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Bald nach ihrer Ankunft in Weltsöden hatten Theophil und Frau von Zehren Ilse in der Nachbarschaft vorgestellt; da aber die meisten umliegenden Güter von lauter Zehren bewohnt wurden, so war durch diesen Verkehr kein sonderlich neues Element in ihr Leben getreten. Sie wurden zu mehr oder minder feierlichen Diners eingeladen, deren Stunde zwischen drei und sechs Uhr schwankte. Man saß lange zu Tisch bei kräftig nahrhaften Speisen und stand schwer und mit geröteten Köpfen auf. Von den Angelegenheiten der verschiedenen Verwandten wurde gesprochen, von Kornpreisen, Viehzucht, künstlichem Dünger und Holzverkäufen. Manchmal auch streifte man Fragen der inneren Politik, da aber alle Anwesenden zu derselben Kaste gehörten und über solche Dinge nur die in dieser Kaste als selbstverständlich geltenden Ansichten hegten, so kam es nie zu einer Diskussion: etwas so Unstandesgemäßes wie abweichende Meinungen über derartige fundamentale Begriffe hätte keiner dem anderen überhaupt zugetraut. Eher schon gab es in landwirtschaftlichen Fragen auseinandergehende Anschauungen, weil da jeder persönliche Erfahrungen gesammelt hatte.
Sobald nach dem Essen Kaffee und Liköre von den anwesenden jungen Mädchen gereicht worden waren, wanderten die Herren, lange schwere Zigarren paffend, zu den Wirtschaftsgebäuden, um Vieh und Scheunen, Brennerei und Ziegelei zu besichtigen. Frauen, die ihre Güter selbst bewirtschafteten, schlossen sich solchem Rundgang der Männer bisweilen auch an, während die anderen in Wohnzimmer oder Veranda sitzen blieben, oder auch, durch Park und Gemüsegarten schlendernd, gegen die Sehnsucht nach dem gewohnten Mittagsschläfchen ankämpften.
Die Damen befanden sich bei diesen Vereinigungen immer in der Mehrzahl, denn die Söhne der verschiedenen Familien waren abwesend, auf Universitäten und in Regimentern, während die zahlreichen Töchter daheim saßen und in standesgemäßer Tatenlosigkeit einer Schicksalswendung entgegenharrten. Sie alle besaßen irgendein kleines Talentchen, das gepflegt wurde, um die vielen Stunden der langen Tage zu füllen. Die liebe Emmy malte für Weihnachten und Geburtstage Blumen auf seidene Fächer; Karolinchen brannte unter heftigem Benzingeruch Ritterburgen auf hölzerne Schreibmappen für die Brüder, Hirschköpfe auf die Ofenbank in Papas altdeutschem Zimmer; unsere Hedwig übte fleißig Clementi; Gabriele verstand es sogar, Geschehnisse des Familienlebens in artige Knittelverse zu kleiden und mit solchen bei festlichen Gelegenheiten zu erfreuen. All diese Dinge wurden mit Wichtigkeit von Müttern und Tanten behandelt, die doch alle wußten, daß sie nur das wohlerzogene Warten verbergen sollten und in den erhofften Ehen alsobald verschwinden würden.
In diesen Diners wurden häufig die jeweiligen Gutspastoren mit ihren Frauen geladen. Es entsprang dies nicht besonderen religiösen Bedürfnissen, denn Religion war den meisten mehr eine Schicklichkeits- wie Herzensfrage, etwas, worüber man eigentlich gar nicht nachdenkt, sondern was so selbstverständlich ist, wie daß man vor dem König Front macht. Aber man wollte nach außen dokumentieren, daß weltlicher Besitz und geistliche Macht zusammengehören, und Theophil sagte würdevoll: »wir benötigen den Einfluß des Pastors bei den Wahlen, daher müssen wir auch seine soziale Stellung möglichst stützen.«
Ein anderer in der ganzen Gegend oft hinzugezogener Gast war Dr. Liebetrau. Nicht etwa geistiger Übereinstimmung halber. Hatte doch die Cousine Zehren-Kandau sogar einst über ihn geflüstert: »Ich fürchte bisweilen wirklich, unser alter Liebetrau glaubt nicht mal an den lieben Gott,« worauf die Tanten Askania und Lidwine beschwichtigend antworteten: »Dann würde der liebe Gott ihm doch sicher nicht die Gnade zuteil werden lassen, so viele Menschen zu heilen.« – Es ging aber von dem alten Mann mit der gebirgsartigen Nase und den klugen Äuglein ein solcher Zauber von Wohlwollen und Verständnis für jedes Leid aus, daß ihm alle Frauen halb unbewußt gewogen waren. – Und Dr. Liebetrau, der vor langen Jahren schon als Witwer in die Gegend gekommen und seitdem einsam hauste, studierte auch außerhalb des Krankenzimmers mit Vorliebe seine weiblichen Patienten. Nach den Diners blieb er immer im Kreise der Damen.
