«
Frowein verstand. In der Mittagspause ließ er ein halbes Dutzend seiner Leute auf die Äcker in die Schlehdornhecken fahren. »Daumendick,« prägte er ihnen ein. »Handliche Spazierstöckchen.« Und bei Feierabend ließ er sie alle antreten.
»Keinen Landfriedensbruch. Immer höflich, wie es sich für Gußstahlleute schickt. Und diejenigen von euch, die in ihrer Jugend aus zwingenden Gründen den Tanz- und Anstandskursus versäumen mußten, richten sich in allen Dingen haarscharf nach mir. Habt ihr eure Spazierstöckchen? Na, dann wollen wir mal an den friedlichen Herd.«
Frowein schritt voraus. Er hatte sein schönstes Pfeifen wiedergefunden. Dann pfiff neben ihm einer mit. Der lange Haniel schritt seelenruhig neben ihm aus.
»Bist du verdreht, Haniel? Du wohnst doch auf dem Land. Villa Sperlingslust.«
»War ja noch schöner,« brummte der Hammerschmied. »Ich hab als Meister so gut wie du für das leibliche Wohl meiner Leute zu sorgen.«
»Aber du kommst nachher nicht mehr aus dem Stadttor heraus.«
»Ich schlaf bei dir. Deine Frau braucht gar keine Umstände zu machen.«
»I bewahre. Aber die Sorge für unser seelisches Wohl – mein Gott und Vater, die wird sie sich nicht nehmen lassen.«
»Is sie so fromm?«
»Mehr hitzig, weißt du.«
Sie kamen an das verschlossene Stadttor und wiesen sich bei der Bürgerwache als Stoltenkampsche Werksangehörige aus. Dann marschierten sie ein. Hundert Schritte weiter, und der lärmmachende Haufe, der allabendlich sein Unwesen trieb, quoll aus der Straße und versperrte ihnen den Weg. Der Führer, einen grünschillernden Hahnenschwanz am Schlapphut, hielt sie an.
»Es lebe die Freiheit!«
»Allemal. Und nun seien Sie so frei, und geben Sie den Weg frei.«
»Nicht eher, als bis ihr euch der Freiheit verschworen habt. Legt die Arbeit nieder! Verbrüdert euch mit uns! Vorwärts!«
»Ist das Schlehdorn?« fragte Frowein freundlich und hielt ihm den dornigen Stecken unter die Nase.
»Was unterstehen Sie sich? Ich bin der Kommissar des Komitees für Freiheit und Gleichheit.«
»Ob das Schlehdorn ist, frag ich.«
»Hören Sie denn nich?« sagte der lange Haniel ermunternd. »Sie sollen mal da dran riechen, ob das Schlehdorn is.« Und er faßte den Federngeschmückten ein wenig ins Genick und stieß ihn mit der Nase in den Dornenstecken.
»Vergewaltigung!« tobte der Mann und fing in der Luft seinen Schlapphut. »In meiner Person wird die Freiheit vergewaltigt! Ich blute! Ich blute für die Freiheit! Haut sie!«
Und in das Gejohle des andrängenden Haufens hinein klang die helle Stimme Froweins: »Jungens, die wollen wissen, was Freiheit is, un wissen nich mal, was Schlehdorn is! Laßt sie dran riechen! Aber zart, zart, wie sich das für Gußstahlleute schickt!«
Der Kampf war kurz, aber erschöpfend. Als die erste Schauer Hiebe prasselte, stob der Haufe wie gejagt von dannen. Eine Strecke weit der lange Haniel allein hinter ihnen her. Dann kam er zurückgeschlendert, die Hände in den Hosentaschen.
»Hände Hab ich gar nich erst gebraucht, Frowein. Die Bande war mich zu dreckig. Ich hab sie bloß immer einzeln in den Hintern getreten.«
»Mensch, Mensch,« sagte Frowein bewundernd, »du hast Manieren wie ein Fürst. Also es bleibt dabei. Du begleitest mich zu meiner Eheliebsten!« –
Jeden Abend marschierten die Stoltenkampschen Werksangehörigen in geschlossenem Zuge zur Stadt. Der Weg wurde ihnen nicht mehr versperrt. Aber Haniel weigerte sich entschieden, seinen Freund Frowein auch nur einmal noch heimzubegleiten. So hitzig hatte er sich den Empfang nicht gedacht.
