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Und das war die barmherzigste Zeit, als nichts mehr war. Später war wieder etwas da, wie aus weiten Fernen zurückgekommen, das litt. Lange Stunden. Als ob das Leiden nie enden würde. Aber dann endete es doch. Allmählich.

Aber nicht, als sei der Schmerz vorüber, sondern als sei das Etwas zu schwach geworden, um noch zu empfinden. Nur keine Bewegung, keinen Laut, daß der Schmerz nicht wieder fühlbar wird. Ganz still lag das Etwas, lange Stunden. –

Später einmal, da öffneten sich die Augen. Blickten mit müdem Erstaunen. Fanden sich nicht zurecht. Was hatten sie denn früher beim Erwachen gesehen? Eine braune Tapete ... Gardinen mit Straminstickerei ... die waren nicht mehr da. Vielleicht hatten die Motten sie gefressen? Es war ja wohl alles sehr lange her. Alles? Was denn? –

Nun suchten die Augen. Ein Asternstrauß stand da. Was für andere Blumen hatten die Augen denn zuletzt gesehen? War da nicht einmal ein Zweig roter Rosen gewesen? Ja, rote Rosen, halb verwelkt, auf einem dunklen Flur hingesunken – und darunter – ein finsterer Schlund und auf seinem Grunde Leiden, Leiden. –

Nun wußte sie alles wieder. Verstand auch, was seitdem geschehen. Besann sich plötzlich auf Dinge, die Spuren in ihrem Gedächtnis hinterlassen hatten, und die sie doch ohne Bewußtsein ihres Geschehens erlebt haben mußte. – Jetzt erkannte sie auch, wo sie lag. Das leere Zimmer war es. Und Worte, die sie einmal vor langer Zeit gehört, tönten in ihrem Erinnern, Worte in Dr. Liebetraus Stimme: »Tragt sie ins leere Zimmer, da ist's am ruhigsten.« Und dann etwas später war da eine andere Stimme gewesen: »Mein armes Kind,« hatte die ganz leise und immer wieder gesagt, »mein armes Kind!«

Aber eigentlich klang es, als sagte sie: »Es ist doch schlimm, ja sehr schlimm.« –

»Papa,« sagte Ilse, sie wußte ja nun, daß er die ganze lange Zeit dagewesen. –

Und da war er auch schon. In dem Sessel neben ihrem Bette saß er, mager und zusammengeschrumpft – als sei weniger von ihm da wie damals – wo sie ihn zuletzt gesehen – wo er noch sagte: »Es ist ja nicht so schlimm.« – Ob er jetzt wußte, wie es wirklich war? Vielleicht, denn er sah so blaß, so vergrämt aus. – Sie versuchte, ihm die Hand hinzustrecken. Eine ganz mager und klein gewordene Hand, und der glatte goldene Ring, der immer die Neigung gehabt, herabzugleiten, war fort. Mußte wohl in der langen Zeit endgültig weggerollt sein. –

»Erzähl mir, Papa,« bat sie leise, »was alles gewesen.«

Behutsam, schonend sprach er von ihrem Sturz, von der langen schweren Krankheit. – »Du wußtest wohl damals selbst gar nicht, daß du ein Kindchen erwartetest,« fragte er flüsternd. Sie schüttelte den Kopf, und ein nachträgliches Entsetzen stieg in ihre Augen. »Theophil und seine Mutter sind sehr unglücklich,« fuhr Papa fort, »denn all diese Hoffnungen sind ja nun vernichtet – und es ist ja auch traurig.« –

Ilse atmete tief und mußte wohl noch sehr schwach sein, denn ungehindert ließ sie den Gedanken auch gleich zu Worten werden: »Ach nein, Papa, das ist gut so – es wäre ja doch wohl wie sie geworden.« –

»Still, still, Kind,« wehrte Papa ängstlich. »Jetzt im Wachen darfst du so etwas nicht sagen.«

»Hab ich während der Krankheit viel so gesprochen?«

Papa nickte und flüsterte: »Aber ich hab die anderen dann immer herausgeschickt.«

Ihre Augen trafen sich, und Ilse sah: Ja, Papa wußte nun, wie es wirklich war. –

»Greinchen oder ich waren immer bei dir,« fuhr Papa fort.

Greinchen, ach ja, Ilse entsann sich, deren Stimme hatte sie ja auch in den Fieberträumen zu vernehmen geglaubt. –

»Ich ließ Greinchen nachkommen, sobald ich sah, wie schlimm es um dich stand,« erzählte Papa. –

»Und die anderen?« fragte Ilse nach einer Weile.

