Arthur Holitscher
Der Narrenbaedeker
Arthur Holitscher

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Highgate cem. No. 24748

Beim Tor händigt mir der »Gatekeeper «, ein freundliches Individuum 124 dickensscher Herkunft, in Frack, Zylinder und Gamaschen, einen Zettel ein. Es sollen heute: um drei Uhr dreißig Minuten Carlier, Joan Bessie, um vier Uhr aber Kent, Sarah Jane oben unter den Büschen des ansteigenden Hügels beigesetzt werden. Auf die Rückseite des Zettels hat mir der freundliche Torwart, nett und genau, einen Plan des Friedhofs aufgezeichnet, damit ich die ziemlich abseitige, versteckt liegende Nummer 24748 finden könne.

»Kommen viele Leute, das Grab zu sehn?« frage ich den Befrackten. – »O ja, und zwar quite international public! Neulich waren zwei Inder hier, auch Australier und Japaner kommen. Zumeist aber Russen, immer sehr viele auf einmal.«

An der Hand des Plans taste ich mich durch die hügeligen Alleen, Seitenwege, bis zur sehr schönen und frei daliegenden Grabstatt derer von Scrimgeoor vorwärts. (Scrimgeoor – hieß der kommunistische Abgeordnete nicht so?) Dann beginnt, um die Ecke, ein Gewirr 125 von Steinen, Kreuzen, marmorumrandeten Platten, von eben erst aufgeschütteten, von vor langer Zeit zusammengefallenen Grabhügelchen – offenbar ist dies hier eine Armeleut-Ecke des Friedhofs.

Hie und da, in blauem Glase, ein paar welke Blumen vor einem Stein mit verwischten Lettern.

No. 24748 – – an den Stätten der Lebenden finde ich mich leidlich zurecht – an den Stätten der Toten läßt mich mein Orientierungsvermögen im Stiche. Da – Nelken, rote Nelken um ein Grab! Das wird es sein! Ich gehe näher: aber es ist das Grab von Jemima und Edwin Purchase, nicht No. 24748, nicht seines.

Ich habe mich verirrt und werde den Weg zu Scrimgeoor zurück müssen, stolpere, einen Ausweg suchend, vorwärts – stehe auf einmal vor dem Grab. Dem Grab No. 24748. –

 

Längliches liegendes Viereck, Steinränder um einen ganz schmalen, 126 ungepflegten, gelblichen Rasenfleck, auf dem ein flacher Bronzekranz liegt. Am Kopfende die Inschrift:

 

Jenny von Westphalen
the beloved wife of
Karl Marx
born February 12. 1814
died Dezember 2. 1881
and Karl Marx
born May 5. 1818, died March 14. 1883
and Harry Longuet
their grandson
born July 4. 1878, died March 20. 1883
and Helena Demuth
born January 1. 1823
died November 4. 1890

 

Helena Demuth, die treue Dienerin des Hauses, in Unglück und Not bewährt, ruht im gleichen Grabe mit Marx und den Seinen.

Ich lese auf dem Bronzekranz:

»Peoples of the Union of the
Sovjet-Republics
«

Darunter die Sichel und der Hammer. 127 In die Sichel und den Hammer hat ein Besucher, Schuft von einem Besucher, seinen halbverbrannten Zigarettenstummel hineingedrückt. . . .

Keine Blume. Ein Zettel: russische Studenten waren hier. Das ist alles.

 

Jean Longuet, überlebender Enkel Karl Marx', Mitglied der II. Internationale, hat das Ersuchen der russischen Regierung im Namen der Familie abgelehnt: Karl Marx, Jean Longuet's Familienangehöriger, wird also nicht am Fuße der Kremlmauer bestattet werden, wo Lenin liegt, Swerdlow, Woroffski, Reed und die anderen Kämpfer für die Befreiung des Proletariats. Longuet weist das Ansinnen mit Entrüstung zurück: die Gattin vom Gatten zu trennen, das Grab der Zerstörung preiszugeben! Ich habe den Brief Longuet's an Moskau gelesen. Ach, er enthält eine Blütenlese der Rhetorik, aber auf dem Grab des Großvaters wächst keine einzige Blume. Wie genau kenne ich dieses Pathos, 128 das die bürgerliche Familie an eine Grabstätte verschwendet, die im übrigen verwahrlost, zerfällt, ohne ein Zeichen der Pietät, ohne ein Liebeszeichen. Es ist die Rhetorik, das Pathos der II. Internationale.