»Ich schäm mich zu arg,« meinte er. »Seit ich den Vorzug habe, deine Frau zu kennen, weiß ich ja überhaupt erst, wat für einen hundsgemeinen Keil ich bin.«
»Ja, das bildet,« sagte Frowein und ging gewaltig pfeifend an die Arbeit.– –
Ein paar Wochen später ging Fritz Stoltenkamp mit müdem Gesicht in das Zimmer zur Mutter. Frau Margarete sah ihn erschrocken an. »Was hast du, Fritz? Bist du krank? Das Gesicht kenn ich nicht an dir ...«
»Sei mir nicht bös, Mutter. Ich hätt es dir gern erspart. Gerade dir, Mutter, nach all deinen Sorgen. Ich muß stillegen.«
»Stillegen? Das Werk stillegen? Darüber kämst du nie im Leben weg.«
»Werd schon drüber wegkommen müssen. Wie, weiß ich heut noch nicht. Meine Leute tun mir leid. Haben so treu ausgehalten in dieser verdammten Zeit. Und nun doch umsonst. Die Pariser Zahlungen sind ausgeblieben. Der Vertreter schreibt, der Pöbel hätte mein Lager gestürmt und ausgeräumt und verwüstet. Keine Bank leiht mehr einen Groschen. Heute ist Donnerstag. Und am Samstag kann ich zum erstenmal meine Leute nicht auslohnen.«
Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich mit starrem Blick ans Fenster.
Frau Margarete war ganz blaß geworden. »Deine Leute – nicht auslohnen?«
»Denk mal, Mutter, was die Frauen sagen werden, wenn die Männer ohne den verdienten Lohn nach Haus kommen? Die müssen ja den Glauben an mich verlieren, die Frauen. Die Männer kennen mich ja besser und würden mich verstehen. Und würden in ein paar Wochen auch Mann für Mann wieder antreten. Aber ich hab doch die Verantwortung für sie. Ich glaub, ich werd ihnen später nie mehr frank und frei in die Augen sehen können.«
Da legte ihm Frau Margarete die Hand auf den niedergebeugten Kopf.
»Das mußt du können, Fritz. Und der felsenfeste Glaube der Leute an den Herrn darf nie verloren gehen. Dadurch hast du das Werk in den schweren Zeiten hochgebracht. Ist der Frowein noch da?«
»Der Frowein, Mutter? Ja, der ist noch da. Es wird gleich Feierabend gepfiffen.«
»Sag ihm, daß er nicht weggehen möchte. Er soll herüberkommen und mir helfen. Deine Leute werden am Sonnabend ausgelohnt werden, und dann ist immer noch eine Woche bis zum nächsten Lohntag, und wenn ich richtig rechne, mein ich, müßt es auch für den nächsten Lohntag noch reichen.«
»Mutter, du kannst helfen? Du weißt noch einen Ausweg?«
»Ich hab noch das Familiensilber, Fritz. Das von Großmutter Stoltenkamp ererbte und das von meinen Eltern. Heute wollen wir uns freuen, daß die Alten ein wenig verschwenderisch gelebt haben. Und von deinem Vater hab ich noch die goldenen Halsketten und Armbänder, Fritz. Er mußte mich ja immer schmücken. Auch das war gut.«
»Mutter, nein, Mutter – das ist nicht möglich – dir – das Letzte nehmen ...«
»Du, Fritz, deine Leute haben doch auch Kinder? Vielleicht auch ganz kleine darunter, die immer den ärgsten Hunger haben –«
Fritz Stoltenkamp stand kerzengerade. »Du hast recht, Mutter. Ich ruf dir den Frowein.«
Es war eine halbe Stunde nach Feierabend. Der letzte Mann war verschwunden. Da trugen Fritz Stoltenkamp und Frowein in Körben das Familiensilber vom Wohnhaus in den Schmelzraum, und Frau Margarete folgte ihnen, den perlengestickten Handarbeitsbeutel am Arm, der ihren Goldschmuck barg, die seligen Erinnerungszeichen ihrer Frauenjugend. Fritz Stoltenkamp holte ein paar neue Tiegel heran. Und Frowein nahm die Teller, die Kannen und Becher, die Aufsätze und Schaustücke und schlug sie wortlos mit dem Hammer zusammen. Die Tiegel wanderten in den Ofen. Und Frau Margarete Stoltenkamp legte ihren Goldschmuck Stück für Stück selber in einen Tiegel und nahm lächelnd Abschied.
Frowein rollte der Frau einen kleinen Amboß als Sitz heran. Nur die Glut des Schmelzofens erleuchtete den nächtlichen und arbeitsstillen Raum. Keiner sprach. Sie hockten um den Ofen herum und starrten in die Glut, in der der blinkende Stolz alter Bürgergeschlechter, der goldene Dank eines Verliebten zusammenschmolz zum Lohngeld für hundert Arbeiterfamilien.
»Jetzt,« sagte Fritz Stoltenkamp, und er holte mit Frowein die Tiegel heraus und goß ihren Inhalt in Barren aus.
»Ich bringe sie morgen in die Düsseldorfer Münze, Mutter.«
Es war tiefe Nacht, als sie über den Fabrikhof schritten. Die Sterne glänzten am Himmel.
»Das war das Letzte,« sagte Fritz Stoltenkamp. »Jetzt kann uns nur noch ein Wunder retten.« –
*