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Im Güterwagen

Fünfzehn Wochen wanderten wir schon die Schienen entlang – fünfzehn Wochen, in denen wir kein Bett und meistens auch kein Dach über dem Kopfe gehabt hatten! Stumpf und schweigsam turnten wir über die Schwellen; rechts und links eine im Sonnenschein glitzernde Schiene.

Vorgestern hatten wir einem Farmer droben in den Bergen am Delaware zwei Fuhren Stroh geladen. Der brave Mann hatte jedem von uns 20 Cents gegeben; wir hatten vergessen, unseren Lohn vorher auszumachen. Waren eben immer noch nicht »smart« geworden in dieser feinen Gegend! Mein Vetter hatte ihm einen Segenswunsch gemurmelt, ich hörte etwas von »Hölle« und »verdammt sein«.

Heute hatten wir immer noch 20 Cents in unserer gemeinschaftlichen Kasse, und das trotz des Überhandnehmens von Kaufläden mit verlockenden Keks, Bananen usw. Wir hatten es eben weit gebracht in der Abtötung des Fleisches. Das heutige Frühstück hatte in zwei Wassermelonen bestanden, die Kurt aus einem Garten gestohlen hatte. Jetzt trabten wir mit gesenkten Köpfen dahin, talabwärts, der Küste, der Heimat zu ...

Die Anzeichen mehrten sich, daß wir uns New York näherten. Überall, an Zaunpfählen, Telegraphenstangen, Bäumen klebten Reklameschilder aller möglichen Geschäfte. »Wo kaufen alle Menschen ihre Garderobe? Nur bei Tailor & Cie.« »Versichern Sie sich in der Granit-Life-Insurance! Wir sind Ihre besten Freunde!« »16 Meilen nach Hallers Restaurant. Die besten Austern der Welt!« –

Ja, noch 16 Meilen! Dann verließen wir Amerika. Ich hatte meinem Vetter versprochen, mit nach Deutschland zu fahren, wenn wir bis New York keine Arbeit fänden. Jetzt war es so weit. Vom Staate Missouri, wo wir beide auf einer Farm gearbeitet hatten, waren wir bis hierher gelaufen, hatten auf Hunderten von Farmen nach Arbeit gefragt und immer dieselbe gleichbleibende Antwort erhalten: »Well, es ist zu trocken jetzt, wir können nichts tun, Regen muß kommen, dann gibt's Arbeit!« Es kam aber kein Regen und damit auch keine Arbeit.

Wir hatten nichts, als was wir auf dem Leibe trugen, und das war wahrhaftig nicht viel, und so sollte es heimwärts gehen. Ich hätte wenigstens gern ein Andenken mit nach Hause gebracht; auch das war nun nicht möglich. Ich knirschte mit den Zähnen und hüllte mich dann zusammenschauernd in meine Jacke. Was wollte ich denn? Ich hatte ja das Andenken schon, die Malaria.

Kurt sah mich an und fragte: »Schon wieder? Nun, komm mit runter, dort sehe ich Häuser, vielleicht gehören die schon zu Jersey-City, dort hat es ein Ende.«

Ich nickte, und wir stiegen den Bahndamm herab.

Eine Viertelstunde waren wir gegangen, da kam ein leeres Lastautomobil der Singer Mfg. Cie. hinter uns her. Sofort wußten wir, was zu tun war. Einer stellte sich rechts, der andere links von der Straße auf. Als es vorbei fuhr, waren wir mit zwei Panthersprüngen hinten droben. Länger als eine Stunde fuhren wir mit, bis der Lastwagen endlich mitten in Jersey-City hielt.

Kurt drängte, wir sollten sofort einmal nach Hoboken hinuntergehen, nach dem Hafen, Er wollte Schiffe sehen, der gute Junge, Teile der Heimat, nach der er sich sehnte. Ich konnte es ihm nicht verdenken und ging mit.

Unten an dem Pier der H.A.P.A.G. wurde der Phlegmatiker auf einmal lebendig: »Warte mal, ich komme gleich wieder,« sagte er und verschwand durch das breite Gittertor.

Nach zehn Minuten kam er, mit einem großen halben Schwarzbrot bewaffnet, freudestrahlend wieder angerannt und entwischte trotz des eifrigen Protestes eines am Tor wachenden Beamten, der das Brot wahrscheinlich erst verzollt wissen wollte.

