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»Grad aus dem Mutterleib komm ich heraus. . . .«
In Paris Plakate an allen Mauern: bedrohliche Geburten-Zunahme in Deutschland! Frankreich muß mehr Babies produzieren!
In Berlin, Newyork, Zürich, Kopenhagen, Wien: Gefängnis für Geburtenverhütung.
In Rußland: jede staatliche Klinik befreit Schwangere, die nicht Mütter werden wollen, von dem in ihnen keimenden Leben.
Im Hyde Park, an recht vielen Straßenecken sonst, besonders im armen östlichen, nördlichen London: Redner, Rednerinnen, die ernst und anständig, in der Sprache des Volkes, doch nicht in seinem Slang, zur aufhorchenden Menge über Neo-Malthusianismus reden.
Birth-Control!
In diesem Lande werden zu viele Kinder geboren. Übervölkerung ist 148 unvermeidlich, wenn keine Abhilfe geschaffen wird. Philipp Snowden, der Finanzminister der Arbeiterregierung, hat erklärt: sollte die Bevölkerung Englands sich weiter in dem Maße vermehren, wie sie das in den Jahren seit dem Krieg getan hat, dann müsse in absehbarer Zeit eine Ernährungskrise verhängnisvollster Art über das Land stürzen, der alle Kolonien mit ihrem Zustrom von Fleisch und Weizen nicht würden steuern können. Also: weniger Kinder! Es ist nicht fair, die Lady zu Hause jedes Jahr mit einem neuen Wesen schwanger gehn zu lassen! Es gibt Mittel, die Empfängnis zu verhüten!
Der Redner, die Rednerin steigt von der Kanzel, verteilt Broschüren, verkauft die populären Hefte von Dr. Marianne Stopes, drückt jedem und jeder da unten in der Menge Zettel in die Hand, die kurzen aufklärenden Text enthalten, Prospekte und Preislisten von Chemikalien, Spritzen, Bandagen, alle wohlfeil und legal erhältlich (in der ganzen Stadt kündigen die 149 Drogengeschäfte diese Präparate mit Riesenlettern an ihren Fassaden an).
Nie ein frivoles oder unernstes, nie ein tadelndes Wort aus der Menge.
»Bringt eure Frauen hierher!« ruft der Redner, die Rednerin. »Sagt der Lady zu Hause, sie soll zu uns kommen, wir haben mit ihr zu reden! Die 150 Mutterschaft ist heilig, wer aber Kinder in die Welt setzt, ohne sie ernähren zu können, versündigt sich an der Heiligkeit der Mutterschaft, an der Familie, an der Menschheit, an England!« – »It is not fair against the lady!!«
Etwas hat sich im Lande des »Cant«, der englischen Prüderie geändert, in dem Land, in dem es vor Jahren noch verpönt war, das Wort Magen auszusprechen.
Welch eine Welt, lieber Gott!
Menschenüberfluß im einen Land, Menschenmangel im anderen, im nächsten, benachbarten. Zittern und Zagen in beiden, Drohung und Bedrängnis!
Welterlösende Herrschaft der Vernunft muß hereinbrechen über dieses verblendete Menschengeschlecht. Welterlösender, ausgleichender Tausch von Rohmaterial um Rohmaterial, Menschen für Menschen, gegen Entvölkerung, Übervölkerung, Kriegsnot, Hunger und Untergang.
Vernunft, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Kommunismus – wann, wann?
151 Sonntagnachmittagsfahrt auf dem Omnibusverdeck. Die Läden sind zu. Die Theater desgleichen. Wembley desgleichen. Hier und dort nur: ein Kino, ein Garten, in dem Cricket gespielt wird, das aber sind geringfügige Ausnahmen. Von Woolwich bis Richmond, von Edmonton bis South Croydon ist die Stadt in der Ruhe des Tages versunken, an dem die Schöpfung vollendet war, der Herr gesagt haben soll: es ist gut.
Sabbatstille.
Doch sieh da . . . an einer, an einer zweiten Straßenecke Menschenansammlungen, Zusammenrottungen, Menschenauflauf. Was hat dies zu bedeuten?