An einem solchen Nachmittag des frühen Frühjahrs erzählte er: »Ich war heute morgen in Frohhausen – der Graf und die Gräfin sind wieder da.«
Man spitzte die Ohren. Augen, die sich schon in einschläfernder Verdauungslangweile schlossen, öffneten sich wieder. Auch Ilse, die im Kreise würdiger Landmatronen saß, horchte gespannt auf, denn sie war schon oft an den geschlossenen Pforten des großen Frohhausener Parks vorbei gekommen und hatte bedauert, daß dieses, Weltsöden zunächst gelegene Gut unbewohnt war.
Die Gastgeberin, Frau von Zehren-Kandau, sagte seufzend: »Ich habe es auch schon gehört – ja, wenn die Helmstedts nur nicht gar so schlecht zu uns paßten.«
»Das ist nicht zu verwundern,« meinte Theophils Mutter abfällig. »Sie haben hier ja nie dauernd gelebt, sondern sind immer in der Welt herumgezogen.«
»Ach Designatus, wie schrecklich muß das sein!« sagte die alte, behäbige, glatt gescheitelte Pastorin zu ihrem Mann, dem alten Pastor Rockstroh. Der antwortete: »Ja, ja, die Gebundenheit an die ländliche Scholle ist und bleibt eben doch das stärkste Bollwerk gegen die zersetzenden Kräfte eines Weltbürgertums.«
»Ich meine aber nicht nur das,« fuhr Frau von Zehren-Kandau fort, »bei dem Beruf des Grafen sind ihm allerdings die natürlichen Interessen eines landeingesessenen Edelmannes etwas abhanden gekommen, aber unsere Herren würden ihm jetzt, wo er den Abschied genommen hat, ja gern helfen, daß er hier die richtige Stellung gewinnt, in den Kreisausschuß und sogar in den Provinziallandtag kömmt, – nein, nein, viel schwieriger ist die Frage mit ihr!«
»Ja, da hast du recht,« warf Frau von Zehren-Kummerfelde ein, »denn man weiß wirklich nicht, worüber man mit ihr sprechen soll. Bei all ihrer Liebenswürdigkeit fühl ich mich doch immer ungemütlich, und ich kann den Verdacht nicht los werden, daß sie eigentlich im stillen auf uns herabsieht.«
»Na, dazu hat sie doch wahrhaftig keinen Grund!« rief die blasse Mechtild so eifrig, daß auf ihren farblosen Wangen rote Flecken aufflammten. »Man weiß doch, wieviel über sie und ihre erste Ehe gemunkelt worden ist – die vielen Kurmacher! Und ... ihrem jetzigen Manne soll sie ja schon damals recht ... nun ... recht nahe gestanden haben.«
Die welken Gesichter der alten Stiftsdamen erröteten verschämt, und Tante Askania sagte begütigend: »wir dürfen nicht vergessen, sie ist eben keine Deutsche.«
Und Tante Lidwine setzte hinzu mit dem Gefühl, alle Mängel zu erklären: »Sie ist vor allem keine Protestantin.«
»Aber mein gnädigstes Fräulein,« griff nun der alte Pastor Rockstroh mit dem Bewußtsein ein, lobenswerte Objektivität zu üben, »ich muß doch bemerken, daß auch die katholische Kirche die Nichtbeachtung des sechsten Gebotes verdammt.«
»Mag sein, Herr Pastor, mag sein,« entgegnete Frau von Zehren-Kandau, »aber sie werden uns nie einreden, daß solche Fragen von Leuten wahrhaft ernst genommen werden, die nur zu beichten brauchen und dann gleich von neuem anfangen können.«
»Die Beichte,« sagte der alte Pastor, »ist mir eigentlich das Sympathischste in der katholischen Kirche – man muß dadurch mancher armen Seele helfen können.«
»Aber Designatus!« entfuhr es vorwurfsvoll der alten Pastorin, die mit Beichtstühlen vage, unheimliche Vorstellungen verband.
»Ja, ja,« stimmte Dr. Liebetrau sinnend dem Pastor zu, »es läßt sich in der Tat manches dafür anführen. Den Protestantinnen ersetzen übrigens wir Ärzte und gelegentlich auch Rechtsanwälte die Beichtväter.«
»Na, na, bester Liebetrau, wer hätte denn Ihnen schon gebeichtet?« fragte Theophils Mutter.
