Arthur Holitscher
Der Narrenbaedeker
Arthur Holitscher

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Paris–London durch die Luft

Um zehn Uhr morgens vor dem Grand Hotel, Rue Scribe. Der Autoomnibus, der uns nach Le Bourget bringen soll, ist noch nicht zur Stelle. Es ist aber auch noch reichlich früh; außer mir hat sich 82 von den Fluggästen nur ein junger Amerikaner eingefunden: Typus Farmerssohn aus dem mittleren Westen, breitschultrig und braun, Klubabzeichen im Knopfloch. Nachdem er sich vergewissert hat, daß ich mitfliege, beginnt er, etwas hastig, ein Gespräch. Er schwingt seine Zeitung in der Hand, spricht, mißbilligend und sich überstürzend, von Tagesereignissen, von Griechenland, vom Faschismus, von Mussolini, den er wie »Mäsolene« ausspricht. Dann unterbricht er sich plötzlich, schaut zum Himmelsausschnitt über der Rue Scribe hinauf: »nice morning!« und fragt nach einer Pause: ob die Gesellschaft etwa das Flugbillett zurücknimmt, wenn das Wetter jäh umschlägt? Ich bemerke, daß ja dazu heute wenig Aussicht sei. Er sieht mich an: nein, es war bloß eine Frage, rein theoretisch.

Der Bus fährt vor.

Aus dem Hotel kommen weitere Gäste, Franzosen, Amerikaner. Wir steigen ein, fahren in raschem Tempo durch 83 die Stadt, von der ich Abschied nehme!, durch graue Fabrikvororte des Nordens, durch eine lange Allee, erreichen gegen elf Le Bourget und biegen in das Gelände des Flugplatzes ein, wo schon der Farman-Doppeldecker, Typ Goliath, auf uns wartet.

84 Ein junger Funktionär der »Messageries Aériennes« kommt, uniformiert und in militärischer Haltung, auf unseren Omnibus zu und unterhält sich mit dem Chauffeur auf Russisch. Im Schuppen werden unsere Pässe revidiert, wir unterfertigen die Erklärung: keine Schadenersatz-Ansprüche der Hinterbliebenen! Darauf vergebliches Angebot von Frühstückskörben, Obst und Likör, und wenige Minuten später sitzen wir, in enge Korbsessel gezwängt, je zwei nebeneinander, in der schmalen, spitz zulaufenden Kajüte.

Im ganzen sind wir, außer dem Piloten und dem Mechaniker, unser sechs, nicht mehr. Ich sitze gut und bequem, ganz vorne, Plaid und Reisebuch auf den Knien, Blechkübel unterm Sitz zwischen die Füße geklemmt. Neben mir ein junger, sehr eleganter Franzose, dem eine hübsche junge Frau das Geleit gegeben hat; zuvorkommendes Lächeln, er hat die Reise schon wiederholt gemacht, putzt sein Monokel, entfaltet das »Echo de Paris« und wechselt mit 85 der Dame unten am Rasen Zeichen und Gebärden. Ein Blick nach hinten, der von den anderen als fröhliches Zunicken aufgefaßt und erwidert wird, denn unser Schiffchen ist in diesem Augenblick ins Laufen geraten. Vom Piloten ist nur die breite, ölbeschmierte untere Hälfte zu sehen, die obere ragt über die Kajüte empor; von hohem Sitz lenkt er, ein Steuermann, unser Schiff auf seiner luftigen Bahn. Draußen, hinter dem Fensterchen neben meinem Platz: die breiten gelben Tragflächen, einer der geölten, triefenden, komplizierten Motoren, ein Wirbelwind: der sausende, pfeifende Propeller.

 

Ein Atemzug – wir haben den Boden verlassen. Schon schweben wir leicht und ohne Schwanken, in spitzem Winkel, vom Erdball in die Höhe.

Eine Wolke! Unter weißen, eilig zerflatternden Fetzen sehe ich den Schatten, den sie auf eine Häusergruppe und die Hälfte einer Wiese unter uns wirft. Dann verschwindet das Dorf, und ich sehe 86 nur noch die Wolke unter uns. So also sieht eine Wolke aus!! Mir ist, als sähe ich zum erstenmal eine Wolke, als hätte ich bis heute, bis zu diesem Augenblick nicht gewußt, was für ein Ding eine Wolke ist!

