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Mehr als zwei Monate sind vergangen. Gustav scheint gehalten zu haben, was er gelobte. Kein Zwist, keine Verstimmung, kein Mißverständniß hat die Eintracht im Schlosse zu Schwarzwaldau mehr gestört. Agnes hat ihre würdige Haltung, Emil seine mittheilsame, belebende Heiterkeit wiedergefunden; Gustav lebte als aufmerksamer, bescheiden, ergebener Verehrer zwischen Beiden, für Beide, und noch ist nichts zu Tage gekommen, was Besorgniß erwecken könnte. Täuschen diese drei Menschen Einer den Andern? Oder täuschen sie Jeder sich selbst? So 235 viel ist gewiß: die Täuschung kann für vollkommen gelten, sie ist eine gelungene; denn sie ist es sogar für den Jäger Franz, der in Gustav nur noch einen zurückgewiesenen, entsagenden, eben deßhalb geduldeten, aber auch nur geduldeten Anbeter Agnesens erblickt. Was dieser ihm tödtlich verhaßte Eindringling dem Herrn sein möchte? danach fragt der lauernde Beobachter nicht; darauf richtet er seine Forschungen nicht mehr; mit Emil hat er längst abgeschlossen. Dagegen hat er, – freilich sehr wider seinen inneren Antrieb, doch darum nicht mit geringerem Erfolge, – ein trauliches Verhältniß mit Lisette, dem Kammermädchen angeknüpft, die also endlich zum Ziele ihrer begehrlichsten Absichten gelangte. Weßhalb er sich diesen Zwang auflegte: ist nicht schwer zu begreifen. Er will jeden Argwohn einschläfern; will den Herrn glauben machen, – (denn er trägt seine Liebschaft absichtlich zur Schau!) – daß die eitlen, unverschämten Augen längst verlernt haben nach der Gebieterin zu schielen; will für einen ›zur Erkenntniß eigener Unwürdigkeit‹ gelangten Reuigen gelten; will als solcher um so schärfer lauern, um so erfolgreicher spioniren und durch Lisetten erfahren, was (wähnt er) einem Kammermädchen auf die Dauer nicht verborgen bleiben könnte. Darin täuscht er sich vielleicht, 236 doch er täuscht auch glücklich die Uebrigen und vielleicht, wie gesagt, täuschen sich Alle? –
Es war im Mai.
Grüner hatte er seit Jahren nicht gelächelt; sanfter schon lange nicht mehr die bräutliche Erde umfangen; üppiger die Maiblumen niemals aus durchwärmtem Boden gelockt. Emil schlug vor, des kommenden Tages frühzeitig aufzustehen, und einen Ausflug weiterer Art zu versuchen, der erst am Abende beendet werden sollte. Eine kleine Reise in's Blaue hinein, – wie er es nannte. Gustav, obgleich er sich, der in den ersten Zeilen dieses Capitels angedeuteten Unterwürfigkeit getreu, gern in jede Anordnung des Hausherrn fügte, konnte doch einen gewissen Unmuth kaum unterdrücken, der nicht ›der Reise in's Blaue,‹ – wahrlich, dieser nicht! – der lediglich dem damit verbundenen Vor-Tageaufstehen galt. Das war und blieb einer der wenigen Puncte, wo die Schwarzwaldauer Schule noch wenig am Zögling Thalwieser Langschläfrigkeit gebessert hatte. Ein zustimmendes, entschiedene Freude an der Fahrt kundgebendes Wort, ja schon ein Blick Agnesens würde genügt haben, jene Wolke des Unmuthes zu verscheuchen. Aber Agnes vermied immer, in Emil's Gegenwart merken zu lassen, wie unwiderstehlich 237 ihre Gewalt über Gustav sei; sie suchte es lieber so einzurichten, daß Emil seinem Einfluß auf den Freund stärkeres Uebergewicht zutrauen durfte. Deßhalb mischte sie sich mit keiner Silbe hinein, als beim Gutenachtsagen Gustav sich die Erlaubniß erbat: morgen zu Pferde nachfolgen zu dürfen, falls er vielleicht den Sonnenaufgang verschlafen sollte. Kaum aber hatte sie Lisetten aus ihrem Schlafgemach entlassen, als sie leise auf den Corridor schlich, wo sie Gelegenheit suchte, das Versäumte nachzuholen. Der Mond warf zweifelhafte Lichter durch ein mit bunten Glasscheiben verziertes Flurfenster. Agnes hörte Tritte hallen, – wagte sich weiter vor im Halbdunkel, – meinte Gustav zu erkennen? – sah zugleich Lisettens weißes Kleid aus der Ferne, – beeilte sich also, Jenem rasch zuzuflüstern: »Fehle morgen nicht, Lieber! Emil würde sich gekränkt fühlen, wenn wir ohne Dich ausfahren müßten.« Und seine Zusage nicht erst abwartend, eilte sie zurück nach ihren Gemächern.