Stumpf oder lärmend, in einigermaßen erregter Unterhaltung, stehen Gruppen beisammen auf der Straße; hagere, graue, übelernährte, übelriechende, armselig gekleidete Männer, und die Frauen: überquellend, breit und schwer, die Gesichter hektisch gerötet, aus furchtbaren Zahnlücken grinsend, zumeist 152 mit Wickelkindern am Arm oder im Wägelchen neben sich; im Sonnenschein, im Regen stehen sie da, Reihen lang oder in dichten Haufen. Um fünf werden die Pubs, das heißt: die Public Houses, die Bier-, die Schnapsschänken geöffnet. Um drei steht die Menge schon da, wartend.
Fünf Minuten nach fünf aber sind die Pubs überfüllt. Wieder stehen sie vor der Schänke, die Männer, die Frauen, aber jetzt haben sie Gläser mit Bier in der Hand, mit kleinen Gläsern voll Whisky, Gin, Tawney stehen sie da, wieherndes Gelächter, Späße und Stöße in die Rippen – es ist der Brunnen, der Klub, das Kaffeekränzchen, der five o'clock des armen Volkes; die Kinder jagen sich in der Gosse, zwischen den Omnibussen, sie haben ihr Teil an dem Vergnügen der Erwachsenen erhalten, sie sind nicht ganz nüchtern mehr, die Kinder der Armen . . . .
Auf der Jahresversammlung der »National British Women Temperance 153 Association«, die im Juli in Wembley abgehalten wurde, gab die Ärztin Miß E. White an der Hand statistischer Ausweise von Entbindungsanstalten, Kliniken, Mutterschutz-Institutionen der Armenviertel Londons, Liverpools, Cardiffs und Dublins Nachricht von der Tatsache: daß eine große Anzahl von Kindern der armen Klassen Englands buchstäblich betrunken zur Welt komme.
Ein erblich alkoholisiertes, entartetes Geschlecht, ein langsamem Siechtum, Leben des Lasters, des Verbrechens, der Höllenstrafen auf Erden geweihtes, schutzlos preisgegebenes Geschlecht wächst heran, in eine Zeit, die Vernunft, Menschenwürde, Welterlösung bringen soll.
Geburten-Kontrolle, Kontrolle der Alkohol-Produktion, Bau hygienischer Wohnstätten und Propaganda, Propaganda, das sind einige wenige dringende Aufgaben der Arbeiterregierung. Die Bewegung, die die Redner und 154 Rednerinnen mit den aufklärenden Schriften an die Straßenecken entsendet, gewinnt an Umfang und Bedeutung. Es ist eine Bresche in Merry old England, das »alte fröhliche England«, geschlagen.
Elegie in einem Hansomcab
O anmutiges Gefährt, Gefährt der Erinnerung, unruhig suche ich dich an allen Haltestellen –, es sind aber nur deine pferdelosen Stiefbrüder da, die leise hüpfenden, laut hustenden Taxis, mit der Kurbel vorn am Nabel, die den Gott der Maschine zu wildem Gebrüll reizt, wenn sie bewegt wird.
Anmutiges Gefährt, leise schaukelndes, unten wie eine Loge, oben wie ein Wachtturm anzuschaun, schön war es, in dir zu sitzen, ohne Kutscherrückseite nur den rhythmisch sich biegenden Pferderücken zu erblicken, zwei von oben herunterreichende Riemen, vorn und rechts und links, durch die zierlichen Fensterchen aber die wunderbare Straße, die wunderbare Stadt!
Ein gelinder Ruck an den niederen 155 Türen, und über die kleine Plattform vor der Loge stieg man aufs Pflaster nieder. Oben auf der Spitze des Turms lüftete der Gentleman mit der Rose im Knopfloch seinen hellgrauen Zylinder, langte mit der behandschuhten Rechten nach dem Fahr- und Trinkgeld, und rhythmisch schaukelnd auf deinen beiden großen Rädern entschwandest du, liebliches Gefährt der Vergangenheit, dem entzückten Blick. . . .
Die Maschine hat den Hansom getötet, wie das Kino dich, teures englisches Musichall. Nicht führt mich mehr der Zweirädrige Turm nach dem Hummer-Abendessen bei Scotts zum »Oxford«, wo Vesta Tilley, Harry Tate, Paolo Cinquevalli, der Jongleur, und der weißäugige Kaffer Chirgwin die Stunden bis zur Nacht vertrieben. Scotts ist Gott sei Dank geblieben, mit dem Füllhorn seiner Seeungeheuer, aber wenn mich der Taxameter mit ölriechender Faust vor einem Varieté niedersetzt, so toben drin sicherlich amerikanische Jazzbanditen und paradieren pfauenstolze 156 Stimmakrobatinnen mit ihren grellbepinselten Straußenfederfächern und übelbeleumundeter Broadway-Lyrik auf der grün, blau und orangefarbig beleuchteten Bühne auf und ab.
