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Als Walden sich dann vor Gräfin Helmstedts Hotel von Ilse verabschiedete, hatte er, ohne daß sie selbst recht wußte, wie es geschehen, von ihr erfahren, daß sie am nächsten Nachmittag einen Besuch in der Königin Augustastraße zu machen habe.

Wie zufällig begegnete er ihr dort, und dann gingen sie wieder zusammen, am Kanal entlang und unter den Bäumen, in denen der Saft stieg und die Knospen schwellten. Durch den schmalen Streifen Anlagen schritten sie, an der stillen Eckvilla der Von der Heydtstraße vorbei und weiter am einsamen Herkulesufer, drehten an der Brücke ganz von selbst wieder um, ohne daß einer den anderen gefragt, und gingen denselben Weg noch einmal zurück, achtlos auf alles um sie her. Sie sprachen unwillkürlich leise, obschon niemand sie belauschen konnte, nur um sich durch dies gemeinsame Flüstern noch mehr von der ganzen übrigen Welt abzusondern. Und jeder hörte in des anderen Stimme ein bisher unbekanntes Beben. Wie erste tastende Schritte einer Entdeckungsreise waren ihre oft zaghaften Worte, und sie hatten ja auch über das Neuland ihrer Seelen noch so viel voneinander zu erfahren. Und doch wollten sie sich schon gegenseitig ihre lange Zusammengehörigkeit beweisen, suchten nach gemeinsamem Erinnern, nannten den Tag, wo sie sich zuerst im Leben begegnet waren. Zum ersten Male – und doch: wie ein Wiederfinden von etwas, wonach sie lange schon Heimweh empfunden, war jenes erste Sehen ihnen beiden gewesen! Leise gestanden sie sich's unter den Knospen treibenden Bäumen.

»Und dann später in dem Bahnhof,« sagte er, »da blickten Sie mich an, wie ein armes Kind, dem ein großes Unrecht geschehen.«

Sie erschauerte in schmerzlichem Erinnern und antwortete: »Es geschieht so viel erlaubtes Unrecht auf Erden.«

Dann schwiegen sie beide. Sannen dem rätselhaften Wehen des Schicksalswindes nach, der mit den armen Menschenstäubchen oft so grausam spielt, die falschen unentrinnbar zusammen wirbelt und die rechten sich finden läßt, wenn es zu spät ist – zu spät.

Noch manchesmal gingen sie so, in eigenes Fühlen und Denken versunken. Achtlos alles übrigen, sahen sie nur einer den anderen.

Und immer unentbehrlicher wurden den beiden diese kurzen Begegnungen, wo sie sich so allein und weltentrückt dünkten. Dagegen hörten nun die Zusammenkünfte bei Helmstedts auf, denn diese verließen Berlin in dieser Zeit, um sich, wie beinahe alljährlich, für einige Monate in die Heimat der Gräfin zu begeben. Ilse sah sie zwar mit Bedauern scheiden, aber sie empfand doch nicht jene klaffende Lücke, vor der sie sich früher gefürchtet, wenn sie an diese bevorstehende Trennung gedacht. Es war eben etwas in ihr Leben getreten, das anderem kaum noch Raum ließ. – Gräfin Helmstedt ihrerseits mochte zwar eine Ahnung haben, was in Ilse vorging, aber sie hatte nicht daran rühren wollen, weil sie wohl wußte, daß die Warner vor Feuer oftmals die wahren Brandstifter sind. Nur beim Abschied hatte sie Ilse besonders zärtlich in die Arme geschlossen und ihr zugeflüstert: »Vergessen sie nie, Kindchen, daß ich Sie sehr lieb habe.« Dann waren andere Freunde herangetreten, und Ilse hatte ihr nur halb verträumt zunicken können.