Emsig kauend schritten wir an den langen Passagierhallen des Lloyd, der Holland-Amerika-Linie und anderer Schiffahrtsgesellschaften vorüber, über deren Dächer die Masten und Schornsteine der großen Passagierdampfer in den roten Abendhimmel ragten. Draußen im Centrypark setzten wir uns auf eine Bank und überlegten, wo wir die Nacht verbringen wollten. Ich war für einen Eisenbahnwagen, der Moskitos wegen, Kurt meinte, im Park wäre die Luft gesünder.

Auf unserer Bank saßen zwei Kohlenzieher von »Wilhelm II.«, dessen vier gelbe Schornsteine vom Wasser heraufleuchteten.

»Das mag alles wahr sein«, sagte soeben der eine zum anderen, »aber mich kriegen keine zehn Pferde wieder auf den verfluchten Kasten. Soll ich krepieren, dann lieber hier vor Hunger, als daß ich mich auf dem Schiff zu Tode schinde für die Verrücktheit des Oberheizers, dieses Hundes!«

Wir freundeten uns mit ihnen an und machten ihnen klar, wie gegenwärtig der Wind hierzulande stand. Der eine ging auch aufs Schiff zurück, doch der andre wollte trotz unsern Unkenrufen sein Glück in Dollaria versuchen.

Er schlief mit uns im Park. Es war windig geworden, und die Moskitos waren erträglich, meine zwei Kameraden schliefen wie die Toten. Ich hatte wieder das schönste Fieber und nickte erst gegen Morgen ein.

Geweckt wurde ich auf sonderbare Weise. Ich fühlte nämlich plötzlich einen elektrischen Schlag an der Fußsohle. Wie der Blitz fuhr ich in die Höhe und starrte erschrocken einen dicken Policeman an, der ruhig, ohne ein Wort zu verlieren, erst dem Trimmer und dann meinem Vetter mit seinem Hickory-Knüttel eins über die Fußsohlen hieb. Der Mann schien früher einmal »Bastonadschie« in der Türkei gewesen zu sein. Auf diese entschieden praktische Weise wurden nach und nach etwa zwanzig Vagabonden geweckt, die über den Park zerstreut schliefen. Dann steckte der Dicke seinen Knüppel wieder ein und ging seine Runde weiter.

Wir drei waren über diesen unangenehmen Guten-Morgen-Gruß nicht wenig erbost, und beschlossen, nächste Nacht ein anderes Hotel aufzusuchen, wo man die Gäste höflicher behandelte.

Tagsüber erkundigten wir uns bei verschiedenen Agenten nach Schiffen, die »Rüberarbeiter« nach Europa brauchten. »Wilhelm II.« suchte vierzig Mann, einige als Ersatz für Kranke, die anderen für davongelaufene Heizer und Trimmer. Wir dachten eine Weile an die nicht gerade ermunternden Worte des Trimmers, gingen aber doch hin. Das Schicksal bewahrte uns vor dieser Art der »christlichen Seefahrt«, der Arzt wies mich als krank zurück. Da verzichtete auch Kurt.

Abends schliefen wir in einem Eisenbahnwagen, der auf einem mit Rost bedeckten Gleise stand. Ich schloß daraus, daß er wohl auch diese Nacht nicht rangiert werden würde.

Denselben scharfsinnigen Schluß schienen aber auch andere gezogen zu haben, denn als ich mit meinem brennenden Lichtstümpfchen in den Wagen kletterte, wäre ich einem dort Liegenden beinahe auf die Füße getreten. Einem anderen stieß ich mit dem Fuße ein wenig in das Gesicht, er brummte: »Goddam, son of a bitch« und war dann ruhig.

In diesem Wagen lagen 14 Tramps, Arme und Enterbte der Weltstadt, die drüben über dem Hudson, in ein Lichtmeer getaucht, toste, deren vier Millionen Einwohner ihr Leben in wahnwitziger Jagd nach dem Dollar verbrachten!

Am nächsten Tage wurde uns Hoffnung gemacht, mit dem Dampfer »Potsdam« der Holland-Amerika-Linie fortzukommen.

Schon am Nachmittag stieg ich hinunter zur Shore-road, der Uferbahn, und suchte mir einen passenden Wagen und ein paar alte Bastdecken für die Nacht. Ich versteckte das Himmelbett sorgfältig.

Als es dunkel wurde, gingen Kurt und ich nach unserem beweglichen Gasthofe. Der Trimmer war das Hungern doch wohl nicht so gewöhnt gewesen wie wir und war zu den Margarinetöpfen des Lloyd zurückgekehrt.

Ich erschrak einigermaßen, als ich schon zwei Tramps in meinem Logis vorfand, die entsetzlich schnarchten und leider ebenso stanken. Wir machten es uns in der anderen Hälfte des Wagens bequem. Mein Vetter schlief sofort ein, ich gar nicht.