»Aber viele, meine gnädigste Frau, viele!« antwortete der alte Arzt, »denn man beichtet ja oft, ohne es selbst zu wissen! Um übrigens auf Gräfin Helmstedt zurückzukommen, so habe ich immer gehört, daß sie allen Grund gehabt hätte, in ihrer ersten Ehe sehr unglücklich zu sein.«
»Das ist aber doch keine Entschuldigung!« rief Mechtild.
»Ob es eine Entschuldigung ist?« sagte Liebetrau bedächtig, »dabei käme es wohl auf das Forum an. Aber die häufigste Erklärung für das, was man Unrechttun nennt, wird wohl immer das Unglücklichsein bleiben!«
In diesem Augenblick wurde zum Abendimbiß gerufen, mit dem solche Zusammenkünfte ihren Abschluß fanden. Dr. Liebetrau blieb einen Augenblick in der Veranda zurück, klappte den mit Nettelbecks Bild gezierten Deckel der Horndose auf und brachte seiner hügelreichen Nase den langentbehrten Schnupftabak dar. Ilse hatte auf ihn gewartet und spielte gedankenverloren mit ihrem Trauring, der immer noch die Tendenz hatte, leicht herabzugleiten. Nachdem Dr. Liebetrau reichlich geschnupft, geniest und geschnaubt hatte, sagte er zu ihr: »Die Gräfin Helmstedt hat mich übrigens sehr nach Ihnen gefragt.«
»Nach mir?« fragte Ilse erstaunt, »warum denn?«
»Wenn ich recht verstand, hat sie durch gemeinsame Bekannte von Ihnen gehört, und sie freut sich darauf, Sie kennen zu lernen, – während sie den meisten Menschen hier, wie Sie ja schon hörten, eher kühl gegenübersteht. Ich glaube übrigens, Ihnen wird Sie gefallen.«
Ilse errötete, ohne recht zu wissen, warum. Unter Dr. Liebetraus klugem und zugleich nachsichtigem Blick hatte sie die Empfindung, als habe auch sie, ohne es zu wissen, ihm schon gebeichtet, und als ahne er, daß wer ihrer Umgebung kühl gegenüberstand, vielleicht wohl Aussicht hatte, ihr selbst verwandt zu sein.
Bald darauf wurden die Wagen gemeldet, und die Gäste, die nicht, weiter Entfernungen halber, in Kandau selbst übernachteten, bekleideten sich mit all den verschiedenen Hüllen, Staub- und Regenmänteln, Lodenkapes, flauschigen weiten Fahrulstern, Kapuzenkragen und weichen Tüchern, wie sie sich nur in alten Landhäusern ansammeln. Dann fuhren sie in den verschiedensten Richtungen davon.
Auch Frau von Zehren, Theophil und Ilse hatten den offenen Weltsödener Wagen bestiegen und waren abgefahren. Nach einigen Minuten hielt Jochem an und vertauschte den Livreezylinder, den er in die mitgebrachte Pappschachtel tat, mit der Mütze. Dann ging es in mildem Trab weiter.
Es war eine seltsam laue und einschläfernde Luft, und wirklich vernahm Ilse auch bald die regelmäßigen Atemzüge Theophils und seiner Mutter; sie selbst blieb wach und genoß dies Gefühl, allein wach zu sein. Sie ward sich plötzlich bewußt, daß während der letzten Wochen unendlich viel bisher Ungeahntes in dämmerhaften Umrissen an ihrem Horizonte aufgetaucht war, durch die Bücher, die sie gelesen, wie auch durch manche Aussprüche Dr. Liebetraus. Sie fühlte sich hilflos und wie beängstigt vor all diesem Neuen. Die Welt war voller Fragezeichen.
Nun kamen sie an Frohhausen vorüber. Heute brannte Licht in der alten Laterne über dem großen Eingangstor zum Parke. Zu beiden Seiten standen alte einstöckige Pförtnerhäuschen mit hohen, abgesetzten Dächern. Dahinter erstreckte sich die dunkle Baummasse der breiten Lindenallee, die zum Schlosse führte. Der Fahrweg folgte von da ab eine Strecke lang der Umfassungsmauer des Parks. Es war sandiger Boden. Aus dem milden Trab waren die Pferde in Schritt übergegangen. Oben auf dem Bock senkte Jochem den Kopf, ein paarmal vorwärts, ein paarmal seitwärts, richtete sich dann aber jedesmal erschrocken wieder auf – doch schließlich war auch er wie seine Herrschaft eingenickt.
Und in der tiefen nächtlichen Stille war es Ilse, als schwebe zu ihr, der allein wachenden, aus der Richtung des unsichtbaren Schlosses der leise Klang eines fernen, unbekannten Liedes.