Eton-Boys! Ihr habt noch eure Zylinder und breiten Hemdkragen über den oberhalb des Gesäßes abgeschnittenen Spenzerfräcken bewahrt. Richter in Fleet Street! Ihr geht noch in Puderperücken und Seidentalaren über die Straße zum Stehlunch an der Bar. Auch ihr, Majestäten im Buckinghampalast, habt eure Sitten konserviert, ebenso wie die Lords im Oberhaus, die Torys in den Commons ihre Füße weit von sich auf den Tisch des Hauses strecken. Beefeaters im Tower, ihr mit euren Hellebarden; Waisenknaben im Findlingshaus, mit euren zweifarbigen, vertikal geteilten Uniformen, die euren unglücklichen Stand von weitem schon verkünden – ihr alle, alle seid von dieser Zeit verschont geblieben! Nur euch, Hansoms, hat sie grausam und zynisch den Garaus gemacht. Warum, 157 o sagt, teure Schatten, durch die Erinnerung rollende, warum?
Tage, ja Wochen wende ich daran, einen Hansom aufzutreiben, in dem Gewühl der sich an den Knotenpunkten der Weltstadt um die Mittagsstunden stauenden Wagenkolonnen.
Da – eines Tages – in der Nachbarschaft von Parliament Square – (o konservative Partei, Tories, habt Dank!!) schaukelt das erste Turmgefährt gemächlich und rhythmisch bewegt an mir vorüber.
Freundliche Blicke, von mir zum Kutschbock, vom Kutschbock zu mir, schon stehe ich auf der kleinen Plattform, biege die beiden niederen Logentüren zurück und werde, angenehm und lind, von dem lieblichen Gefährt meiner Jugenderinnerungen, schaukelnd und rhythmisch, durch die Stadt getragen. Vor mir erscheint, über dem durch Riemen gelenkten Pferderücken, Whitehall, der Platz mit der Nelsonsäule, dann die Straße mit den 158 Wunderfenstern der Schiffahrtsgesellschaften White Star Line, Canadian Pacific, Norddeutscher Lloyd, Hapag, Toyo Kisen Kaisha, P. and O. – die Welt! Dann der alte Haymarket, steil ansteigend, und jetzt: Piccadilly!!
Menschen blicken herein in mein Gefährt. Menschenblicke begegnen den meinen. Wie aus einem anderen Jahrhundert schaue ich auf die Straße hinaus; verzaubert, betört, etwas verwirrt und benebelt schaue ich auf das Gewühl der schnellen Taxis, der kalten, eiligen, übermüdeten vorwärtsstürmenden Menschen, der zerlumpten, bettelnden, singenden, zinntellerschwingenden Krüppel zu beiden Seiten des Weges. . . .
Wie wird mir! Wo bleibt der erwartete Genuß, das rhythmische, lieblich schaukelnde Versinken in eine gemächliche, wärmere, innigere Vorzeit? Wie ein lebender Anachronismus komme ich mir in meiner kleinen turmartigen Loge vor. Meine Nerven lehnen sich auf, zucken rebellisch unter der 159 Langsamkeit des Dahinfahrens, des Zurückbleibens, des Hinterdreinschleichens hinter den eilig dahinschießenden Maschinen, Taxis, Limousinen der Entwicklung, der Katastrophe, der galoppierenden Zeit. . . .
Stop!!
Wieder ist eine Illusion begraben, das Leben um ein von der Erinnerung gehätscheltes Wunder der Vergangenheit ärmer.
Stop!!
Mit dem Stock hebe ich die kleine Klappe über meinem Kopf in die Höhe. Oben im Ausschnitt der Falltür wird das Gesicht des Kutschers sichtbar. Ich gewahre durch das kleine viereckige Loch sein altes, unrasiertes Kinn, den fettigen Filz auf seinem grauen Schädel, den schäbigen Rock, in dessen Knopfloch wohl seit Jahrzehnten keine Blume mehr gesteckt hat.
Langsam steige ich über die kleine Plattform auf die Straße hinunter, zahle, warte an der nächsten Haltestelle auf den Omnibus und lege den Rest der 160 Fahrt rasch und wohlfeil zurück, wieder ein Bürger des Jahrhunderts geworden, das kein Entrinnen kennt.