Drei Stunden mochte ich schon gelegen und meinen ziemlich trüben Gedanken Audienz gegeben haben, als ich plötzlich ein Geräusch an der Schiebetür des Wagens hörte.

Ein Mann stieg herein, schob leise wieder zu und kam dann in der Dunkelheit in unsere Ecke getapst. Er berührte mich mit den Händen erst an den Füßen, tastete dann am Körper herauf und fuhr mir schließlich mit seiner schweißigen Hand ins Gesicht.

Das wurde mir zu dumm, und ich fragte ihn leise, was er in des Teufels Namen denn wolle.

Er fragte ebenso leise: »Hast du ein Streichholz?« »Ja«, sagte ich, gab ihm zwei und auch mein Licht.

»Well well«, sagte er und zündete es an. Das war es, was ich wollte, nun konnte ich mir den nächtlichen Gast besehen.

Er sah sich rasch im Kreise um, ich merkte dabei, daß er von schmächtiger, kleiner Gestalt war. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Sehr leise und vorsichtig zog er jetzt eine Nummer des »New York Herald« aus der Tasche und breitete die einzelnen Beilagen auf dem Boden aus. Nun brachte er einen großen schwarzen Revolver aus der Hüftentasche, wickelte ihn in sein Taschentuch und legte beides in seinen weichen Filzhut. Dann steckte er die linke Hand in die Hosentasche, legte sich langsam auf seine Papierbogen nieder und schob sich den Hut unter den Kopf.

Ich löschte das Licht aus, das er neben mich auf den Boden gestellt hatte. Bald hörte ich an seinen tiefen Atemzügen, daß er eingeschlafen war. Ich versuchte ein gleiches zu tun.

Wirklich mochte ich ein paar Stunden geschlafen haben, als ich, ich weiß nicht aus welcher Ursache, wieder erwachte. Um mich herrschte tiefe Stille und Dunkelheit. Die beiden Tramps hatten erfreulicherweise ihr Schnarchen eingestellt.

Es war dumpf und schwül. Draußen auf dem Strome ertönte das tiefe Pfeifen eines großen Dampfers. Ich warf mich auf die andere Seite und wollte wieder einschlafen. Da hörte ich den Mann auf dem »New York Herald« plötzlich sagen:

»Haltet ihn fest!« –

»Wen soll ich denn festhalten –« wollte ich schon fragen. Da stieß er hervor:

»Nimm das Messer, er soll ...«

Das andere erstarb in einem undeutlichen Gemurmel.

Der Mann sprach im Traum, und zwar recht schöne Sachen! Er schien vorm Schlafengehen einen Räuberroman gelesen zu haben.

»Binde ihn und herunter ins Wasser, wir haben das Geld, wir haben ...«

Nanu, das klang aber gar nicht mehr wie gelesen, schon mehr wie erlebt!

Ich stieß Kurt an, einmal, zweimal, vergebens, der schlief wie ein Bär.

Der Fremde wälzte sich unruhig, auf einmal schrie er gellend:

»Hold him down, down, you damned fool!«

Davon erwachte Kurt, auch die beiden Tramps wurden unruhig.

Kurt stieß mich an und fragte:

»Du, Artur, was brüllst du denn hier herum?«

Ich berichtete ihm mit leiser Stimme wer gebrüllt hatte und was ich über den unheimlichen Schlafgenossen wußte.

»Der hat sicherlich einen umgebracht«, meinte Kurt, »schlaf mal ein bißchen mit Sorgen, daß der uns nicht unsere 5 Cents maust. Wenn er wieder losgröhlt, gibst du ihm eins auf den Kopf, sonst kommt noch der Wächter!«

Der Fremde murmelte manchmal noch ein wenig und schien dann wieder fest zu schlafen. Auch Kurt schlief bald wieder ein, und Schweigen herrschte ringsum. Ich verfiel in unruhigen Schlummer.

Bald war ich wieder munter. Ich hatte einen Fieberanfall und klapperte vor plötzlichem Frost mit den Zähnen. Ein Moskito summte mir am Ohr, durch eine Ritze der Wagenwand fiel ein verschwommener Lichtschimmer herein.

Da erwachte auch der Mörder neben mir. Er stand auf, legte seine Zeitung zusammen und steckte den Revolver und das Taschentuch ein. Den Hut behielt er in der Hand. Dann sah er mich eine Weile an, bis er merkte, daß auch ich die Augen geöffnet hatte, nickte mir zu, wandte sich hastig um und ging zur Wagentür. Die schob er leise ein Stückchen auf und lugte hinaus. Dabei sah ich, daß er schwarzes, langes Haar hatte, in der Mitte war es gescheitelt. Sein Gesicht war hager. Er mochte ungefähr 25 Jahre alt sein, doch kann man sich bei einem Amerikaner da sehr irren.