 

Genosse Longuet, ich will Ihnen gern den Weg zu dem Grab zeigen, das zum Wallfahrtsort des Weltproletariats bestimmt wäre, wenn Sie ihm seine Stätte an der Kremlmauer nicht verweigerten. Man fährt mit der Untergrundbahn nach der Station Highgate, steigt die Straße zum Krankenhaus empor; das zweite Tor links ist das Tor des Friedhofs. Der freundliche Herr, der dieses Tor hütet, wird Ihnen den weiteren Weg aufzeichnen: doch gehen Sie ja nicht den Hügelweg rechter Hand weiter, sondern schlagen Sie den Seitenpfad zum Grabmal ein, auf dem der Name »Scrimgeoor« steht! Und dann, nicht weit von dem mit roten Blumen geschmückten Stein Jemimas und Edwins Purchase, das schmale, verfallene, arme, heilige Grab, 129 das ist das Grab von Karl Marx, Ihres Großvaters Grab, Genosse Longuet.

 

Annie Besant

Zum erstenmal begegne ich dieser großen Frau, der größten Menschen einem unter den Lebenden.

Gleich dreimal nacheinander sehe ich sie. Das erstemal spricht sie in einem Meeting für die indische Homerule, für die (immerhin un-ghandistisch, unter englischer Oberhoheit vorzunehmende) Autonomisierung ihrer Wahlheimat Indien, deren Tradition, Eigenleben, Heiligkeit und Bedeutung ihr bekannt ist wie keinem zweiten Europäer. Sie hat der Menschheit des Okzidents Sinn und Botschaft Indiens überbracht, nahegebracht, eingeflößt wie kein zweiter heute lebender Mensch, (nicht einmal Deußen, nicht Tagore, auch nicht Ghandhi!). Aber ihr Verdienst ist noch größer.

Einige Tage nach dem Meeting begegne ich ihr in der Wandelhalle des Parlaments, in diesem Korridor, der vom 130 Haus der Gemeinen zu jenem der Lords führt. Mitglieder der Arbeiterpartei, der Arbeiterregierung umringen sie. Ganz in Weiß gekleidet, in golddurchwirkten weißen Seidengewändern geht die alte weißhaarige Frau mit dem männlich geschnittenen, ernsten, fast gewalttätig blickenden Gesicht durch den gotischen Saal, von den Männern der Arbeiterregierung umgeben und begleitet – diesen sonderbaren, bedeutenden Menschen, die in der Welt die Politik des reinen Gewissens durchsetzen wollen mit allen ihren Beschränkungen, Widersprüchen – Fabiergesinnung, Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit gegen den Feind, Frieden in einer blutrünstigen Zeit, die der Waffe noch nicht entraten kann, ihrem Ende entgegentaumelt. Snowden, der Finanzminister, ist bei ihr, krank und fahl, an Stöcken humpelnd, Lord Haldane, wie ein zu den Gipfeln der Kultur aufgestiegener John Bull anzusehen, Trevelyan, der Unterrichtsminister, der vor einer halben Stunde den Commons sein 131 Erziehungsprogramm vorgelegt hat – derselbe, der zu Kriegsausbruch aus dem Ministerium Asquith austrat –, und auch George Lansbury, der Cockney, Führer und Liebling des englischen Proletariats, selber ein Proletarier, Lansbury, der in Rußland war und fast zum Kommunisten geworden ist.

