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Als halbwüchsiges Mädchen hatte sich Ilse in einen Leutnant verliebt. In Deutschland ist der erste beinahe immer ein Leutnant. Dieser war Dragoner. Was Wunder also, daß zu jener Zeit der Himmel Ilse besonders schön dünkte, mahnte er sie doch an eine geliebte blaue Uniform; was Wunder auch, daß sie, wenn die ersten Sterne zu funkeln begannen, flugs nach dem Orion suchte – dies ferne Gestirn erschien ihr ja nur wie das himmlische Abbild einer glänzenden Schärpe und zweier Epauletten und Sporen, das eigens für sie allabendlich am nachtblauen Himmelszelt angezündet wurde! – Den Leutnant unter den Sternen kannte Ilse viel besser wie den lebenden Leutnant auf Erden. Diesen kannte eigentlich nur Papa, vom Club her, wo sich abends die Herrenwelt des Städtchens traf – und da er Papa grüßte, hatte es sich allmählich so gemacht, daß er auch Ilse grüßte.

In jenem fernen Frühling stand Ilse viel an den Fenstern des Eckhauses der Reh- und Breitenstraße, das sie mit ihrem alten Vater und dem alten Hausfräulein Greiner, genannt Greinchen, bewohnte. Gegenüber erstreckte sich ein weiter Garten voll blühender Büsche und hoher rauschender Räume, und in einem umgitterten Gehege dicht an der Straße liefen da viel zahme Rehe und Hirsche umher; furchtlos streckten sie das schwarze feuchte Geäse zwischen den Stäben hervor, ließen sich füttern und auf der braunen weichen Decke streicheln. Ilse hatte dies als kleines Mädchen täglich getan, und wenn sie jetzt so häufig am Fenster stand und hinausschaute, glaubten der alte Vater und das alte Hausfräulein nicht anders, als daß ihre Blicke den Rehen galten und freuten sich ob ihres noch so kindlichen Sinnes. – Aber nicht den Tieren des Waldes, die hier in behäbiger Gefangenschaft einstmalige Freiheit vergaßen, schenkte Ilse so reges Interesse, nein, sie spähte die Breitestraße hinab, durch die, von der Kaserne kommend, das Dragonerregiment morgens früh, blink und blank mit klingendem Spiel zum Exerzierplatz auszog und durch die es einige Stunden später, heiß und verstaubt, zurückzukehren pflegte.

Manchmal geschah es, daß der blaue Leutnant Ilse oben am Fenster gewahrte; dann zog er die Zügel plötzlich scharf an und benutzte unmerklich die Sporen, so daß sein schwarzes Pferd, erstaunt ob so unsanfter Behandlung, unruhig zu tänzeln begann, wodurch der tadellose Sitz seines Reiters so recht zur Geltung kam; der grüßte dabei mit eleganter Bewegung zum Fenster hinauf, als wolle er sagen: ein wildes Roß zu bändigen, läßt mir noch immer Muße, nach einem hübschen Mädchen zu blicken.

Nach solchem Morgengruß lag auf dem ganzen Tag ein festlicher Glanz für Ilse.

Doch noch andere Gelegenheiten fand sie, den blauen Helden ihrer Träume zu erblicken.

