Arthur Holitscher
Der Narrenbaedeker
Arthur Holitscher

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Einleitung, Reiseziel, Geld usw.

Du bist in den Jahren seit dem Krieg ausgiebig im Osten herumgefahren; dreimal Leningrad, dreimal Moskau; einmal Kasan, Marxstadt, Saratow, Zaryzin, Astrachan, Cairo, Jerusalem; du hast es verdient, nach dem Westen zu reisen, dem kultivierten Westen.

Hierzu ist ein Verleger vonnöten, der dir die Reise bezahlt.

Unter besonderen Umständen wie: Verlängerung der Reisedauer u. ähnl., unter allen Umständen empfiehlt es sich, die Anzahl zu verdoppeln.

 

Reisezeit

Man wähle für die Reise nach den westlichen Ländern, besonders deren Hauptstädten, eine Zeit, in der die Regierenden dieser Länder über die Völker des unkultivierten Ostens zu Gericht sitzen, politische und ökonomische Maßregeln aushecken, vorbereiten und oktroyieren. In solchen Zeiten sonnen sich die 6 Länder und Städte, die man besuchen will, im Gefühl ihrer Macht.

Das Wetter ist zumeist exzellent.

 

Wo wohnt man in Paris?

Ich sitze im kleinen engen Hof, auf der alten Bank unter dem Oleanderstock, an den ich noch gut erinnere.

»Mais entrez donc, Monsieur, montez donc, visitez votre chambre!« Madame ist die gegenwärtige Besitzerin des alten Studentenhotels de Medici in der alten Straße in meinem alten Quartier Latin; eine freundliche alte Dame. Aber ich schaue nur hinauf in den vierten Stock. Dort oben wohnte ich!! Ich hatte damals in meiner Bücherkiste fünfzig Bücher mit und schrieb mein erstes. Wollte ich heute einziehen, so könnte ich nur zwanzig von anderen verfaßte mitbringen, denn meine eigenen dreißig müßte ich doch mitnehmen, und für mehr als fünfzig ist in der Stube kein Raum!

Ich wohne jetzt, nicht sehr weit von hier, auf dem Platz vor der Sorbonne, 7 etwas bequemer. Mein Zimmer drüben ist um zwei Schritte breiter als dieses hier oben, auch zwei Schritte länger. Alles andere aber ist geblieben, wie es damals war. Armut, Traurigkeit, Einsamkeit, alles ist geblieben.

 

Orientierungsfahrt

Die Seine teilt Paris in zwei Teile. Rechts von der Seine liegt das rechte Ufer, links la Rive Gauche.

Von der Madeleine bis zur Bastille erstrecken sich die großen Boulevards. (Die Bastille ist an einem 14. Juli gefallen [Nationalfeiertag]; die Börse aber steht noch; es ist viel Geschrei um sie.)

Von der Madeleine bis ans Ende des Boulevard des Italiens kann man in drei Minuten gehen, im Autotaxi dauert die Fahrt eine halbe Stunde. Dieser Umstand besagt, daß das Schicksal der großen Städte besiegelt ist. –

Das XX. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Speed; die Entwicklung bewegte sich von der Postkutsche sehr rasch 8 zum Aeroplan vorwärts; ich möchte wissen, was von unserer Zivilisation übrigbliebe, wollten wir die Schnelligkeit, mit der wir von einem Ort zum andern gelangen können, zugleich mit Jazz und Taylorsystem, Gasbomben und anderen Beschleunigungsmitteln, aus unserer Zivilisation wegdenken, abziehen oder streichen.

Die große Stadt ist ein einziges Verkehrshindernis. Sie ist unter die Räder der Entwicklung geraten, erledigt, muß verschwinden. Die große Stadt leidet in den Hauptverkehrsadern, besonders um die Stunde der Verdauung, an Kongestionen; sie wird bald an Apoplexie sterben.

Man hat sie unterbohrt; die Klistierspritzen der Metro-Untergrundzüge erleichtern sie indes nur ungenügend; an den Straßenecken stauen sich alle zehn Schritte weit Autokolonnen, Omnibusparks; lebende Semaphoren in Schutzmannstracht lenken sie mit Signalen: halt, vorwärts, zurück; nützt alles nichts, die Stadt, ein lebendes Wesen, unterliegt 9 den Gesetzen des Kreislaufs; Embolien wirken auf die Dauer tödlich auf sie wie auf den Menschen.