Tage zuvor, im Meeting der Inder, hat er – und mit ihm Bob Smillie, der Führer der Gewerkschaften, – sich zu dieser alten Frau, ihren Lehren, ihrer Menschlichkeit bekannt. Diesen Engländern, Arbeiterführern, Fabiern und Proletariern ist sie, so beteuerten es Smillie und Lansbury, vor einem halben Jahrhundert schon Lehrerin und Vorbild gewesen. Von ihr empfingen sie ihre erste geistige Inspiration zur Befreiung der leidenden Klassen, der Parias der europäischen Gesellschaft – von der Okkultistin, die die Weisheit des Menschheitsgewissens in den Geheimbüchern der mystischen Kulturepochen vor unserer Ära aufgefunden, erkannt und über ein von Wahn, Cant und 132 falsch begriffener Religiosität gepeinigtes Inselreich ausgegossen hat.

(Ghandi aber hat sie nicht erwähnt – diese Engländerin, die ihr Leben in weißen Gewändern verbringt, umgeben von Blumen, heiligen Tieren, Mönchen, Kindern und Geheimnissen!)

Das dritte und letztemal sah und hörte ich sie wieder einige Tage später. Vor der wunderbarsten Zuhörerschaft, die jemals zu Füßen eines Menschen sich geschart hatte, um die hohen Dinge des Lebens zu vernehmen, hielt Annie Besant einen Vortrag über das Kommen des neuen Erlösers, auf den die Menschheit dieser Tage wartet.

In beseelten, beschwingten Worten, die über uns ergreifend wie Bergpredigtbotschaft hallten, erklärte sie, daß die Zeit mit ihren Erschütterungen, Krieg, Seuchen, Hungersnot, Verarmung und Bruderkämpfen, das Heraufkommen des neuen, sechsten Menschentypus ankündige. Immer, seit undenklichen Zeiten, erneuere sich der Typus 133 der Menschheit, wenn aus ihrem unerschöpflichen Schoß ein Erlöser geboren, das heißt, der Erlöser wiedergeboren werden soll. Immer bebt die Erde, erbebt die Menschheit in Geburtswehen zu solchen Zeiten. Der neue Menschentypus aber sei bereits erschienen: aus Amerika komme die Kunde von einem jungen, eben erst er wachsenden Geschlecht, das wissend zur Welt gekommen ist: der intuitive Mensch. Wie den Buddha, kann diesen Menschen keine Schule lehren, unterweisen; für das Wissen der Lehrer hat er nur ein Lächeln: kein Lächeln des Mitgefühls oder der Verachtung, mehr der Überlegenheit; denn, ehe der Lehrer den Mund aufgetan hat, hat er bereits erraten, begriffen. Er ist nicht glücklich, nicht unglücklich – er weiß.

Aus dem Schoße dieses neuen, des in der Reihe sechsten Menschheitstypus wird der Lehrer und Führer und Prophet, der nach ewigem Gesetz immer aufs neue wiederkehrende Erlöser geboren werden!

134 Ein Ton. Kaum hatte Annie Besant die einleitenden Sätze ihres Vortrags gesprochen, hörten wir im Saal einen Ton erklingen. Es war ein Ton, schwingend und herrlich, wie von einer vollkommenen Cellosaite, und er schien vom Podium herzukommen, auf dem die alte Frau stand und sprach.

Ein paar Minuten später – derselbe herrliche, sonore, schwingende Laut, melodisch und nachhallend – diesmal von der Galerie herab. Immer – wie ein Aufhorchen, ein Aufschrecken der schweigenden, andächtig lauschenden Menschen.

Und das drittemal – ganz in meiner Nähe, in der Mitte des Saales, im Parkett: als stiege aus der Reihe, in der ich saß, meiner Nachbarschaft, der unsterblichen Seele eines von uns, die wir hier dichtgedrängt saßen, geheimnisvoll, unirdisch, Geisterlaut empor.

Ich blickte um mich, sah in erschrockene, bleiche Gesichter.

Der Geist war mitten unter uns. Er manifestierte sich. 135

 

Allerlei Denk- und Sehenswürdigkeiten

I.

