Arthur Holitscher
Der Narrenbaedeker
Arthur Holitscher

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Zwei und eine halbe Million neuer Häuser

Ganz taub noch vom Dröhnen des Propellers neben meinem Sitz im Flugzeug gehe ich, drei Stunden nach meiner Ankunft, von den Hampstead-Höhen hinunter in die Stadt.

O liebliches London!

99 Wie wenig hat sich in diesen zehn Jahren geändert. Innen in mir schluchzt es ein wenig vor Rührung und Freude. Geliebtes London. Wieder hier! Belsize – Haverstock Hill – Regent's Park: willkommen!!

Willkommen! antwortet die Stadt. –

Hier habe ich Heimatsgefühl. Wo noch? Hier, hier habe ich es; in diesen langen, eintönigen Straßen, mit Häusern – jedes ein, höchstens zwei Stockwerke hoch, schmale Front, Gärtchen gegen die Straße zu, Gärtchen hinter dem Haus. Monoton, doch lieblich. Eine Menschenart beherbergend, die den Häusern ähnelt, in denen sie lebt und die ich liebe. Ach, es ist schwer, den Ernst zu bewahren. Meine Stiefel klappern Lebenslust auf das Pflaster nieder.

 

Hie und da wird die Monotonie der Häuser durch Tafeln unterbrochen, die Inschriften tragen. To let. To let. Sold. Sold.

100 Weiter unten, in den immer vornehmer werdenden Straßenzügen:

Crown lease. Crown lease.

Und dann, Portland Place zu, dem Sitz der Bürger-Aristokratie dieser Stadt: wieder verlassene Häuser, Häuser mit verstaubten Fensterscheiben: To let. To let. To let.

2 500 000 Häuser will die Arbeiter-Regierung Englands bauen, für die Armen, die Ärmsten, die Slum-Bewohner. Heraus aus den Slums in menschenwürdige Wohnplätze! Jede Familie soll ihr Haus haben! Es ist der oberste Punkt im Programm der Sozialisten, der Fabier, der Menschenfreunde und Idealisten, die in England zur Macht gelangt sind und an deren linkstem, radikalstem Flügel John Wheatley, der Minister für Volkswohlfahrt, steht, der einzige Revolutionär in diesem denkwürdigen Kabinett von Pazifisten und Schwärmern und Matter-of-fact-Politikern: Wheatley, Flügelmann der Revolution.

101 Am 2. Juni 1924 hat er dem Unterhaus das Programm der Regierung unterbreitet, das Sanierungsprogramm, das England auf friedlichem Wege den Sozialismus bringen soll: 2½ Millionen neuer Häuser in 15 Jahren zu 500 Pfund, auf Kosten des Staats und der Gemeinden zu errichten. Ein Programm, das der Arbeitslosigkeit ein Ende bereiten will und dessen Durchführung in 12 Monaten bloß 1% des jährlichen Staatseinkommens und nicht mehr als 10% der Summe erreicht, die das Land in der gleichen Zeitspanne für alkoholische Getränke ausgibt.

 

Ein harter Kampf um diese »Housing Bill«, in dem die Regierung bis heute Schritt um Schritt zurückzuweichen gezwungen war. Und weiter noch zurück, dort, wohin Liberale und Konservative sie systematisch und mit Ausdauer zu drängen suchen, liegen Fußangeln, Fallen und Wolfsgruben bereit, in die diese Regierung von Utopisten, Menschenfreunden, ideal- und 102 evolutionsbesessenen fabianischen Zögerern stürzen soll.

 

Tausende der größten wie der mittleren, der vornehmsten wie der bescheidensten Häuser stehen leer, sind zum Verkauf ausgeschrieben, zu vermieten. Der mittlere Adel, die angrenzende Bourgeoisie trägt übergroße Steuerlasten, sie vermag ihre Häuser nicht mehr zu halten, verläßt sie, läßt sie im Stich, protestierend, ostentativ zuweilen, mit der Drohung: seht, was ihr beginnt, in dieser Zeit der Nivellierung ist das Haus des Engländers nicht mehr seine Burg! Wartet nur, über die Scherben des alten England, der Kultur dieses Volkes werden die Barbaren bald herangestapft kommen!

