Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Tagelang nachher ging die arme kleine Ilse mit dem Gefühle umher: »So etwas überlebt man nicht«. Ältere Menschen würden ob dieses Glaubens gelächelt haben, mit ein bißchen wehmütiger Sehnsucht nach den eigenen Jahren, da solch Empfinden noch möglich war; aber keine älteren Menschen erfuhren ja, daß dem Kind eine Welt vernichtet worden, wenn auch nur eine geträumte Welt. Ilse besaß niemand, mit dem sie sich aussprechen konnte, die Wirklichkeit, die sie umgab, war für Gefühlsgeständnisse wenig geeignet – vielleicht war das mit ein Grund, daß sie sich so leicht ein Märchenschloß geschaffen hatte. So versenkte sie sich ganz in das, was ihre siebzehn Jahre für einen lebenslänglichen Kummer hielten. – Was wäre denn das auch für ein Gefühl, das nicht lebenslänglich wäre? fragte sie sich mit der Intransigenz der Jugend, die nur Werden und noch nie Vergehen erlebt hat.

Als sie dann aber bemerkte, daß die Tage sich aneinander reihten, ohne den erwarteten Tod zu bringen, ja daß sogar der anfängliche Appetitmangel und die Schlaflosigkeit vor der Macht der Zeit wichen, sagte sie sich: »Ich bin offenbar zum Sterben zu gesund und vielleicht ist das gut so, denn für den armen kränklichen Papa wäre es doch hart, ganz allein mit Greinchen zurück zu bleiben, aber aller Hoffnung und Lebensfreude bin ich gestorben, für mich kann es nur noch ein Dasein strengster Pflichterfüllung geben«. Und wie einst das Zauberschloß des blauen Ritters so malte sie sich nun die graue Stadt des Entsagens aus. Zwischen Papa und Greinchen würde sie die vielen, vielen Jahre vorüber schleichen sehen, und je älter Greinchen würde, desto mehr würde es ihr zufallen, die Damastservietten zu stopfen und aufzupassen, daß die Fenster ganz so blitzblank geputzt würden, als ob es sich je noch verlohnen könnte, durch ihre Scheiben hinauszublicken. Ja, so würde des Lebens Melodie werden! Keine wiegende, wehmütig süße Walzerweise – nein, eintönig knarrend wie ein Göpel, den müde Pferde im Kreise drehen.

Ilses Interesse an den Rehen des gegenüber liegenden Gartens, den Torten des schäbigen Konditorladens und den frühen Predigten Pastor Schmidts war völlig geschwunden, und wenn sie jetzt von weitem das Pferdegetrappel ausrückender Schwadronen vernahm, so schloß sie eiligst das Eckfenster, setzte sich ans Klavier und übte Tonleitern, mit aller Kraft ihrer schlanken Finger. Es war überhaupt merkwürdig, wie sehr in dieser Zeit der alte Flügel sie anzog, von dem sie mal gehört, daß er noch von der Mutter ihrer Mutter stamme. Als sei er ihr einziger Freund. Ein Freund, von dem sie dunkel ahnte, daß er Töne für alle leiden berge, wenn es nur gelänge, sie ihm zu entlocken. Suchend tastete sie nach dem, was in den Saiten schlummern mochte, in schmerzlichem Bedürfnis sich selbst auszusprechen, wußte nicht, daß dieser künstlerische Drang, für inneres Erleben eine besondere Sprache zu finden, ein ererbtes Gut war, von der einstmaligen Besitzerin des Flügels auf sie, die Enkelin, übergegangen. – In Einsamkeit stand sie vor all dem sich unbewußt leise in ihr Regendem. Der wohlmeinende, aber stets kränkelnde Papa, das um dessen Gesundheit dauernd besorgte Greinchen waren wohl nicht die geeigneten Menschen, dem Kinde sein inneres Wesen zu erklären und seinen Lebensweg so zu leiten, daß die Anlagen, die ihm durch Abstammung überkommen sein mochten, Entfaltung fänden. – So kam es, daß Ilse weniger noch von sich wußte als andere Siebzehnjährige, und bei der völligen Abgeschiedenheit, in der sie gelebt, auch gar nicht ermessen konnte, welcher Boden künftig ihrer Entwicklung gedeihlich sein würde.