Der Tower mag getrost weiter an der Themse liegen bleiben, Hinrichtungen älteren Datums interessieren mich wenig; Westminster lockt nicht allzusehr, dieses Urbild der Siegesallee; zu oft auch wanderte ich schon auf Pfaden Allerweltsbaedekers den Gildenhallen, Königsgemächern, Findelhäusern und alten Kuriositätenläden nach – heute zieht es mich nach Hilldrop Crescent, der kleinen, stillen Straße, die im Norden Londons, im Schatten des grimmigen Holloway-Zuchthauses ihren Halbkreis bescheidener Kleineleute-Villen über die Hügellehne spreitet. Und hier ist das Haus mit den beiden kugelgekrönten Säulen am Eingang seines Vorgärtchens . . . .

Es ist wieder bewohnt, dieses Haus. Hmhm. Oben im Fenster des ersten Stocks sehe ich die Rückseite eines Toilettenspiegels – der Toilettentisch des englischen Mittelstands steht also 136 an seinem althergebrachten Platze, der Genius der Wohlanständigkeit webt wieder um die Räume des Hauses sein bürgerliches Spinnweb! Sicherlich wird unten im Erdgeschoß, um 8 Uhr früh, Landspeck mit Eiern, Haddock, Grütze und Toast konsumiert, zum Wochenende fährt die Familie nach Ramsgate, am Mittwoch nachmittag nach Wembley, einmal im Monat hat man Mr. und Mrs. Jones zu Gast, die billige Woche bei Barker und Pontings versorgt Spind und Küche, der Reverend die Seelen, die Matinee im »Lyric« das Kunstbebedürfnis mit den Notwendigkeiten des bürgerlichen Durchschnittshaushalts.

Dr. H. H. Crippen, lieber Doctor H. H. Crippen! Dein Andenken bewahrt nicht die Westminster Abbey, sondern die Schreckenskammer im Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud! Aber, was Palmerston, Stanley, Pitt und der erste Herzog von Westminster, was keiner der Insassen der Abtei zuwegegebracht hat: dir danke ich es mit unvergänglicher Dankbarkeit. Hättest du, 137 in diesem Hause vor mir, deine Frau Belle nicht getötet, zerstückelt und im Kohlenkeller vergraben, wärst du nicht mit deiner als Knabe verkleideten Geliebten Miß de Neve nach Kanada gefahren, um, als erstes Opfer der drahtlosen Telegraphie, bei deiner Ankunft in Rimouski am St. Lorenzstrom 138 verhaftet und ein paar Wochen später in London gehenkt zu werden – »Adela Bourkes Begegnung« wäre wahrscheinlich ungeschrieben geblieben, ein Roman, den ich sehr liebe, obzwar und gerade weil er das Schicksal meiner anderen Bücher teilt, nämlich, daß er von zu wenigen gelesen worden ist. Hab Dank, lieber Zahnarzt H. H. Crippen, für dein Leben. In diesem Kohlenkeller lagen die Reste Belles, deiner Gattin. Durch dieses bescheidene Tor mit den Kugelsäulen entflohst du in Begleitung deiner Stenotypistin Edith de Neve. H. H. Crippen, habe Dank!

 

II.

Etwas ähnliches wie dir ist gerade in diesen Tagen einem anderen heißblütigen Herrn passiert. Die Geschichte muß erzählt werden, damit motiviert sei, aus welchem Grunde das englische Volk in »Betragen« die Note 1 verdient!

Patrick Mahon, ein Clerk, hat in einer einsamen Villa des Modebades Eastbourne an der Ostküste seine Geliebte 139 Miß Kaye ermordet . . . nun: wahrscheinlich ermordet (denn er leugnet, und wie er leugnet! Es war niemand dabei – sie hat ihn überfallen, sie war's, die, bei der Abwehr, so unglücklich stürzte, daß sie sich an dem Rand des Kohlenkübels den Schädel spaltete!), auf alle Fälle hat Patrick aber die Leiche zerstückelt und beiseite geschafft (um keine Scherereien zu haben). Die Geschworenen verurteilen den nicht unsympathischen, intelligenten, hübsch aussehenden und zuversichtlichen jungen Gentleman, der sich mit überzeugender Kraft verteidigt, zum Tode.