Jetzt aber geht es höher, höher. Mein Nachbar bietet mir Watte zum Zustopfen der Ohren an, denn das Propellergeräusch ist betäubend geworden; tiefer Orgelton dröhnt auf seinem Grunde. (Später bereue ich, daß ich das freundliche Angebot abgelehnt habe.) Wie zierlich ist der Teich von Enghien! Das Kasino – und hier: der Wald von Montmorency – wo liegt Jean Jacques' Häuschen? Ein Wasserlauf – dort, in der Ferne der klar gezeichnete graue Fleck, das ist Chantilly!

Nun fliegen wir hoch und geschwind. Zuweilen, beim Aufwärts-, beim Abwärtswechseln aus einer Luftschicht in die andere: leichter Lift-Schauer, nicht mehr.

Städtchen erscheinen, wohl abgegrenzt vom bebauten Land, sauber gezeichnet 87 und kompakt: rote Dächer, ein Platz, nicht ganz im Zentrum der Zeichnung, und darauf etwas Graues, Schiefes, geringen Schatten Werfendes: die Kirche.

Felder. Viele Parallelogramme, fein und sicher geschnitten, gelb, braun, grün und rötlich koloriert und dicht nebeneinander gesetzt. Gut kultiviertes Land, gut ausgenützter Boden. Und wieder Parallelogramme; kleine rote Häusergruppen; grüne Flächen – aber alldies wie tot, gänzlich reglos. Da – ein Wald, mit einer dünnen gelben Scheitellinie in der Mitte, schnurgerade gezogen. Offenbar ein Hügel, dicht mit Bäumen bestanden, gepflegt, Jagdgrund. Und wieder diese bunt nebeneinandergesetzten, sauber ausgeschnittenen Parallelogramme, reglos, leblos, einförmig. Mein Nachbar liest seine Zeitung, ich habe keine mit . . .

Ach – eine Stadt, tief unten. Der Motor murrt, wir fliegen recht hoch. Sonderbar, dieses rötliche, kreisrunde Gebilde dort unten: es müssen schon 88 ganz niedrige Häuschen sein! Aus dem putzigen Spielzeug hervor, auf gelb ausgespartem Fleck, jählings, als wiche die Stadt ehrerbietig vor ihr zurück, eine graue, aufrechte Schachtel – die Kathedrale, und ringsherum: Beauvais.

Beauvais und seine Kathedrale, berühmtes Chorgestühl . . . pfui Teufel, was ist das . . . berühmtes Chorgestühl . . . pfui, ein Geruch . . . im Mittelalter wurden hier die herrlichen Tapisserien . . . ein Blick über die Schulter: o weh, den Amerikaner hat's! . . . herrliche Tapisserien, Gobelins . . . Der Kerl, was fällt ihm ein, wir fliegen doch glatt wie über ein Parkett! Ich bemühe mich krampfhaft, aus dem Fenster hinaus zu schauen, auf Beauvais, die Kathedrale, das mittelalterliche Gewirr. Wäre der Raum unserer Kajüte nur nicht so eng, so dichtverschlossen. Mein Nachbar zieht, ohne das » Echo de Paris « wegzulegen, gelassen ein Seidentaschentuch aus dem Rock, vergräbt seine Nase darin . . . Gottverdammich, ich glaube 89 gar . . . meine Füße krabbeln auf dem Boden . . . der Kübel . . .

Ich erhasche einen Blick meines Nachbarn über sein verdammtes »Echo« weg. Er presst sein Tüchlein dichter um die Nase . . . Nach vollbrachter Verrichtung schaue ich, kopfweherisch, in mein Reisebuch: der Ort, über dem wir jetzt schweben, nennt sich: Crêvecoeur. Vom Klang dieses Wortes wird mir's zum zweitenmal übel . . .

Aber nun ist's aus. – –

Wir fliegen recht hoch.

Wie unbeweglich alles! Langweilig. Langweilig!!

Das Land tot und stumm. Eine Fahrt im Bummelzug ist ja abwechslungsreicher. Als führte man den Finger über die Landkarte spazieren, so ist es. Parallelogramme, immer wieder gelb, grün, rötlich, eine auseinanderfließende Stadt, Abbeville, nicht das geringste Bewußtsein, daß dort unten Menschen leben, nicht das geringste Bewußtsein einer Gefahr: bloß Langeweile und komplizierter Gestank von Öl und von 90 anderem! Dazu leiser Kopfschmerz. Der klemmende Sitz. Unmöglich aufzustehen. Furcht vor Urindrang. Neben mir links die entfaltete Zeitung mit leise schwingendem Rand, rechts das Fensterchen, unten ein wenig beschlagen.

Blick auf die Uhr: eine Stunde und achtzehn Minuten nach dem Aufflug in Paris erscheint in der Ferne leise heranlaufendes Blau: der Kanal.