Soweit Ilse zurückdenken konnte, war sie alle Nachmittage mit der alten Hausdame spazieren gegangen. Diese hegte eine besondere Vorliebe für die stille vornehme Rosalienstraße, in der eine erstaunliche Anzahl wohlhabender alter Jungfern und Witwen wohnte und ein durch Kaffeevisiten und die Beobachtung der Nächsten mild gewürztes Dasein führten. Zu letzterem Zweck hatten sie an denjenigen Parterrefenstern ihrer Häuser, hinter denen sich ihre Lieblingssitzplätzchen befanden, kleine in die Straße hinausspringende Spiegel anbringen lassen, in denen sie die wenigen Leute, die unten vorübergingen, bequem sehen konnten. Ilse haßte schon als Kind die Straße mit den kleinen Spiegeln, hinter denen die alten Damen wie Spinnen lauerten; sie hatte damals sogar eine Neigung gezeigt, vor jedem der kleinen Scheiben die Zunge herauszustrecken, bis ihr bedeutet worden, daß dies ein Körperteil sei, den sittsame kleine Mädchen nur dem Arzt auf Verlangen weisen dürfen. – Jetzt aber dünkte sie die Langweile der Rosalienstraße, in deren Einöde sich nur selten eine blaue Uniform wagte, ganz unerträglich. Mit viel List gelang es ihr, Greinchen manchmal die Breitestraße hinabzuführen, an deren Ende sich die große gelbe Dragonerkaserne erhob. Ihr gegenüber lag eine kleine schäbige Konditorei, und Ilse, die sonst gar nicht gern Kuchen aß, erklärte nun häufig ein besonderes Verlangen nach einer bestimmten Tortenart zu empfinden, die nirgends so gut wie dort zu haben sei. Solch kindlichen Wunsch erfüllte Greinchen natürlich gern, und während Ilse in dem ärmlichen Laden langsam und mit Überwindung ein Stück Torte nach dem anderen verzehrte, spähte sie nach der Kaserne – und wirklich traf es sich bisweilen, daß sie den Leutnant dort ein- oder ausgehen sah.

Auch entdeckte Ilse in ihrer Seele ein plötzliches warmes Interesse an den Predigten des Militärpfarrers Schmidt, die dieser Sonntags früh um acht Uhr, in der Stadtkirche auf dem Marktplatz mit dem Obelisken, vor den von ihren Offizieren geführten Dragonern zu halten pflegte. Alle Sonntag Morgen ging sie nun dorthin. Ilses Liebe gebot eben über Opferfreudigkeit mannigfaltigster Art! –

Auf diesen schwachen Grundlagen hatte Ilse, mit der Genügsamkeit frühester weiblicher Jugend, die vor Greifbarerem beinahe ängstlich zurückschreckt, ein traumhaft zartes Zauberschloß in ihrer Phantasie errichtet. Fein wie Spinnengewebe waren seine Wände, vor jedem Hauch rauher Alltäglichkeit wäre das duftige Gebilde zerronnen – und doch war es in seiner durchsichtigen Körperlosigkeit die eine große geheimnisvolle Realität ihres Daseins geworden. Ein in völliger Einsamkeit aufgewachsenes Kind, führte sie in diesem selbst ersonnenen Märchenlande ihr eigentliches Leben; was sich da zutrug, erschien ihr viel wahrer wie das, was man Wirklichkeit nannte, und die traumhaften Harmonien, die sie dort vernahm, übertönten des Alltags gleichmäßig leiernde weise; durch jene Gefilde schwebte ja auch ein blauer Märchenprinz, der auf Erden ein Dragoneroffizier war.

Und welch seltsame Möglichkeiten malte sich Ilse doch aus, wenn sie abends spät im Dunkeln noch einmal ans offene Eckfenster trat. Drüben im Garten schliefen dann längst die Rehe, aber den Fliederduft und das raunende Rauschen der Bäume wehte der Nachtwind ihr zu. Geheimnisvolle Lieder glaubte sie zu vernehmen, süße Töne, die sie wie auf weichen Schwingen in ferne Sphären trugen. Ihr Herz dehnte sich dabei in einer unendlichen Sehnsucht – wonach sie sich aber sehnte, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Worte gab es dafür nicht, nur in leisen Melodien – die von selbst aus ihres Wesens Tiefen auf ihre Lippen stiegen, erzählte sie es alles der lauschenden Nacht. Es war in ihr ein beinahe schmerzhaft starkes Empfinden der Frühlingsschönheit da draußen, ein unbewußter Wunsch, dies Empfinden noch irgendwie bis zur Unerträglichkeit zu steigern, ein hilfloses Tasten in lauter Unbekanntem, ein Bedürfnis der Hingabe, der Aufopferung, der Selbstvernichtung. Aber strahlende Persönlichkeiten, hehrste Aufgaben müßten es sein, für die sie das eigene Ich darbringen würde. Mit dem kränklichen Papa abends Patiencen legen, Greinchen die Strickwolle wickeln, das waren keine Dinge, für die man sich begeistern konnte – und Begeisterung – ja Begeisterung war das Element ihrer Seele. Im Schwung und ergriffen von etwas Großem – da würde sie alles vermögen, da würde Opfer Wonne sein.