Mitleid! Stellenweise Empörung! Mahon ist nichts nachgewiesen!!

Einen Tag nach dem Urteil erfährt man: der junge sympathische Gentleman hat vor Jahren bereits einmal wegen eines Raubmordversuchs an einer Geliebten im Zuchthaus gesessen. Die Richter, die Polizei wußten es. Die Geschworenen nicht; die Presse nicht; das Publikum nicht. Unbeeinflußt sollten die Geschworenen ihr Urteil über den 140 gegenwärtigen, positiven Fall abgeben. – Fair play.

(Als man nachher erfuhr, daß der sympathische, hübsch aussehende Mörder sein Gesicht in aller Heimlichkeit mit Tabaksaft künstlich gebräunt habe, um sich vor Gericht durch Blässe und Erröten nicht zu verraten, da hatte er den letzten Rest von Sympathie verscherzt.)

 

III.

Caledonian Market, am Freitag morgen. – Wer unter euch kennt ihn, weiß, wo er abgehalten wird? Und doch: was ist die Moskauer Sucharewka, an diesem Tand und Trödel gemessen, was der Kasaner Tatarenbazar, auf dem doch alle Krankheitskeime der Welt in der Luft herumfliegen, gegen die Atmosphäre dieser Schaustellung von Überbleibseln aus Schiffbrüchen des gescheiterten Mittelstandes? Betten, Kommoden, Chippendale-Fauteuils, Muschelkassetten, Sonnenschirme, Apothekertöpfe, Familienporträts, Toilettentische, 141 Eierspeckfrühstücksschüsseln, Tommy und Jack, die Bauchrednerpuppen mit beweglichen Unterkiefern, aber schlappen Beinen, alle Flaggen aller Nationen, ja sogar: hurra, Schwarzweißrot! also Vorkriegszeit – und daneben Balanzierstab, Trikots und Rosaröckchen der Seiltänzerin, der dies alles gehört hat, Trompeten, Trommeln und Flöten, Schuhe, Schuhe, Schuhe, Mäntel, Hosen, Pelze, ein lebender Fidjiinsulaner in gelber Seide mit Wollschädel und Haarpomade, der smarte Whitechapeljüngling mit seinem Tisch, auf dem, neben gesülztem Aal und Gurkensalat, ein Grammophon als Lockmittel: »Chawe, Chawe, Chawenju!« spielt, am hellen Morgen vor dem Sabbat!

 

IV.

Mile End-Straße, Whitechapel, Samstagabend. In der auf und ab wogenden, sich durcheinander schiebenden Menge alle Dialekte, Jargone, Gerüche, Unarten von Kowno, Wilna, Odessa, Gomel.

142 Angeheimelt verlangsame ich mein Marschtempo, werde infolgedessen gestoßen, gerempelt, gepufft und im Kreis herumgewirbelt. Nach jedem Stoß, jedem Puff, jedem Wirbel, in den Dialekten, Jargonen und Mundarten Kownos, Wilnas, Odessas, Gomels, das Wort, die Entschuldigung:

»Sorry!«

Wunder der Assimilation!

 

V.

Wer unter euch, Millionen, die ihr Tag für Tag und Jahr um Jahr durch Piccadilly auf und nieder wandert, hat den in Schulterhöhe mitten aus dem Trottoir emporragenden langen Bronzetisch bemerkt, unter dem die Inschrift besagt: diese Platte sei als Rastplatz für beladene Menschen errichtet, damit sie ihre Tragkörbe ein wenig niedersetzen, ihren schmerzenden Buckel für ein paar Minuten erleichtern können! O gentle old England!

Gegenüber sitzen die alten Konservativen Herren in den breiten 143 Ledersesseln ihrer vornehmen Klubs, aber der Bronzetisch stammt direkt von den Vorfahren der Leute, die jetzt in der Regierung sitzen, der Arbeiterregierung, der Fabier, obzwar ja diese Vorfahren in ihren Hütten kaum einen Sessel, vielleicht nicht einmal einen Tisch oder ein Bett ihr eigen genannt haben! Die Last auf dem Buckel aber jawohl.