In Wirklichkeit liegt in der Spannweite zwischen diesem angefeindeten sozialistischen Häuserbau-Programm der Fabier und den Expropriationsdekreten der Bolschewiki – zwischen London und Moskau – das ganze Programm der Zeit eingeschlossen. Hier: Nichtloskönnen von Traditionen, von 103 Verzagtheit erzeugenden Wahnvorstellungen, von Schlagworten einer abgewirtschafteten, verstaubten, vermodernden Epoche – dort aber: das blutvoll energisch zupackende, terroristisch-radikale Bekenntnis zum Recht aller, zu einer neuen Zeit, einer heraufsteigenden unerhörten Kulturepoche der breitesten Lebensbasis, unter der Privilegien, Monopole, Schlagworte und Aberglauben zertrampelt liegen wie morscher Lehm.

Eisenbetonzeit steigt herauf; keine Tafeln: To let, Sold, Crown lease mehr! Offene Tore für die Millionen.

 

Und doch, Bourgeois der du bist, Vergangenheitsanbeter, Liebhaber süßer Jugenderinnerungen – blutet dir das Herz nicht, wenn du durch Regent Street hinuntergehst, den gelb ehrwürdigen, geschwungenen Doppelbogen aus verräucherten, viktorianischen, an Dickens, Thackeray, de Quincey erinnernden, gleichförmigen Häusern, diese Straße, die im Halbkreis von 104 Oxford Street nach Piccadilly führte – und die es nicht mehr gibt, in absehbarer Zeit nicht mehr geben wird!

Denn, hört, hört es, Genossen meiner Zeit, Altersgenossen: Regent Street, die holde, alte, gelb verräucherte, viktorianische – sie ist heute nicht viel mehr als ein Trümmerhaufen, in dem der Spaten des Bauarbeiters stochert. Die Mehrzahl der kostbaren, wunderlichen, gleichmäßig großen, gleichmäßig gelb verrauchten, vom Nebel und Ruß der Stadt jahrhundertelang gebeizten Häuser wich bereits einem amerikanisch großmäuligen, aus Sandsteinquadern getürmten Geschlecht von Riesenkasten, ohne Charakter und Eigenart. In den Erdgeschossen haben sich, statt der stillen, gediegenen, altberühmten und köstlichen Läden der Vergangenheit, knallige Warenhäuser, Magazine mit billigem Schuhwerk, Fabrikschund aller Art, Eiscreme und Patentmedizin aufgetan, nicht fürs Volk, sondern für den mittleren, mittelmäßigen, bemittelten Mittelstand. 105 Symbolisch hat Liberty mit seinen Seidenschleiern, Emailschmuck und orientalischen Herrlichkeiten sich in eine Seitengasse zurückgezogen, Scott Adie, der Schotte, noch weiter hinweg, Vickery räumte seinen Silberladen; die neuen Häuser, Warenhäuser, Magazine aber erheben sich, im Stil griechischer Tempel gebaut, mit dorischen, ionischen, korinthischen Säulen, Risaliten, Tympanen, zur Ehre der Gottheit dieses Zeitalters des Übergangs, des Kompromisses, des Mittelwegs, des Warenhaustempels . . . O liebliches London, verschwindendes, versinkendes!

 

Top of a bus, Sir!

London lernt man am besten auf folgende Art und Weise kennen:

Morgens, nach dem Frühstück im Boardinghouse (Speck und Eier, Röstbrot, Haddock, Orangen-Marmelade und Tee, der geheiligten, alle Stürme, Kriege, Systemwechsel, Kulturepochen überdauernden, unübertrefflichen, unbesieglichen Speisenfolge des 106 Normalengländers), klettert man auf das Verdeck des ersten besten daherratternden Autobus.

»All the way, please!«

Durch die Straßen der inneren Stadt, über die Themsebrücken, die Vororte, die Gärten, Commons, Greens, Heidestrecken und Wiesen der weiteren Umgebung, durch verträumte kleine Dörfer, Weiler und Städtchen am Rand der nie aufhörenden Stadt führt das schnellfahrende Gefährt mit Windeseile.