Von Kriegsgefahren war zu jener Zeit, wie so oft im Frühjahr, mal wieder die Rede auf der Welt. Ilse durchfuhr das Wort wie eine scharfe Klinge; sie sah sofort im Geiste das blaue Regiment stolz und glänzend ausrücken, sah es in steter Gefahr weiter ziehend durch feindliches Land, sah den blauen Ritter in mörderischer Schlacht. Aber – nicht allein sollte er da sein – nein, als Marketenderin, als barmherzige Schwester, irgendwie würde es ihr gelingen, bei ihm zu stehen, und irgendwie würde sie die ihm bestimmte Kugel auffangen, würde sich schützend vor ihn werfen und sein Leben durch Hingabe des ihren retten! Und bei dem Gedanken an solch Sterben, für ein des Sterbens wertes Ziel, glaubte sie nicht banges Trauergeläut zu vernehmen, sondern ihre Seele war erfüllt vom siegreichen Klang einer jubelnden Fanfare.

Eine verspätete, in nüchterne Jahrzehnte verschlagene Romantikerin mußte wohl die kleine Ilse sein, mit der regen, Gaukelbilder schaffenden Phantasie, der nach großen Erlebnissen dürstenden Seele, der schwärmenden Begeisterung – doch daß sie es war, ahnte sie nicht, war sich selbst noch größtes Geheimnis, wußte auch nicht, daß wem die Fähigkeit jauchzenden Jubels gegeben, ebenso die des grenzenlosen Verzweifelns eigen zu sein pflegt.

Statt eines Krieges brachte dann aber der Frühling einen verspäteten Ball. Von einigen Familien wurde er im Klub des Städtchens arrangiert. Es war das erste derartige Fest, das Ilse mitmachen durfte. Ganz plötzlich hatte Papa den Entschluß gefaßt, sie hinzuführen. Papa auch war es, der ihr dort einen Herrn von Zehren vorstellte – ein belangloser, älterer Herr, wie es Ilses siebzehn Jahren schien – der Besitzer eines großen Gutes, wie Papa ihr nachher erzählte. Herr von Zehren führte Ilse korrekt und würdevoll durch die verschiedenen Touren einer Française, und führte sie ebenso zum Souper. Er sprach dabei von dem ethischen Werte des die Gesinnungen befestigenden Landlebens; er schilderte den segensreichen, zurückhaltenden Einfluß, den Großgrundbesitzersfrauen berufen seien, auf die dem zügellosen Stadtleben zustrebende ländliche Bevölkerung auszuüben; er erwähnte, daß seine eigene Mutter das Muster einer also tätigen Landedeldame sei. Ilse schaute ihn bei diesen Worten zum erstenmal näher an: er mußte doch wohl jünger sein, wenn er noch solch eine Mutter besaß. Sie selbst hatte längst keine mehr. – Ein Gefühl der Einsamkeit überschlich sie da mitten im Balle, und es fuhr ihr durch den Sinn, wie schön es sein müßte, gerade heute eine Mutter zu haben. Aber das alles war nur wie ein Vorbeihuschen von Schatten. Nichts von all den neuen Eindrücken dieses Abends zählte ja neben dem einen langen Walzer, den sie mit dem blauen Märchenprinzen tanzte. Der allein war Wirklichkeit, weil er Traum war. Und er würde ewig unvergeßlich bleiben! Als sie längst daheim in ihrem weißen Bettchen lag, glaubte sie noch des Walzers Weise zu hören. Dies sanfte Wiegen, dies wehmütig Süße, das also war des unbekannten Lebens Melodie? Und wie seltsam war doch das Gefühl gewesen, das sie beschlichen hatte, als er zuerst beim Tanz den Arm um sie gelegt – anders wie bei all den anderen – beinah, ja beinah wie ein bißchen Angst. Aber wovor? War es vielleicht eher Angst um ihn? Er gehörte ja einem heldenhaften, aber so gefahrvollen Berufe an! Jeden Augenblick konnte das Vaterland sein Leben fordern! Was für ein Idealist war doch solch ein Dragonerleutnant! Und welch schmerzliche Seligkeit müßte es sein, um ihn sorgen und zittern zu dürfen!