*

Doch während Wolf und Ilse also weltvergessen in eines schönen Traumes Wegen wandelten, späheten und sahen andere Augen – auch übelwollende. Und Fräulein von St. Pierre in ihrem Hofdamenzimmerchen, das mit zahllosen Photographien höchster Personen geziert war, schrieb mit langen, spitzen Buchstaben: »So sehr Ihr Euch alle aber freuen könnt über das, was ich Dir, liebste Mechtild, von dem wachsenden Ansehen deines Schwagers geschrieben habe, so bedauerlich ist es, daß Deiner Schwägerin alles Verständnis zu fehlen scheint für die Pflichten, die ihr, als Frau gerade solch eines hervorragenden Mannes, obliegen. Anstatt für das große Glück, ihm anzugehören, in Demut dankbar zu sein und Euern alten Namen stolz zu hüten, scheint sie nur an persönliche Erfolge zu denken und verliert in der Sucht nach Bewunderung die richtige Haltung. Ich will absichtlich nichts Schlimmeres annehmen. Aber Tatsache ist, daß sie sich von einem Herrn von Walden aus dem diplomatischen Dienst auffallend die Kur machen läßt, ja daß man sie sogar abends auf einsamen Spaziergängen mit ihm beobachtet hat. Bei unserer nahen Verwandtschaft und meiner großen Verehrung für Eure ganze Familie hielt ich es für meine peinliche aber gebieterische Pflicht, Dich, liebste Mechtild, hiervon in Kenntnis zu setzen.«

Mechtild, die gerade müde und verbittert am Bette ihrer an einem Ohrengeschwür leidenden Tochter Hetelwina saß, als ihr dieser Brief vom ländlichen Postboten gebracht wurde, vergaß darob sogar die mütterlichen Pflegepflichten, die so viele Stunden ihres eintönigen Daseins füllten. Sie sprang auf, ließ sich kaum Zeit, Mantel und Galoschen anzuziehen und eilte dann, trotz aller Müdigkeit, auf der durchweichten Landstraße nach Weltsöden. Sie, die ob ihrer neun Töchter gering geachtete, konnte es kaum erwarten, der Schwiegermutter zu zeigen, wieviel schlechter doch die Familie bei der Wahl der neuen Schwiegertochter gefahren sei, und wie nunmehr Güter gefährdet waren, die sie treu gehütet. So watete sie mit Fräulein von St. Pierres Brief in der Tasche und roten Flecken auf den abgehärmten Wangen durch den schier unergründlichen Schmutz ländlicher Frühlingswege zu ihrem Werk der Gerechtigkeit.

Das Ergebnis ihres Gesprächs mit Frau von Zehren war, daß diese ihren Koffer vom Boden herunter holen ließ, sowie den altertümlichen Beutel, dessen sie sich bei jeder Reise bediente und auf dem in Perlenstickerei ein Hündchen dargestellt war, das treulich einige Gepäckstücke bewachte. »Nicht alle Besitztümer werden so gut gehütet,« dachte Frau von Zehren, und ihre tückischen Äuglein glimmten hinter den weiten Wangenflächen, während sie Schwämme, Kamm und Zahnbürste, Filzschuhe und Nachthemd in den Beutel packte. Dann ließ sie noch zwei Spickgänse einwickeln, für die Weltsöden berühmt war. Rumkehr, Treumann, Mamsell und das ganze Dienstpersonal aber waren sprachlos: daß die gnädige Frau Mutter in dieser für die Landwirtschaft so wichtigen Zeit plötzlich Weltsöden verlassen könne, hätte keiner für möglich gehalten!

Wie ein Meteor fiel Frau von Zehren gegen Abend in die Wohnung in den Zelten. Sie traf nur den ob ihres plötzlichen Erscheinens ganz bestürzten Sohn zu Hause.

»Ist in Weltsöden etwas Schlimmes passiert?« war seine erste Frage.

»Um Weltsöden kannst du unbesorgt sein,« antwortete die Mutter, »da führe ich die Aufsicht. Es handelt sich um euch hier – und ich will nur hoffen, daß da noch nichts Schlimmes geschehen ist.«

Und indem sie die Bindebänder der kleinen Reisekapotte löste, begann sie sofort, dem Sohn mitzuteilen, welche Warnung sie erhalten.