»Oh, sie waren alle sehr erschrocken und besorgt,« antwortete Papa, »der arme Theophil, deine Schwiegermutter, deine Schwägerin und ein Fräulein von St. Pierre, die gerade zu Besuch bei ihr war; auch die Kummerfelder und vor allem die beiden alten Stiftsdamen haben sich beständig nach dir erkundigt.« –

»Ja, ja,« sagte Ilse gleichgültig, »aber andere? waren nicht auch andere da?«

»Gräfin Helmstedt ist alle Tage selbst gekommen,« erwiderte Papa, »die Blumen dort brachte sie – sie sagte, es solle etwas von ihr dastehen, wenn du erwachen würdest.«

Papa schwieg eine Weile und sagte dann leiser: »Sie hat viel über dich mit mir gesprochen.« Und wieder schwieg er, seufzte und murmelte vor sich hin: »Ach Kind! man will ja immer das Beste, aber man weiß so wenig.«

Es waren hindämmernde, noch halb traumhafte Empfindungen, in denen Ilse die nächsten Tage verbrachte. Die Jugend in ihr konnte nicht anders, als sich über das rückkehrende Lebensbewußtsein freuen, aber die Erinnerung fürchtete sich davor, das Dasein von neuem aufnehmen zu müssen. – Es wäre schön gewesen, noch recht lange so weiter liegen zu können, geborgen durch Papas und Greinchens Gegenwart. Die beiden verstanden es, ihr ganz unauffällig alles Störende fernzuhalten, scharfe Klänge zu mildern, Reibungen zu verhüten. – Aber daß all das doch da war und ihrer wartete, das wußte Ilse wohl, wenn Papa und Greinchen erst fort waren, dann würde alles wieder sein wie früher, schlimmer vielleicht, denn sie fühlte ja, daß manche Gegensätze noch angewachsen waren, daß ihre Krankheit wie eine lange Reise gewirkt hatte, von der man, scharfsichtiger geworden, zurückkehrt: sie las nicht nur Enttäuschung, sondern auch Vorwurf in Frau von Zehrens und Theophils Augen. Sie selbst dagegen empfand nicht nur Gleichgültigkeit, nein, etwas wie Erlösung. – Sie sann jetzt oft nach über jene Möglichkeit, die, ihr selbst unbewußt, ihr Leben eine kurze Spanne Zeit enthalten hatte. Ein furchtbares Geheimnis schien es. Wenn sie daran dachte, empfand sie wie jemand, dem Gewalt angetan worden. Wieder und wieder fragte sie sich mit nachträglichem Schauder: Wie durfte so etwas überhaupt geschehen, wenn nicht des eigenen Wesens Innerstes dazu ja gesagt?

Über Papa war eine Unruhe gekommen, er drängte nach Hause, seit es Ilse besser ging, wollte sich unterwegs in Berlin aufhalten, wo er mit seinem langjährigen Berater, Justizrat Schilderer, dringende Geschäfte habe. – »Solltest du je einen Rat brauchen, so wende dich an den,« sagte Papa, und Ilse zuckte die Achseln – was gab es da zu raten? Sie mußte eben suchen, die Wirklichkeit möglichst zu vergessen und sich wieder auf ihre geheime Insel retten. Von ihrem Bette aus schaute sie nach dem Flügel, der in eine Ecke geschoben worden war – dort war ihre geheime Insel. –

Als Ilse ihre Tage schon wieder auf dem Sofa verbringen konnte, reisten Papa und Greinchen ab. Es war dann zuletzt, trotz all seines Drängens, als ob sich Papa gar nicht von Ilse trennen könne, immer wieder griff er nach ihrer Hand, streichelte die lose hängenden Haare, hob das weiße schmale Gesicht in die Höhe und blickte in die noch größer gewordenen Augen. – ›Warum sind wir je auseinander gegangen, da wir doch so sehr zusammengehören?‹ dachten sie beide. Und Papa beantwortete die stumme Frage: »Ich bin ein kranker Mann, Kind, ich wollte gut für dich sorgen,« sagte er traurig. – In Ilse aber regte sich die Gegenfrage: »Gibt es denn keine andere Weise, für eine Frau zu sorgen, wie sie einem Mann zu geben?« –

Ach, wer doch stark und frei wäre, sich ein eigenes Leben zu schaffen! –

Über den Kiesplatz drunten rollte nun der Wagen davon, in dem Theophil Papa und Greinchen nach Sandhagen fuhr. – Bei dem verhallenden Ton wollte es wie verzagende Hoffnungslosigkeit und bange Ahnung unwiderruflichen Abschieds in Ilse aufsteigen, aber sie bezwang sich: Stark und frei mußte man werden, sich ein eigenes Leben schaffen – und wenn es auch schon zu spät scheint. –

So erhob sie sich vom Sofa, schritt auf noch schwachen Füßen zum Klavier. – Zaghaft zuerst berührten ihre Finger die Tasten, suchten die Begleitungen der Lieder, die sie vor Monden zuletzt gesungen, fanden sie wieder gleich einst gekannten Zauberformeln und mit ihnen all die Hoffnungen, die geheimen Seligkeiten jener vergangenen Tage. – Ja, singen wollte sie wieder, singen, in den hellsten, jauchzendsten Tönen ihrer Stimme, Töne, denen sie selbst damals oft mit erstauntem Entzücken gelauscht. Ein Preislied sollte erschallen, daß ihr in allem Elend dies eine große Glück des Gesanges gegeben! –

Ihre Augen strahlten, sie öffnete die Lippen: Ein schmetterndes Preislied sollte es werden!