So vergingen einige Monate, die Ilse so schrecklich lang schienen, wie die Zeit nur die noch ganz Jungen dünkt.

Dann erhielt sie einen Heiratsantrag von Herrn von Zehren.

Sie erhielt ihn durch Papa übermittelt, denn der Bewerber war ein korrekter Mann und hatte sich vor allem der väterlichen Zustimmung vergewissert.

»Ich brauche dir nicht erst zu versichern, daß du in deinen Entschließungen völlig frei bist«, sagte Papa, »aber ich kann nicht umhin, zu bemerken, wie sehr ich hoffe, daß du den ehrenvollen Antrag dieses ernsten Mannes wohl überlegen wirst«.

»Möchtest du denn nicht lieber, daß ich immer bei dir und Greinchen bliebe?« fragte Ilse.

»Wie könnte ich etwas so Unvernünftiges wünschen«, erwiderte Papa, »ich bin alt und krank, und in Herrn von Zehrens Händen wüßte ich dich sicher geborgen, wenn ich mal die Augen schließe. Seine Charaktereigenschaften bieten die Gewähr für ein solides, fest begründetes Familienglück«. Dann sprach Papa weiter von der materiellen Lage, die durchaus befriedigend und sicher sei. »Seit dem Tode seines einzigen Bruders ist Herr von Zehren Besitzer des Fideikommisses Weltsöden im Kreise Sandhagen, das er mit Hilfe seiner Mutter selbst bewirtschaftet. Er hat mir klar und offen über die dortigen Verhältnisse Aufschluß gegeben; es scheint ein Besitz zu sein, aus dem sich mit Kapital noch viel machen ließe. Und du hast ja das Vermögen deiner Mutter. Auch an künftige politische Betätigung denkt Herr von Zehren. – Auf eines freilich muß ich dich aufmerksam machen: er ist ein pflichteifriger Mann, gewohnt sich selbst nie zu schonen – als solcher wird er auch große Anforderungen an seine Frau stellen. Ein Leben ohne Verantwortung wie bisher wirst du dort nicht führen können: Du wirst großen Pflichten und Aufgaben gegenüber stehen.« Was Papa beinahe widerstrebend, um der Forderung unparteiischer Sachlichkeit zu genügen, hinzugesetzt hatte, und was manch anderes Mädchen abgeschreckt hätte, das war nun gerade für Ilse das Entscheidende. Hohe Pflichten und Aufgaben? Die wünschte sie sich ja! Nach einer Enttäuschung wie der jüngst erlebten, konnte es ja gar nichts anderes mehr für sie geben, – das Leben sollte hart und schwer sein und viel von ihr fordern, sie war bereit, großen Zwecken zu dienen. – An Herrn von Zehren selbst dachte sie dabei kaum – es erschien ihr wie eine Erleichterung und Rechtfertigung, daß sie für ihn so gar nichts von dem empfand, was ihre Phantasie für den Helden ihrer einstmaligen Träumereien erfüllt hatte.

So erklärte sie ihrem sichtlich erfreuten Vater ihre Bereitwilligkeit, die Werbung des ernsten pflichteifrigen Mannes anzunehmen.

Papa eilte aus dem Eckzimmer, wo die Unterredung stattgefunden und kehrte alsbald mit Herrn von Zehren zurück. Ilse hatte sich sein Erscheinen nicht so unmittelbar vorgestellt, und nun ward ihr doch etwas bang zumute, besonders als Papa sagte: »Jetzt sprecht Euch aus, liebe Kinder, ich will nicht stören«, und sie mit dem Fremden allein ließ.

Herr von Zehren kam mit langen Schritten zu ihr ans Eckfenster und ergriff ihre Hand. Er war sehr lang und sehr mager, und seine hagere Gestalt mit den abschüssigen Schultern endete in einem auffallend kleinen Kopfe. Er nahm in Wahrheit wenig Platz ein, aber Ilse war, als fülle er plötzlich das ganze Zimmer mit seiner Gegenwart. Unwillkürlich trat sie noch dichter ans Fenster zurück.

»Die Antwort, die mir soeben übermittelt worden ist, beglückt mich unendlich«, begann er. Sie wußte nicht, was darauf zu sagen und schwieg daher. Er fuhr fort: »Ich heiße Theophil, liebe IIse, willst du mich so nennen?«

»Ja, Herr von Zehren,« antwortete sie, »ich werde Sie Theophil nennen, wenn Sie es wünschen.«

Er lächelte, wie mädchenhaft scheu sie doch war!