Im Bois de Boulogne – rasch, rasch, aneinander vorüber. Keiner sieht mehr den andern. Ehemals – im Vorüberfahren – ein Nicken, Erkennen, Lächeln; heute die kinematographisch verwischte 10 Silhouette der vorüberschießenden Limousine, Auge vorwärts, Blick auf Lenkkurbel und Rückwand des vorne laufenden Wagens; das einzige Menschenantlitz das des Polizisten, der die Wagenreihe aufhält.

Hinter der Madeleine entdecke ich eine Pferdedroschke. Sie ist auflackiert und wiederauflackiert; dem alten Kutscher hat man seinen greisen Gaul gelassen, schlafend hängt der Mensch über dem Roß, sein Bart ist ihm durch den Kutschbock gewachsen, Rip van Winkle: er wird noch à la course und à l'heure bezahlt, das Rad seiner alten Karosse ist an keinen mechanischen Zählapparat angeschlossen, Kutsche, Mensch und Tier entschwinden rückwärts gleitend in den Nebeln des vormechanistischen Zeitalters.

 

Statue im Tuileriengarten

Die große Stadt!

Ihr droht ihr Schicksal auf der Erdoberfläche, tief unten im dröhnenden Untergrund; noch lauter aber hört sie, 11 wiewohl im Unterbewußtsein, ihr Ende von oben nahen, näher und näher ertönen.

Aus Marmor gemeißelt, von Bartholomé, dem alten Meister des »Totendenkmals«, angefertigt,

»PARIS 1914 – 1918«

benannt, steht eine elegante, oben entblößte Dame auf dem herrlichen, weiten, freien Platz vor dem Louvre. Sie hat aus Marmor eine Watteau-Falte im Rücken; ein Schwert hält sie wagrecht in den Händen, leicht und ungezwungen wie einen Sonnenschirm; auf dem Kopf sitzt ihr, aus Marmor, eine Sturmhaube, mit dem Bügel in der Mitte, den die Mode bereits für Damenhüte verwertet hat; sie schaut, nicht ungraziös, fast kokett, wenn auch der Situation entsprechend leidlich ernst, ein bißchen schmollend, in die Luft hinauf. Die Figur wurde vom »Petit Journal« gestiftet und soll daran erinnern, daß Paris im großen Krieg Luftangriffe erfolgreich abgewehrt hat.

Auf dem herrlichen, weiten, freien Platz 12 ist diese Figur eine Figur. Wie wäre es, wolltet ihr sie im engen, dichtbevölkerten Marais aufstellen? Oder im Faubourg St. Denis, wo noch mehr Menschen noch dichter bei-, mit-, neben-, über- und untereinander hausen? Dort wäre die Figur schon etwas mehr als eine Figur, und sie sollte doch auch wahrlich als etwas mehr gelten als ein (mittelmäßiges) Kunstwerk.

 

Im Faubourg St. Denis müßte sich die Rückenfalte automatisch zu einem bauschigen Unterrock herumdrehen, unter dem, wie unter den Flügeln der Mutterhenne bei einem Gewitter, die große Stadt ihre wehrlosen Kinder vor den drohenden Bombenabwürfen versteckte.

Über den Marais, den Faubourg St. Denis, das Landsberger Viertel, die Köpenicker, Prenzlauer, Elsasser Straße, über Islington, die Minories, Shoreditch und Lambeth, über Trastevere, Via Roma, über die Bowery, Allen, Delancey Street, über den Loop und 13 Michigan Avenue lohnt es, auf Flügeln durch den Aether die leichten Tuben herbeizuführen, weil man hier recht viele Menschen treffen kann, bis man dann in anmutiger Kurve davonfliegt, ein Pünktchen im Sonnenglanz, im Mondenschein, zwischen dem Wolkengetümmel, kaum wahrnehmbar, während unten der Tod die Stadt bei ihrem Herzen anpackt, wilde Panik das Volk zersprengt, seine Gesetze zerreißt, Abgründe öffnet und aufrührt, daß man die Untergrundschienen im Tageslicht gewahrt, das Eingeweide des Fortschritts der Welt und des Jahrhunderts offensichtlich zu Tage liegt. . . .