 

Altes Städtchen, auf engem Dreieck an einer Flußmündung getürmt und aufgehäuft: le Crotoy, und das daneben ist: Berck.

Wir fliegen so tief, daß ich die Kabinen am Strand von Berck wahrzunehmen glaube, steigen aber, lavieren, experimentieren mit den Strömungen, bis über den drei weißen Leuchtturmnadeln von Paris-Plage stabile Fahrt erreicht ist.

Auch hier, die Küste entlang, die sonnige, sommerliche Küste entlang, alles leblos, ohne Regung. Nichts, nichts regt sich dort unten auf der 91 farbigen, bläulich-weiß-gelblichen Landkarte. Sicherlich werden wir bald vom Land abbiegen, hinaus zur See, und es wird ohne lustige Scherereien mit Zoll, Paß, Trägern, hinundherlaufenden, aufgeregten Passagieren vor sich gehen, ohne das selige Anbordsteigen, Liegestuhlsuchen, ohne die tausend kleinen witzigen Lebenszufälle, die solch harmlosen Genuß verursachen: die Mitfahrenden freundlich Revue passieren lassen, das Meer wollüstig in Leibesnähe begrüßen!

Hoch, und vom monotonen Orgelgedröhn der Motoren, der Propeller begleitet, fliegen wir, fliegen wir weiter die wie mit der Schere ausgeschnittene Küste entlang, biegen dann, vor Boulogne, mit einemmal nach links ab. Cap Gris Nez ist, ausgezackt, in deutlicher Zeichnung zu sehn, trotz der Entfernung. Und jetzt, jetzt schwimmen wir, höher und höher ansteigend, im leuchtenden blauen Sonnenglanz, dröhnend über das Meer dahin.

92 Ich notiere mir: zwei Uhr zehn Minuten, und: wir sind überm Kanal.

Siebzehn Minuten später schreibe ich auf: Sandküste, gelb, dünenartig gerippt, in Sicht.

Durch den dröhnenden Schädel zieht, von irgendwoher, eine Erinnerung, ein Zweifel: Sandküste?? Kreideküste!! Weiß, nicht gelb! Aber da unten sehe ich genau: gelb, gelb, geripptes gelbes Gelände! Zwar über dem Gelb, leicht auflasiert, zittert bläulicher Schimmer, aber Gelb, Sand, untrüglich: gelbe Sanddünen.

Nun wird's offenbar: es ist seichtes Wasser über hohen Sandbänken! So seicht ist das Wasser an dieser Stelle!! Hier und dort ragen sogar scharfe gelbe Zacken, in welligen Kämmen fortlaufend, wie das Rückgrat eines halb versunkenen Riesenfisches aus dem Blauen spitz in den Sonnenschein hinauf, stechen in die Höhe – sollten das etwa die Godwin-Klippen sein, die gefährlichen, berüchtigten? Sollten sie hier gelagert sein, nicht weiter nördlich, 93 zwischen Calais und Dover, oder vielleicht noch weiter nördlich?

Auf alle Fälle – hier sind gelbe Riffe, Dünenkämme mit transparentem bläulichen Schimmer darüber. Um zwei Uhr vierundvierzig ist das Meer blau, wird rasch veilchenblau, indigofarbig – und nicht lange nachher, zwei, drei Minuten später, weit weg noch zwar, aber wir nähern uns eilig, schießen förmlich in wilder Hast drauf los: aus dem Blau aufsteigend, emporquellend, die weiße Küste mit schmaler dunkler Decke – England!

 

Wie jauchzte sonst das Herz auf, wenn, ein wenig schräge, die Reling überschneidend, erst ein undeutliches Leuchten, dann deutlicher und heller, immer heller, weiß und hold, Englands Küste vor dem Blick sich hob! Jetzt: ein Blick auf die Uhr, eine Bleistiftnotiz ins Reisebuch: Englische Küste zwei Uhr siebenundfünfzig.

Und da fliegen wir auch schon über England.

94 Das Land: keine bunten, gradgeschnittenen Parallelogramme mehr: stumpf dunkelgrüner Rasen, dunkel und stumpf wie Moos, tiefer innen etwas hellere, ganz unregelmäßige Flächen, wie Puzzle-Ausschnitte, von tintenschwarzen Gebüschrändern eingefaßt. So liegt Kent, das liebliche, unter uns.