Während der nächsten Tage war eine große erwartungsvolle Unruhe in Ilse; immer wieder eilte sie zum Eckfenster, summte leise des Walzers Melodie vor sich hin und spähte hinab auf die Straße – aber die eine blaue Uniform, nach der sie Ausschau hielt, kam nicht vorüber.

Statt dessen kam Herr von Zehren Papa zu besuchen, und Papa behielt ihn zu Tisch da. In aller Eile gab Greinchen für Friedrich ein Paar frische weiße Baumwollhandschuhe zum Servieren heraus und ließ noch schnell ein Gericht einschieben – eine Büchse Schoten und gewickelte Eierkuchen als Beilage – und das Kompott wurde als süße Speise serviert mit Waffeln vom Konditor, die das Stubenmädchen atemlos geholt hatte.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr Ilse, daß ihr Vater Herrn von Zehrens Mutter früher gekannt hatte. Wie tätig sie damals war, hob auch er hervor. Ja, solch eine energische Frau! welch Glück für den Mann, welch Beispiel einem ganzen Hauswesen! Greinchens gutmütiges Bulldoggengesicht nahm dabei einen ganz ungewohnt bissigen Ausdruck an, und Ilse dachte an die eigene tote Mutter – ob die wohl auch energisch gewesen? Sie wußte eigentlich gar nichts von ihr.

Und dann wandte sich Herr von Zehren mit der Frage zu ihr, ob sie das Landleben liebe? Ilse, die die Gabe besaß, bei Worten immer gleich Bilder zu sehen, erblickte im Geiste einen mit gelben Narzissen besäten Wiesengrund, durch den, unter überhängenden Erlen, ein Flüßchen plätscherte, zwei Menschen schritten Hand in Hand am Wasser entlang, zwei Menschen, die in Ilses Märchenland stets zusammen wandelten. »Oh ja!« antwortete sie inbrünstig, nur die selbst beschworene Vision sehend, »das Landleben müßte ... himmlisch sein«. »Das freut mich sehr«, sagte Herr von Zehren so feierlich, als ob er Begleitworte zu einer Kirchengrundsteinlegung spräche.

Und wieder vergingen einige Tage, was konnte nur geschehen sein, daß er gar nicht mehr vorbei kam? War er krank oder verunglückt? Einen schrecklichen Sturz draußen in der Setzallee des Waldes, wo die Offiziere ihre Pferde trainierten, sah Ilse sogleich vor sich, aber dann sagte sie sich, daß solches Begebnis doch im ganzen Städtchen längst bekannt geworden und auch zu ihr gedrungen wäre. Und dann kam die Erklärung.

Das Abendessen war eben abgetragen worden, Greinchen hatte die Brille aufgesetzt und aus ihrem Arbeitskorb die defekte Damastserviette genommen, die sie heute noch stopfen wollte, da trat Friedrich ein, der alt war wie alles in diesem Haushalt und überreichte Papa die Abendpost. Der schaute zuerst ein bißchen in die Zeitungen, dann öffnete er den einen Umschlag der dabei lag. Ilse konnte sehen, daß er eine gedruckte Anzeige enthielt.

»Schau, schau«, sagte Papa, nachdem er sie gelesen, »der hat sich also verlobt«. Er schob das Blatt Ilse hin: »Ein hübscher flotter Kerl – ich glaub, du hast neulich auf dem Ball auch mal mit ihm getanzt – die Familie der Braut kenn ich dem Namen nach – reiche Industrielle vom Rhein – für 'nen armen Leutnant höchst erfreulich, wirklich höchst erfreulich! – – Ja, und nun Ilse, reich mir die Karten her – ich will dir noch einmal die Myrtenpatience zeigen, aber du mußt auch wirklich acht geben, daß du sie endlich lernst.


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