Hippokratisches Gesicht der großen Stadt! Donnernd rollen die Omnibusse rechts und links an der anmutigen Marmordame vorüber, die, mit Zügen der Pariserin ausgestattet, den Typus der germanischen Rasse doch nicht ganz verleugnet. Man begegnet diesem Typus ziemlich häufig in der Bevölkerung von Paris und überhaupt in dieser nördlichen Hälfte Frankreichs. Er hat, unbeschadet 14 seiner koketten gallischen Anmut, einen ziemlich kriegerischen Ausdruck angenommen, den ich an ihm eigentlich erst jetzt, seit dem Kriege zum erstenmal, wahrnehme, aber das mag eine Täuschung sein.

 

Faubourg St. Denis

Ich erinnere mich an dieses Erlebnis. 15 In meiner Vaterstadt, Jahre vor dem Krieg. Ich war nach langer Abwesenheit zurückgekehrt, auf der Donaupromenade tummelte sich eine Generation, die ich nicht heranwachsen gesehen hatte, die mir unbekannt war. Zwanzigjährige, zwanzig Jahre jünger als ich. Da hatte ich eine Vision. Ein Gefühl ergriff mich – solche Augenblicke des Schauens, des Erschauerns überfallen mich zuweilen –, ich hatte eine Vision, in den Adern fühlte ich: ihr werdet nicht leben! Es war sechs Jahre vor dem Krieg.

Grau rinnt es durch meine Adern, wenn ich heute durch die übervölkerten Straßen der großen Städte gehe, jetzt, im sechsten Jahr nach dem Krieg: diese Straßen werden nicht leben.

 

Die große Stadt organisiert die Massen, und sie desorganisiert das Individuum. Sie erzieht das Volk und korrumpiert die Seelen. William Morris hat in seinem utopischen Roman Gras auf Trafalgar Square wachsen lassen, Schafe weiden, 16 wo einst Trafalgar Square war. Glücklichere Menschen läßt er in kleinen Siedlungen rund im Lande wohnen, jede Siedlung ihre eigene Autonomie besitzen, eine Kette, Netz, Gewebe, Nebeneinander unzähliger kleiner glücklicher Menschengruppen erstehen, das Ideal der anarchistischen Gesellschaft, einer von der Vernunft regierten, unausdenkbar seligen Friedensära der Menschheit.

 

Die kleine Siedlung, das Dorf, den Weiler, die Farm aus der Luft herunter zu vergasen, zu sprengen, zu vernichten lohnt sich schon heute nicht; die dichte Stadt, der vollgestopfte Wohnbezirk wird das Ziel des beflügelten Todes sein, dessen Schwingenrauschen einige bereits vernehmen, des Pünktchens im Sonnenglanz, dieses kreisenden, schwirrenden, irrlichterierenden Funkens in der Höhe, der einigen bereits die Augen aussticht, die Tränendrüsen fließen macht.

Mechanisch, monoton, unmenschlich 17 bellen die Autohupen von den Boulevards her, dem Boulevard St. Denis, dem Boulevard de Strasbourg, in das Stimmengetöse des engen Faubourg herein.

 

Musée Cernuschi und der Strahl

Am Eingang zum Park Monceau ist in einem kleinen Palast ein Museum chinesischer Altertümer untergebracht.

Jahrtausende vor Christi Geburt haben unerhörte, lange verschollene, verschüttete, zermalmte Kulturepochen Meisterwerke der Kunst hervorgebracht, die einzige Kunde von jener dem Menschheitsverhängnis erlegenen Zeit vermitteln. Von feindlichen Nachbarstämmen heimgesuchte, ausgerottete, schließlich vom Flugsand des zerstörten Landes verschluckte Riesenstädte des sagenhaften China, des Götterkontinents Tibet – der Atem vergeht dir vor einer ernsten sitzenden Priesterstatue, einem Tier aus Nephrit, einem Schwertgriff aus Erz und Obsidian.