Kent, Sussex, das duftige Surrey! Die Themseufer, gegen das Meer zu, Oxford zu! Wie ist diese Stadt, dies Land schön, rein, friedlich, wie gut wär's, hier zu leben, abzuwarten, bis unter Donner und Dünsten eine neue Zeit heranbricht; von fern zuzusehen, wie es im Osten heraufkommt, das Verhängnis, während sich hier, in guter, durch Arbeiterprogramme nur mäßig gestörter Weile die Geschicke des konservativen Landes entwickeln . . .

»All the way, please!« Der Motor rattert, die Zeit hat Eile, an der 107 Endstation wartet bereits ein neuer Omnibus, der dich weiter hinaus, immer weiter ins Land führt. Wenn du Geduld hast, magst du auf solche Art, nach einer ineinander greifenden Kette von »all the ways«, an einem Tage, vom Frühstück bis zum Dinner (Suppe, Weißfisch, Roastbeef mit gelben Kartoffeln, ungesalzenem Kohl, briefmarkengroßem Stückchen Chesterkäse, Applepie und Bisquit, durch Jahrhunderte heilig gehaltene Speisenfolge!) das Meer sehen, oder Oxford, das weite, wunderbare Land, Berkshire, Essex, Buckingham, Gloucester . . .

Meilen, Meilen von langen, gleichförmig gebauten, schnurgeraden Straßen; Häuschen, gelb und rötlich, ein, höchstens zwei Stockwerke hoch; Gärtchen vorn und hinten hinaus; Tausende, Zehntausende, ja die Millionen Häuschen, die Wheatley bauen möchte, funkelnagelneue sogar – aber in ihnen wohnt nicht der Arbeiter, der Arbeitslose, der Proletarier aus den Slums, sondern niederer, mittlerer, mittelmäßiger 108 Mittelstand, der sich, geschickt balanzierend zwischen dem rapid herunterkommenden, durch Steuern bedrückten Feudalaristokraten und dem an mageren Lohntarifen mühsam vegetierenden Handelsangestellten, Bankclerk, eben noch zu halten vermag – mit seinen vernünftig verwendeten Einkünften, seiner grausam hohen Miete, seinem Frühstücksspeck, Dinnerroastbeef, Zeitungsabonnement, seinem Sinn für Komfort, fürs Niedliche, Chintzüberzüge und blitzendes Kupfergerät, saubere Kieswege vor dem Haus, Sweet peas, Tennis, Cricket und Ruderboot, im Sommer drei Wochen Scarborough, im Winter die billigen Verkaufstage bei Barker, Ponting und Selfridge, alle Monate einmal zur Matinee im Lyric, Gaity oder dem Haymarket-Theater, am Sonntagmorgen unbedingt zur Kirche, wo der Reverend mit dem Innenleben der Menschen verfährt wie der Maurer mit den Fassaden dieser endlosen, endlosen, endlosen Straßen, in denen der Engländer wohnt, lebt, züchtig geboren 109 wird, sich fortpflanzt, ehrbar stirbt und sich sein Erbe wegsteuern läßt.

2½ Millionen neuer Häuser? Verkleinbürgerlichung des Arbeiters?

Liebliches London, deine freundlichen, friedlichen, so sauberen Straßen – oft liegen sie wie ein Alp auf der nach Luft schnappenden Brust des auf dem Omnibusverdeck von Osten nach Westen, von Norden nach Süden dahinratternden Fremdlings.

 

Hier ist das Land, die Stadt, von der der englische Bebel, John Burns, gesagt hat: er wollte lieber in ihnen tot aufgefunden werden als anderswo leben! Wie klein ist hier alles, im Vergleich mit Paris!

Die Riesenstadt, aufgelöst in die Zehntausende, Hunderttausende ihrer niedlichen Gäßchen, ihrer niederen, langgestreckten Häuserreihen, die, niedlich und nieder, fast mitten im Zentrum beginnen!

Verkehr und Bewegung, örtlich und zeitlich zu Stauungen und Kongestionen 110 zusammengepreßt: an der Bank, in der City, um Trafalgar Square, Piccadilly-Zirkus und die Tottenham-Ecke, zwischen zehn und zwei; um vier Uhr aber, um fünf: Stille; die Stunden um Mitternacht: ausgestorben!