Aber Theophil war nicht so bereit, sich beunruhigen zu lassen, wie Frau von Zehren erwartet hatte. Während dieser Monate der Unabhängigkeit und des steigenden Bewußtseins eigener Wichtigkeit hatte er sich der Bevormundung entwöhnt. Nicht ganz so kritiklos wie bisher hörte er der Mutter zu und empfand dabei peinlich, daß sie in den kleinen Berliner Stuben noch überwältigender wirkte als auf den weiten heimatlichen Feldern. So war sein erster Wunsch, diese ganze alberne Angelegenheit, die ihm da plötzlich aufgedrängt werden sollte, beiseite zu schieben.

»Verehrteste Mama,« sagte er gemessen, »meine Bescheidenheit verbietet mir, auf die Gefühle näher einzugehen, die bei Fräulein von St. Pierre mitgesprochen haben mögen, als sie es für nötig fand, Mechtild zu schreiben. Daß diese aber Ilse nicht sonderlich wohl will, weil sie eben die Nachfolgerin auf Weltsöden in ihr sieht, wissen wir doch alle.«

»Ganz schön, ganz schön!« rief Frau von Zehren, »aber die Tatsachen bleiben doch: die einsamen Abendspaziergänge mit einem Herrn!«

»Wenn Ilse wirklich etwas so Unüberlegtes getan hat, muß es ihr eben verwiesen werden,« erwiderte Theophil, »aber es können ja auch ganz zufällige Begegnungen gewesen sein.«

»Mit einem Herrn, der allgemein als ihr Kurmacher gilt?« fragte Frau von Zehren skeptisch.

»Verehrteste Mama,« antwortete Theophil mit überlegenem Lächeln, »wenn der Herr wirklich Ilsen die Kur macht, tut er mir leid – er könnte sich nämlich ebensogut um ein Stück Holz bemühen – ich kenn sie doch.«

In diesem Augenblick erscholl die Flurklingel, dann vernahm man Ilses Stimme draußen im Vorplatz, und Theophil setzte rasch hinzu: »Da kommt sie übrigens selbst, und du kannst sie ja nun persönlich nach allem befragen.«

Die Tür ging auf und Ilse trat ein. Eine andere wie die vor wenigen Monaten aus Weltsöden abgereiste, das fühlte Frau von Zehren sofort. Freier schien sie, selbstvertrauender, wie jemand, der durch irgendein Vorkommnis des eigenen Wertes bewußt geworden. Und viel, viel hübscher sah sie aus, konstatierte die Schwiegermutter beinahe widerstrebend, aber freilich, setzte sie in Gedanken hinzu, was vermögen nicht die großstädtischen Schneiderinnen, gegen deren Künste das Strafgesetz eigentlich Paragraphen enthalten sollte.

Theophil, der bis dahin aus Bequemlichkeit Ilse eher verteidigt hatte, fühlte nun bei ihrem Anblick eine plötzliche Gereiztheit: Schließlich war sie es doch, die diese ganze unerquickliche Auseinandersetzung über ihn heraufbeschworen hatte und an dem lästigen mütterlichen Überfall schuld war, – und dies alles in einem Augenblick, wo seine Zeit und ungeschmälerten Kräfte den wichtigen Fragen des Staatswohls gehören sollten. Kaum hatte denn auch Ilse die Schwiegermutter begrüßt, so fragte er sie unwirsch: »Wo kommst du denn her?« und war eigentlich auf ein verlegenes Ausweichen gefaßt.

Aber Ilse antwortete ganz unbefangen: »Ich war draußen bei Greinchen.«

»Natürlich,« sagte Theophil ärgerlich, »eine Person, die sicher mit schuld ist an dem Testament deines Vaters, das mich lächerlich macht, die erscheint dir als passender Umgang.«

Und Frau von Zehren setzte seufzend hinzu: »Ja, ja, Ilse, mein armes Theophilchen hat recht, du scheinst überhaupt alle Sorge um sein Ansehen und seinen Namen zu vergessen – ich bin eigens deshalb hierher gereist ...«

»Du mußt mich entschuldigen, verehrteste Mama,« unterbrach sie Theophil, der die Uhr gezogen hatte, »aber ich werde zu einer Kommissionsberatung erwartet, und du besprichst das alles auch wohl am besten mit Ilse allein.«