Er klopfte sich noch ein wenig seinen hübschen Anzug ab, sah noch einmal rechts und links den Zug entlang und sprang hinab. Ich hörte ihn unten aufspringen und – hörte noch etwas: »Kling, kling, kling« – – – Klang das nicht wie Geld, wie Gold?

Mit einem Satze war ich an der Tür. Die Sonne schien mir weiß und trotz der frühen Morgenstunde sengend ins Gesicht; ich sah im ersten Moment gar nichts. Aber dann sah ich etwas, und werde es wohl auch nicht wieder vergessen im Leben. – Unten stand der Fremde und stierte mich an mit einem Blick, in dem ein furchtbarer Schreck und eine wahnsinnige Angst lagen! Dann bückte er sich und hob etwas auf, Geld, goldene 20-Dollarstücke, von denen einige auf dem Boden verstreut lagen. Die waren ihm wohl beim Aufspringen aus der Tasche gefallen. Also darum hatte er immer die Hand in der Tasche gehabt!

Ich stieß vor Überraschung einen lauten Ruf aus und sprang hinunter.

Er hörte das, und ohne sich nur aufzurichten, jagte er plötzlich in gebückter Haltung davon, über die Gleise weg, einer Badeanstalt zu, die der Bahn gegenüber lag.

Mein erster Gedanke war das Geld. Ich wagte mich gar nicht umzusehen, so erregte mich der Gedanke, etwa noch eins oder gar mehrere dieser großen seltenen Goldvögel zu finden.

Was konnte man dafür kaufen – und ich war gerade hungrig!

Wirklich, da lag eins, und an der Schiene noch eins! Schnell bückte ich mich, hob eins auf und wollte gerade auf das nächste los, als ich jemand auf der anderen Seite des Wagens hörte.

Im Nu war ich mir der Gefahr bewußt, die es hier für uns gab. Ich richtete mich auf und brüllte laut: »Stop!« Über die Puffer unseres Wagens sprang ein Mann in Uniform, eine erloschene Laterne in der Hand, ein Wächter.

»Was gibt's hier?«

Mit schnellen Worten erzählte ich ihm alles, zeigte ihm das Geld und dann auch den Fremden, der, ein Stück entfernt, an den langen Reihen leerer Güterwagen dahinrannte.

»Yes, so war es«, sagte eine ruhige Stimme über uns. Es war Kurt. Er stand in der geöffneten Tür und gähnte in einer fürchterlichen Weise.

Der Wächter hatte mit erstaunlicher Schnelligkeit das Goldstück und noch zwei andere aufgehoben und eingesteckt. Dann fragte er mich, ob ich noch mehr hätte.

Ich sagte ruhig »No« und »No« bekräftigte auch mein Vetter. Ich rief ihm auf Englisch zu, er möge mitkommen und den Flüchtling fangen.

Jetzt besann sich auch der Wächter darauf, daß es vielleicht angebracht wäre, des Mannes habhaft zu werden und rannte spornstreichs mit mir davon. Ich lief nicht weit, dann stolperte ich über eine Schiene und fiel hin, mit Absicht natürlich. Der Wächter sauste weiter, dabei aus Leibeskräften brüllend:

»Stop, Stop! Catch him!«

»Wenn du kannst«, setzte ich hinzu und eilte zum Wagen zurück. Von Kurt sah ich nur die Beine, er steckte unter dem Wagen und suchte nach Geld. Ihm war es gar nicht eingefallen, mitzulaufen. Als er mich kommen hörte, kroch er rückwärts hervor und fragte mich:

»Hast du was von dem Mammon erwischt?«

Ich nickte und zog ihn vom Wagen weg, der Tramps wegen, die noch im Wagen waren.

Ich machte mir keine Gedanken, das Geld zu behalten. Es wäre todsicher in der unergründlichen Tasche eines amerikanischen Beamten verschwunden.

Im Centrypark, wo wir uns wuschen, erwischte uns der Schiffsagent und sagte uns, wir sollten uns beeilen, wenn wir mitwollten, die »Potsdam« gehe um 9 Uhr in See.

Wir haben uns doch noch ein Andenken und jeder einen Anzug für fünf Dollar gekauft. Eine Stunde später fuhren wir auf dem Holländer zum New-Yorker Hafen hinaus. Wir hatten unser letztes amerikanisches Abenteuer hinter uns.


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