Hier und dort diffuse, offenbar mit grauem Stroh gedeckte Dörfer; die Straßen dunkel, wie Asphaltlinien; dann, mitten in dieser grün, stumpfgrau und dunkel, bizarr zugeschnittenen Landschaft: geometrisch, in peinlicher Symmetrie aufgezeichnete, mit bunten Punkten gesprenkelte Parks, alte, efeubewachsene Ecktürme an den Flanken grauer Tudor-Landsitze, mit schimmernden Terrassen, Treppen, glitzernden, glimmenden Gewächshäusern, langgestreckten Stallungen, künstlichen Teichen, die von Brücken, kleinen Inseln unterbrochen zu sein scheinen.

Welch ein Kontrast: jenes methodisch bebaute, sauber in kleinbesitzliche 95 Parallelogramme eingeteilte Westfrankreich, die Picardie – und hier: das feudal großzügig brachliegende Weideland und Fuchsjagdgebiet Ostenglands, die Grafschaft Kent. Durch schmalen Wasserstreifen geschieden zwei Welten, zwei Lebensanschauungen, Nationalcharaktere: dort der Proprio, Kleinbürgertum der demokratischen dritten Republik – hier his Lordship und sein aristokratisch konservativer Großgrundbesitz!

Ach, hätte ich erst wieder festen Boden unter den Füßen, um über Agrarpolitik, Marxismus, Alliierte, Internationale, Nationalismus und Bodenreform in Ruhe nachzudenken! Der Unglücksmensch dahinten ist ja, dem Geruch nach zu urteilen, wieder, diesmal in England, sterbenskrank!! O liebliches Kent, wären wir doch schon in Surrey!!

Da stößt mich mein Nachbar an. Er hat das »Echo de Paris« weggelegt. (Dieses aufgespreizte Zeitungsblatt war mir während des ganzen Fluges ein Greuel, zuweilen glaubte ich 96 seinetwegen mich erbrechen zu müssen, sicherlich werde ich die Worte: »Echo de Paris« nie wieder hören können, ohne Brechreiz aufsteigen zu fühlen!) Mein Nachbar weist auf ein paar glitzernde Tautropfen in der Ferne – dort, in irisierendem Nebel: London!

Jetzt fliegen wir, wenn ich dem Reisebuch Glauben schenken darf, über Sevenoaks, ich glaube sogar das Schloß Knole zu erkennen; das Glitzernde in weiter Ferne aber ist der Kristallpalast in der südlichen Vorstadt Sydenham.

Indes: noch ist's, ach Gott, nicht so weit: wir biegen, biegen, biegen ab, nach links, es biegt sich alles in mir, das ist ja eine elende Kurve – die Kajüte, die Tragflächen, unser Schiff gerät ins Schlingern, Nebel breiten sich zwischen dem Fensterchen vor mir und der Landschaft unter uns aus, der Horizont ist schief verrutscht – Rattern und Dröhnen scheinen besonders infernalisch die Atmosphäre zu erschüttern, die die große Stadt umlagert, einhüllt – da, o Herrgott sei bedankt! mein 97 Nachbar rafft mit gelassener Gebärde sein Plaid zusammen, steckt das Monokel in die Westentasche, trifft Anstalten, die auf baldiges Landen hindeuten – und da sind auch schon große Buchstaben aus Beton im Rasen unter uns zu erkennen, deutlich – ein Schuppen, viele Schuppen, Autos, ein Zaun voll Menschen, die zu uns heraufblicken – sicher und sanft läßt Farman-Goliath sich genau auf den Fleck niedersinken, wohin er gehört, steht: South Croydon, drei Uhr dreißig.

 

Die Einreiseformalitäten sind rasch erledigt, der Einwanderungsinspektor benimmt sich mit besonderem Zartgefühl: offenbar soll der Flugverkehr auf jede Weise gefördert werden. (Das Billett kostete fünf Guineen, etwa ein Viertel mehr als Eisenbahn und Schiff erster Klasse.)

Im Autoomnibus, den wir taumelig und taub, von den Blicken der hinterm Zaun versammelten Croydonesen verfolgt, besteigen, fragt jemand nach der Höhe, 98 die wir erreicht haben. Niemand hat den Piloten befragt; mein Kajütennachbar schätzt sie auf vierzehnhundert Meter Maximalerhebung über dem Kanal, in der Nähe der englischen Küste. Wie dem auch sei: hier ist London!!

Geschmeidig und glatt gleitet der Omnibus über die Asphaltstraßen der südlichen Vororte hin. Schon umfängt mich die Luft, die Lust, die freudige Liebe zu dieser Stadt. In rascher Fahrt dem Herzen Londons zu. Hier: die Themse, Whitehall, o: das Cenotaph! der Strand, Trafalgar Square . . . liebliches London!! – – –

Mit dem In-den-Sielen-Sterben war es also diesmal wieder nichts!

 


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