Froh, einen Grund zu haben, allen weiteren Erörterungen zu entgehen, verließ er das Zimmer schnelleren Schritts, als seine Feierlichkeit sonst zuließ. Doch von der Tür aus wandte er sich noch einmal an Ilse: »Schenke den Worten meiner Mutter Beachtung, liebes Kind!«

Kaum waren die Damen allein, so sagte Frau von Zehren auf Ilse zuschreitend: »Also du hast einen Liebhaber!«

Ilse prallte zurück und schrie auf: »Das ist nicht wahr!«

»Es freut mich, dich dies so bestimmt behaupten zu hören,« sagte die ältere Frau, »aber wenn du dich derart benimmst, daß die ganze Stadt es für wahr hält, kommt es eigentlich aufs selbe heraus.«

»Aber was habe ich denn getan?« fragte Ilse mit bebender Stimme.

»Nun, alle Welt hat dich mit diesem Herrn von Walden nachts in den Straßen gesehen – das willst du doch nicht etwa leugnen?«

»Ich bin ein paarmal mit ihm spazieren gegangen,« antwortete Ilse, »aber niemals des Nachts – doch wenn auch – wäre das wahr, was du vorhin sagtest, so würden wir uns doch wohl anderswo wie in der Straße sprechen können.«

»Du scheinst ja in solchen Dingen sehr gut Bescheid zu wissen,« sagte Frau von Zehren mit einem tückischen Blick der kleinen Äuglein, »nun, wenn du dich so unschuldig fühlst, wirst du es auch gern beweisen wollen: Ich bin gekommen, dich nach Weltsöden mitzunehmen.«

»Nein, nein!« rief Ilse, »das ist unmöglich!«

»Unmöglich?« wiederholte die Schwiegermutter gedehnt, »so steht es also doch?«

»Aber ich kann mich doch nicht wie ein unartiges kleines Mädchen wegführen lassen!« entgegnete Ilse mit Entrüstung, »ich hab ja gar nichts getan – ich glaube ... du hättest jedes Wort hören können, was wir gesprochen haben.«

»Um so unverständlicher ist deine Weigerung,« sagte Frau von Zehren, »wenn du aber dabei bleibst, werden dein Mann und ich eben auf andere Mittel sinnen müssen, dich von diesem Herrn zu trennen.«

Wieder funkelten die kleinen Augen so tückisch, daß Ilse plötzlich von einer sinnlosen Angst um Wolf ergriffen wurde. Als müsse sie sich schützend vor ihn werfen.

»Ihr wollt ihm doch nichts tun?« stieß sie hervor.

»Ihm?« wiederholte Frau von Zehren spöttisch. »Sei unbesorgt – sicher nicht so, wie du zu glauben scheinst – dazu wäre mir mein Theophilchen denn doch wirklich zu schade. Wir werden morgen eine Entscheidung treffen.«

Die ganze Nacht lag Ilse mit weit geöffneten Augen da. Sie konnte nicht schlafen, weil gar zu viel in ihr wach geworden. Was sie sich nicht einmal als Möglichkeit flüsternd zugestanden, das war ihr als Tatsache mit lauten Worten entgegengeschleudert worden.

Wie hatte die Schwiegermutter doch gesagt? Du hast einen Liebhaber? – Zischend, als ob mit glühenden Eisen ein Schandmal in zuckendes Fleisch gebrannt würde, so hatte es geklungen. – Und war doch eigentlich ein so hübsches Wort: einer, der einen anderen lieb hat. – Das sollte wohl jeder für jeden sein. Aber so hatte es die Schwiegermutter nicht gemeint. Denn die Menschen lieben einander so wenig, daß dies Wort für sie nur einen Sinn besitzt. – Eine einzige Beziehung gibt es also, in der man – sich wirklich lieb hat?

Und in den langen Stunden der Nacht dachte Ilse an Dinge, die ihrem Wesen bisher fremd geblieben.

Am Morgen, als es sacht im Zimmer zu dämmern begann, traf wie immer der erste Frühlichtstrahl den bunten Druck, auf dem die viktorianischen Schönen so eifrig zu spähen schienen. –

Jetzt wußte Ilse, daß, so lange er auch zögern mag, der Sieger endlich doch einmal kommt.


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