Lärm und Getümmel, Licht und Farbenorgien von Paris, dezentralisiert, die brennenden Boulevards, die tobenden Plätze des Montmartre – Leicester Square scheint dagegen provinziell, bescheiden, schüchtern.

 

Hier und dort ist die Sonntagsruhe, der angelsächsische Schrecken des Fremden, durchbrochen, durchlöchert. Hier und dort spielt ein Kino, läuft die Lichtzeitung mit den neuesten Nachrichten der Welt über ihren Streifen; in Gärten, Kasernenhöfen wird Tennis und Cricket gespielt; in Regent Street sehe ich sogar, hoch auf den zerstörten Mauern der alten Häuser, die ihre Eingeweide nach außen kehren, Arbeiter mit der Picke, der Schaufel demolieren!

111 Im allgemeinen aber herrscht Sabbat-Halbschlaf über der ausruhenden Stadt.

 

Ascot-Sonntag an der Boulters-Schleuse. Der Strom von zahllosen bunten Nachen durchwimmelt. Zwischen Hampton Court und Richmond die Hausboote, mit Blumen, Lampions, Fahnen geschmückt; Grammophone spielen auf, vor dem Hintergrunde des zarten Laubs der Inselufer tanzen weißgekleidete, fröhliche Menschen unter japanischen Schirmen.

Fröhlichkeit, weißgewandete Lebenslust, das Flirren auf dem Wasser synkopisch zerfetzt von den breiten Ruderbooten, die mit Stangen vorwärtsgestoßen werden; an den Ufern surren unaufhörlich die glitzernden Automobile der Wohlhabenden vorbei; heute ist das ganze Weltreich, die Millionen Wembley-Besucher aus allen britischen Provinzen des Erdballs, auf der Themse, an den Ufern der Themse bei Boulters-Schleuse und auch bei Runnemede, dem lieblichen, stromabwärts, an der 112 Magna Charta-Insel, wo heute mit mittelalterlichem Zeremoniell, in Purpurmänteln und Universitätstalaren, vor einer pietätvollen Menge die wievielhundertjährige Wiederkehr der Verleihung jener Bulle gefeiert wird. In insularer Zurückhaltung, die heutigentages fast anachronistisch wirkt, feiert die Menge die Freiheitsbulle wie den Ascot-Sonntag ohne Lärm, maßvoll und kultiviert bei aller Fröhlichkeit, Jugendlichkeit und Lebenslust –, in Gehaben, Bewegungen, Musik, Laut und Farbe gesittet, gesammelt, ernst und britisch.

 

In der Stadt: welche Mengen, Scharen, stabile oder herumziehende Rotten von Bettlern, hungrigen Arbeitslosen, Männern, Frauen, Kindern, Alten, Kriegskrüppeln; zuweilen in bunten Clowngewändern, zerfetzt und elend, mit Tafeln auf der Brust: Ypern, la Bassée, Château Thierry; mit Inschriften: »Ihr Penny meine letzte Rettung!«; an den Straßenecken, vor den Museen, 113 Warenhäusern: Drehorgelleirer, Blechmusikbanden, Dudelsackpfeifer, mit Löffeln klappernde, mit Zinntellern, Tamburinen rasselnde oder stumm dastehende, matt an die Mauern sich lehnende, dich anblickende, mit ihrem Blick dir folgende Bettler, Bettler, Bettler, Bettler, Bettler . . . . . .

114 Journalisten veröffentlichen ihre Wahrnehmung, daß, auch bei Sturm, strömendem Regen, rauhestem Wetter, im Sommer wie im Winter, die Ärmsten, die Heim- und Obdachlosen es vorziehen, an den allerexponiertesten Plätzen, den Brunnenrändern des Trafalgar Square, auf den Bänken des Themsekais unter dem National Liberal Club, zur Seite der »Nadel Kleopatras« zu übernachten – statt die von der barmherzigen Stadtverwaltung eingerichteten, jedermann offenstehenden Unterkunftsstellen, mit Matratzen und Waschgelegenheit ausgestatteten Hallen an der Kirche von St. Martins Lane (dicht beim Trafalgar Square und kaum hundert Schritte weit vom Themsekai!) zu benutzen.