 

VI.

Hier ist's nicht mehr weit bis Hyde Park Corner. Wer unter euch, Millionen, aber weiß, daß am andern Ende des Parks, vor dem Marmortor, in alter Zeit der Baum von Tyburn, das heißt: der Galgen gestanden hat?

Ein netter alter englischer Gentleman hinterließ sein nicht unbeträchtliches Vermögen der Stadt mit der Weisung, daß aus den Erträgnissen jedem der armen Sünder auf seinem letzten Weg ein wohlriechendes Blumensträußchen, »a nosegay« überreicht werde – damit er durch die Nase ein letztesmal die konzentrierte Herrlichkeit der Erde 144 einsauge, ehe er vor dem Schöpfer dieser Herrlichkeit erscheint, am anderen Ende des Hydeparks, sozusagen!

 

VII.

Marble Arch! Durch das Tor aus Marmor hinein in den Park. Da sind sie, meine Lieblinge: die Freiluft-Redner, Apostel, Schwindler, Heilige, Narren und Eigenbrödler, die Verkündiger des Glaubens an Gott, an die übrigen, an alle Götter, an den Menschensohn, alle Menschenkinder, da sind sie: die Methodisten, Christadelphiker, Wicleffiten, Papisten, Bibelausleger, Hymnensänger, Heilsarmeesoldaten, Kirchenarmee-Rekruten, die Missionäre der mohammedanischen Ahmadia-Bewegung, der Botschafter des Königs Asoka!

Aber die Zeit ist vorwärtsgeschritten, ich nehme Neu-Ankömmlinge wahr, neue Lehren, neue Kanzeln haben sich aufgetan unter den Bäumen.

Woher bezieht der Mann der »Anti-Pussyfoot League« seine Gage? Mit 145 groben, haarigen Tatzen fuchtelt er in der Luft, malt in die Luft die Gefahr, die dem guten alten englischen Geist, der Demokratie, der imperialistischen Gesinnung, die diesem Lande seine Kolonialmacht geschaffen hat, droht: wenn es wirklich, nach dem Muster der Vereinigten Staaten, trockengelegt werden sollte!

Man will dem Volk seinen Whisky, sein braunes und blondes Bier, seine angestammte Fröhlichkeit nehmen? England soll also, durch die ephemere Eintagsmacht einer Minderheit von fanatischen Narren, die sich jetzt in den Regierungssesseln breit macht, zur Bolschewistenbeute werden? Eine große Geste in die Runde: »Our country!!«

»Woher beziehst du deine Gage, Johnny?« kommt es aus der Menge. Und: »Wieviel Whiskys hast du heute schon genehmigt?« Auf die erste Frage antwortet der Apostel nicht. Wie sollte er auch? Es sind die Brauer, die Schnapsbrenner, die großen, konservativen, staatserhaltenden Mächte und Säulen 146 der Weltpolitik Englands, die ihn bezahlen. Auf die andre Frage aber gibt er Antwort: Wir verkünden nicht die Maßlosigkeit, sagt er, wir sind nur die erbitterten Feinde jener Pharisäer, die den alten englischen Frohsinn unserer Väter ertöten wollen, um diesem Volk seine Kraft zu nehmen und es umso sicherer zu versklaven! –

Sein Nachbar steht auf einem Schemel, haut auf ein Pult, von dem die Tafel: »Anti-Socialist League« herunterbaumelt. Um dieses Pult ist immer groß Geschrei, Argumente schwirren durch die Lüfte, Rede und Widerrede überschreit fast die Hymnen, die Chorgesänge, das Blechkapellen-Tamtam der Heilsarmee, der Kirchenarmee. Und aus der Menge schallt, oft in hundertstimmigem Ruf, immer wieder:

»Russia!« – –

 

Hier aber, in der Ecke an der Bayswaterseite, steht die Kanzel einer neuen Sekte, oder besser gesagt, eines neuen Apostolats; die Lehren, die von dieser 147 Kanzel herab verkündet werden, verdienen ein eigenes Kapitel.

 


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