18 Jahrtausende, erblüht, eine Kultur erkämpft, zerstört, untergegangen, ausgegraben – Kunde in drei kleinen Sälen eines versteckten Museums, das von wenigen besucht wird.

 

Lieblich tönen mir am frühen Morgen die Rufe von Paris in mein stilles Zimmer an der Sorbonne herauf:

»Mouron pour les petits oiseaux!«

»Merlans, frais! Merlans à frire!«

»Habiiiits! Chand d'habits!«

»Vlà le vitrier qui passe!«

. . . . der Dudelsack des Basken, der Rohrstühle ausbessert, quiekt fröhlich seinen Morgengesang – Menschenlaute am hellen Morgen . . . . auf einmal erbraust die Stadt von fern; mechanische Geräusche, schweres Räderrollen, Hupensignale des Verkehrs ertöten, verschlingen, begraben den Laut des Menschen. Betäubt versinkt die Seele in verspäteten schweren Morgenschlummer.

 

Große Lettern am Kopfe der 19 Tageszeitungen: Grindell Matthews – die Todesstrahlen, die, aus sicherem Versteck entsandt, in riesigem Umkreis alles vernichten, was auf ihrem Wege liegt. Der Strom kann verstärkt, Distanz und Wirkung nach Belieben vervielfacht werden.

Der Todesstrahl: er sitzt der Menschheit wie ein Floh im Ohr!

G. M., der Erfinder, Matter-of-fact-Mensch und Phantast, Menschheitswohltäter und Charlatan, fliegt seit Wochen zwischen London und Paris hin und her. Mögen sich andre, philanthropische, schizophrene Tröpfe ihre Erfindungen stehlen oder für ein Butterbrot abjagen lassen und dann zusehen, wie die großen Taschen der Industrie sich mit dem Ertrag füllen – G. M. weiß: obzwar seine Erfindung noch unvollkommen, vage, zweifelhaft ist: die Gedanken der Menschheit sind unterhöhlt vom Militarismus, der Sucht, zu zerstören, – G. M. wartet. Er hört seine Zeit heranschwirren. Er kennt seinen Wert, den Preis, den der Erfinder von 20 neuen, immer vollkommeneren Werkzeugen der Zerstörung fordern darf. An der Straßenecke: Trommeln, Hufgeklapper, Wehen roter Helmbüsche. G. M. trommelt ruhig an die Fensterscheibe. Warte nur, balde . . . .

 

Diese Zivilisation ist zu groß, zu stark geworden, aufgedunsen, in ihren Geweben zersetzt vom Gift des Militarismus. Sie ist organisch krank, todkrank, man kann ihr das Gift nicht mehr entziehen, sie würde an dieser Roßkur krepieren. Laßt sie doch krepieren. Eine Prise Lewisite, und sela!!

Die nächste wird ohne das Gift im Leibe zur Welt kommen und, wenn ihre Zeit da sein wird, eines natürlichen Todes sterben.

 

(Nachschrift zu Grindell Matthews)

Zwei Monate später sehe ich in London den Film: Der Todesstrahl.

Programm: Der Erfinder; der Apparat; die Bände voll Zeitungsausschnitten. 21 (Musikbegleitung: Jazz, amerikanische Synkopen.) Der Strahl in Aktion: in einer Glasröhre wird auf zehn Meter Distanz ein Funke entzündet; in einer Pfanne explodiert Schießpulver; ein Motorrad in voller Fahrt stopt; fällt um. – Zweite Abteilung: eine Ratte wird in einem Käfig hereingebracht, 22 der Strahl auf sie eingestellt, die Ratte fliegt auf den Rücken. (Musikbegleitung: Isoldens Liebestod.) – Dritte Abteilung: Hügel bei Nacht; aus einem Panzerturm dirigieren abenteuerliche Ledergestalten den Strahl auf ein Feld heranschleichender Feldgrauer, sie fallen reihenweis um; Strahl fliegt in die Höhe: Aeroplane plumpsen brennend durch die Luft herunter. (Musikbegleitung: Nothung, Nothung, neidliches Schwert!)

 


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