»Aber du mußt auch du zu mir sagen«, sagte er.

»Ja, das werde ich wohl müssen, ... aber ... meinen Sie wirklich ... schon jetzt?«

»Ich bitte dich darum!« Plötzlich beugte er sich von seiner ganzen langen Höhe herab, und sie hatte die Empfindung, als sei sie unter die Klinge eines scharfen Taschenmessers geraten, das auf sie niederklappte. Sie hielt den Atem an. – Es tat aber nicht weh. Er hatte sie auf die Haare geküßt, und ein bißchen von dem Kuß hatte noch gerade ihre Stirn gestreift. Es war eine gleichgültige Empfindung ... eigentlich gar keine. – »Bei den meisten Dingen ist offenbar die Angst vorher das Schlimmste«, philosophierte Ilse innerlich, »was verheiratet sein eigentlich ist, weiß ich nicht, und hab ja auch niemand, den ich fragen könnte – aber damit wird es wohl ebenso gehen!«

»Hast du mich denn etwas gern?« hörte sie indessen Herrn von Zehren fragen.

»Nicht so sehr wie Papa und Greinchen«, antwortete sie sofort, »ich kenne Sie, ... dich ja auch noch nicht so lange.« Und dann setzte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu: »Wenn Sie aber meinen, daß das nicht genug ist, um sich zu verheiraten, so sagen Sie es mir bitte, nicht wahr? Ich habe so ein Gefühl, als ob es beim Heiraten vieles geben mag, was Sie besser wissen müssen als ich!«

Es war doch erquickend, solcher Unberührtheit in unserer Zeit zu begegnen, dachte er und sagte: »Du empfindest genau, wie man es von einem wohlerzogenen Mädchen unserer Gesellschaft nur wünschen kann, liebe Ilse. Wir erwarten ja auch von der Frau, die wir heiraten, eine andere Art Gefühle wie ... wie ... nun wie von den anderen. Und Liebe? – Nun, die findet sich bei gut gearteten, pflichtbewußten Frauen ganz von selbst in der Ehe.«

Am Abend dieses Tages schrieb Herr von Zehren seiner Mutter: »Sie ist in allem noch sehr jung, beinahe ein Kind, aber voll der besten Absichten und sicherlich leicht lenkbar, so daß alles Unerwünschte, genial Künstlerische, was etwa von der singenden Großmutter auf sie übergegangen sein könnte, ohne Mühe im Keim zu ersticken sein wird. Möchte es Dir, verehrteste Mutter, gelingen, sie zu modeln, daß sie Dir möglichst ähnlich werde! Ihre Gesundheit, nach der Du fragst, scheint mir vortrefflich: sie hat tadellose Zähne und volles Haar; sie ist noch recht mager, aber von ihrem guten Appetit konnte ich mich überzeugen und ich hörte, wie Fräulein Greiner sie ob ihres üblichen zehnstündigen Schlafes neckte; ich hielt es für richtig, da gleich zu erwähnen, daß in Weltsöden Winters um sechs und Sommers um fünf aufgestanden wird. Das Vermögen, das sie von ihrer Mutter direkt geerbt hat, das aber, wie Du weißt, vom alten Herzog Bernhard, ihrem morganatischen Großvater, stammt, ist größer noch, als wir dachten – so bildet es immerhin eine Entschädigung für die durch die Großmutter so sehr gestörte Ahnenreihe. Die Zinsen hat der Vater nicht, wie ihm freistand, verausgabt, sondern sie alljährlich zum Kapital geschlagen. Ich werde es jetzt, bei der Urbarmachung von Wüste Teufelstrift, gut verwenden können. – Der Vater scheint mir recht abgängig zu sein, und von ihm hat sie ja auch noch mal ein Erkleckliches zu erwarten. Väterlicherseits hat sie nur ganz entfernte Verwandte, wie Du wohl schon aus dem Gotha ersehen haben wirst; mütterlicherseits sind überhaupt keine vorhanden, was unter den gegebenen Verhältnissen ja eine Erleichterung ist.«


 << zurück weiter >>