Aber was war das? Wo blieb der erwartete Schall? Kaum ein Ton entrang sich ihrer Kehle ... nicht mal ein Echo früherer Klänge rief ihr mühsames Pressen hervor. – Entsetzt und doch noch ungläubig versuchte sie es abermals, versuchte statt des Liedes einzelne Töne, versuchte es leise, versuchte es laut. – Das konnte doch nicht wahr sein? Sie mußte sich geirrt haben. – Aber da war kein Irrtum, – die Stimme war verschwunden, war statt ihrer gestorben. – Die Stimme, die ein neues Leben ersingen sollte. –

Da stützte sie die Arme auf den Flügeldeckel, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte fassungslos. –

So fand sie Dr. Liebetrau, der von Frau von Zehren zu seinem täglichen Besuch hereingeführt wurde.

»Ja, ja, mein Kind,« sagte Frau von Zehren freundlicher als sonst, als sie Ilses tränenüberströmtes Antlitz gewahrte, »es fängt nun wohl an, dir zum Bewußtsein zu kommen, welch Unglück deine unzeitige Krankheit über die Familie gebracht hat! Da magst du freilich weinen.«

»Doktor,« rief Ilse noch ganz benommen und ohne Frau von Zehrens Worte recht verstanden zu haben, »liebster Doktor, ich habe ... meine Stimme verloren – ich kann nicht mehr singen!« und sie fing wieder zu schluchzen an. –

»Darüber weinst du?« rief Frau von Zehren, und die kleinen tückischen Äuglein funkelten über den weiten Wangenflächen, »an solche Lappalien vermagst du zu denken, wo Weltsöden vielleicht an die Kummerfelder kommen wird – denn Liebetrau meint ja, daß du nun doch wohl schwerlich mehr ...«

»Aber, aber,« unterbrach sie der Arzt, »lassen wir doch all das und freuen wir uns, daß die junge Gnädige uns überhaupt erhalten geblieben ist.«

»Ja, aber bester Liebetrau! können Sie denn das verstehen!« erwiderte erregt Frau von Zehren, »sein Lebtag hat man's mit Gott und der Kirche gehalten, und nun muß man das erleben: Diese kleine Anne Dore, wo doch gar nichts drauf ankommt, die muß man da mit zwei, sage mit zwei Jungens sehen – und bei uns, wo es sich doch ums Erlöschen der ältesten Linie handelt – bei uns – ich frag Sie: wo ist da noch eine Gerechtigkeit?«

»Ich sehe auch wahrhaftig keinen Grund zur Freude, bloß weil ich am Leben geblieben bin, Dr. Liebetrau,« fiel Ilse bitter ein, »denn was soll mir Leben an sich – das Singen war ja doch meine einzigste Freude – und nun hat mir ein sinnloses Schicksal meinen eigensten Lebenszweck genommen!« –

Dr. Liebetrau schnupfte und schneuzte sich in das türkisch gemusterte Taschentuch und blickte dabei mit der wehmütigen Nachsicht, die er für alle Gebrechen hatte, auf die beiden gegen stärkere Macht hadernden Frauen. – Und doch, dachte er, werden sie beide lernen müssen, sich davor zu beugen, ob die eine es nun Gott und die andere Schicksal nennt: denn keinem von uns wird es erspart, Opfer zu bringen, und zwar ist es immer gerade das Liebste, was als schwerstes Opfer von einem jeden gefordert wird. Der einen hier ist es der alte Fetisch der Familie, der anderen der moderne Abgott der Ausbildung eigener Gaben. –

Laut sagte er dann zu den beiden: »Jedes Leben endet mit Entsagung, mit dem Mosesblick auf Länder, zu denen wir nie gelangen – aber wir können wenigstens trachten, einer dem anderen den Weg zu erleichtern, auch wenn wir Zweck und Ziel nicht verstehen.« –

Ilse erschauerte, da sie von des Arztes Lippen das Wort vernahm, dem sie immer wieder begegnete – Entsagung. – Der Name stand auf so vielen Wegweisern – führten denn alle Straßen dorthin? – und war auch sie schon von unerbittlicher Macht endgültig auf solche Straße gedrängt? – – –


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