Es ist in diesen Ärmsten, Elendsten, Enttäuschtesten, Zermürbtesten ein Selbstzerstörungsdrang, ein Wille, unterzugehen, zu sterben – der einzige noch lebende, von Leben zeugende Instinkt, in dem sich die letzten Reste der Kraft, die diesen wandelnden 115 Leichnamen noch innewohnt, gesammelt zu haben scheinen! Die Journalisten finden dies unbegreiflich. Trocken und sachlich stellen sie die Tatsache fest. Sie wird von den Zeitungslesern mit dem übrigen Inhalt des Tagesblattes verschluckt und auf natürlichem Wege ausgeschieden, vergessen.

 

Weise ihr! ihr Langsamen, Selbstzerstörer, Stoiker ohne Haus noch Herd, ehemals vielleicht Milde, Gerechte, sicherlich Schwache, bald sich selbst Aufgebende, Betrogene und Verworfene – die Frau zur Dirne geworden, der Freund zum heimtückischen Verräter, Mörder eurer unsterblichen Seele . . . .

Wie geht ihr, ihr Armen, sachte, gemessenen Ganges, erhobenen Hauptes, Schritt für Schritt, würdevoll eurem Tode entgegen! Wie liebe ich euch, ihr Armen, Weisen, Wissenden, Brüder!!

Vor allen aber liebe ich dich – Freund, Schicksalsgenosse, Künstler der Straße, des staubigen Asphalts, der du auf der 116 Erde kniest, am Rand des Weges, und mit bunter Kreide Bildchen, komische Szenen, Blumenbuketts, täuschend imitierte Pfund-Noten oder Briefumschläge, Porträts von Staatsmännern oder schönen Schauspielerinnen oder Massenmördern, auf den vom letzten Regenguß kaum getrockneten Asphalt malst!

Dein Gesicht ist dem Boden zugekehrt. Deine Hände sind fleißig bei der rasch verwehenden, rasch verflogenen Arbeit. Was geht in deiner Seele vor? Dem vorübergehenden Wohltäter, der eine Kupfermünze in deine schäbige Mütze fallen läßt, wendest du den Hintern zu. Recht so!

Gott allein – nein, auch ich weiß es, was in deiner unsterblichen Seele vorgeht, du Künstler der Straße, Kniender, unters Rad Geratener, Verratener, Bettler!

 

Colleoni up to date

Nicht im Museum, wo er hingehört, sondern vor dem Museum ist er 117 aufgestellt – dem Britischen noch dazu, dem Museum der Elgin Marbles, der Ägineten, von Pergamons, Birmas, Tibets Tempelschätzen . . . . Und er ist eine Maschine.

Schon einmal sah ich eine Maschine als Denkmal auf dem Hauptplatze einer lebenden Stadt stehen. Diese Stadt war 118 Winnipeg, und die Maschine: die Lokomotive, die den ersten Eisenbahnzug und damit die Kultur des britischen Weltgedankens vom Osten des Kontinents nach dem noch wenig besiedelten Westen geführt hatte, von Quebec ausgehend, den Nordrand der großen Seen entlang, ins Herz des Weizenlandes Manitoba, des großen Geistes Manitou Land.

Die Maschine aber, die vor dem British Museum als Denkmal errichtet steht, ist ein Tank. In mäßiger Erektion, von Steinen unterm Leib emporgesockelt, hierher gesetzt als ein Wahrzeichen des Sieges von der siegreichen, der ewig unbesiegbaren menschlichen Dummheit, Stupidity of Mankind; gestiftet übrigens vom »National War Savings Committee«, dem etliche Rasenplätze, öffentliche Gärten und Kinderspielplätze Londons ähnlichen Schmuck verdanken.

Ein leibhaftiger Tank, feldgrau bemalt, mit Nummer und Abzeichen versehen, auf Rollen und Ketten laufend, mit 119 Schießscharten für Maschinengewehr und Kanonenrohr, so steht das Denkmal da – aere perennius!

Auf daß des Genius dieser Epoche gedacht werde in alle Ewigkeit.

 

Noch einige Denkmäler des Krieges erheben sich auf Straßen, in Kirchen, in den Höfen großer Verwaltungsgebäude Londons – die aber sind den Toten geweiht, nicht dem Mordinstrument.

Da ist das Grab des Unbekannten Kriegers in der Westminster-Abtei; die Denkmäler der Füsiliere, des City-Regiments; an der Temple Bar, in Holborn; Nurse Edith Cavells Statue in St. Martin's Lane – dieser englischen Märtyrerin, die heute ein Abgott der Nation geworden ist, wie es einst Florence Nightingale, jene andere Pflegerin der Kranken und Verwundeten, war. Das vornehmste aller Kriegsdenkmäler ist das Cenotaph in Whitehall, wenige Schritte nur vom Eingang zu jener schmalen Downing Street entfernt, 120 in der der Puls des Weltreichs schlagen soll.

 

Wie jene Marmorstatue der sich gegen Luftangriffe verteidigenden Stadt Paris im Louvrehof, aber an einem Brennpunkt weitaus intensiveren Verkehrs, steht ein großer, stelenartiger, kachelofenförmiger Quadernbau mitten auf der Straße, von rechts und links vorbeiratternden Omnibussen und Lastwagen umdröhnt und erschüttert.

An den Längsseiten des Denkmals sind leibhaftige, wehende Fahnen befestigt. Unten um das Postament liegen Kränze, immer erneut, blühende Blumen zu Haufen geschichtet. Wie um die Grabplatte des Unbekannten Soldaten im Pariser Arc de Triomphe sieht man zu jeglicher Stunde barhäuptige Menschen um die Stele wallen, im Gehen eifrig die an die Kränze und Sträuße gehefteten Zettel lesen. Zuweilen sind auf diese Zettel überaus traurige, in ihrer Naivität tief ergreifende Gedichte oder Mitteilungen geschrieben: an 121 Johnny-Boy, an dear Uncle Harry, an Bob und Bill und Paddy und Jim, an alle treuen Söhne und Väter.

Wer an dem Cenotaph vorübergeht oder -fährt, lüftet den Hut. In einem Radius von etlichen Metern um das Totendenkmal herrscht Andacht wie in einer Kirche, einem Totenhaus, wie in einem Raum, in dem »God save the King« ertönt.

Nur ein einzigesmal sah ich Engländer gegen diese Gepflogenheit verstoßen, den Hut auf dem Kopfe behalten beim Vorüberfahren an dem Cenotaph – das war an einem wunderherrlichen Sommernachmittag; ich fuhr von Trafalgar Square nach Victoria hinunter, wie immer auf dem Verdeck eines Omnibus, und über uns, am wolkenlosen Himmel, ereignete sich etwas . . . .

 

Es war etwas Neues und Ungewohntes, und den Mitfahrenden auf dem Omnibus wurden durch das Ereignis Köpfe und Augen mit magnetischer Gewalt in die Höhe gezogen und gedreht.

122 In ungeheurer Höhe, so daß man das rasch fliegende Insekt gar nicht wahrnehmen konnte, schrieb ein unsichtbarer Finger mit rotem Rauch dort oben die Worte:

Daily Mail

an das unschuldige, hellblaue Firmament.

Ein Aeroplan stieß den roten Faden, der sich durch die Weltgeschichte ziehen soll, hinten aus sich heraus und malte mit ungeheuren Lettern, als Reklame gedacht, die beiden Worte an den geduldigen Himmel. Wir fuhren an dem Cenotaph vorüber. Die Menschheit vergaß, angesichts dieses Wunders der Technik, den letzten Weltkrieg und seine Toten und behielt den Hut auf dem Kopfe.

Wie mochte es unter diesen Hüten, in diesen Köpfen aussehen?

Ahnte einer von den Mitfahrenden, daß dort oben, mit allen Wundern der zeitgenössischen Technik des jüngsten und des nächsten Weltkriegs, die zynische Hetzerin soeben mit blutigem Finger 123 das Menetekel des untergehenden Zeitalters an das Firmament geschmiert hatte – um die Auflagenziffer, den Radius ihrer Infektion zu erhöhen?

 


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