Als Morgens früh beim ersten Grauen des Tages Gustav sie schon vollständig gekleidet im Salon empfing, flüsterte sie ihm, (während Emil durch's Fenster nach den Stallleuten hinabrief,) nur zu: »Dank, 238 daß Du meine Bitte erfüllst!« War aber sehr verwundert ihn fragen zu hören:
»Welche?«
»Nun, von gestern Abend, im Corridor?«
»Davon weiß ich nichts,« sprach er mit ungekünsteltem Erstaunen.
Zugleich trat der Büchsenspanner ein, sich erkundigend: ob auf Schnepfen gejagt und welche Gewehre mitzunehmen befohlen würde?
Emil sagte: »Es wird kein Gewehr mitgenommen und es begleitet uns niemand. Wir wollen den Mai feiern und kein Geschöpf Gottes umbringen.«
Franz verzog den Mund zu unterthänigem Lächeln, worin Agnes bittern Hohn wahrzunehmen meinte. Dabei aber trat ihr wieder die sonst schon zur Sprache gebrachte Aehnlichkeit dieses Jägers mit Gustav vor die Seele. Und als er hinausgegangen, sagte sie: »Caroline hatte wirklich Recht: es besteht eine seltsame äußerliche Verwandtschaft zwischen Deinem Büchsenspanner und Herrn von Thalwiese. Sie gleichen sich nicht und dennoch giebt es Augenblicke, wo man sie verwechseln könnte.«
»Warum nicht gar?« lachte Emil; »nun, laßt uns aufbrechen.«
239 Er ging voran, weil er wieder kutschiren wollte.
Gustav gab Agnesen den Arm.
Auf der Treppe sagte er: »Hast Du vielleicht gestern dem ›Grünen‹ gesagt, was Du mir sagen wollen? Hast Du uns wirklich verwechselt?«
»Ich fürchte, ja.«
»Dann sei Gott ihm gnädig,« murmelte Gustav.
»Und mir auch,« setzte sie hinzu.
Der Mai hielt in keiner Art, was Emil von ihm gehofft. Auf den reinsten Morgen folgte ein trüber, kühler Tag; und weder Agnes noch Gustav gelangten wieder zu unbefangenem Frohsinn. Emil gab sich anfänglich Mühe, sie aufzuheitern; da es nicht gelingen wollte, sank er auch in trübes Nachsinnen . . . .
Hat schon Einer meiner Leser, – (ich will es keinem wünschen, auch dem Gegner nicht) – die Empfindung gehabt, die wie Vorgefühl eines furchtbaren Schlages Sinn und Herz bedrückt, den ganzen Tag hindurch, ohne daß bestimmte Gründe dafür vorhanden sind? – Gustav und Agnes hatten sie; und wenn auch Beide nicht wußten, was ihnen 240 zunächst drohte, so wußten sie doch, woher die beengende Ahnung sich schrieb und vermochten ihr in Gedanken auszuweichen, oder entgegenzutreten. Ueber Emil aber war sie gekommen, hatte sich nach und nach über ihn verbreitet, und er wußte nicht, woher? wohin? Er fühlte nur die Last ungeheurer Bangigkeit; unerträglicher, als an jenem düsteren Tage verwichenen Sommers, den wir im ersten Capitel geschildert haben. Er führte die leichte Kutsche nach den verschiedensten Gegenden und Orten; Dörfer, Flecken, sogar eine kleine Landstadt berührten sie auf dieser ›Entdeckungsreise.‹ Ueberall sprachen sie ein, bestellten was zu haben war, ließen ungenossen was sie bestellt und bezahlten es doppelt, scherzten mit den Wirthsleuten, beschenkten Dienstboten und Kinder, stiegen wieder ein, fuhren weiter und stiegen wieder aus; . . . doch ihre Bangigkeit wollte nicht weichen: Eines steckte immer wieder das Andere mit der seinigen an; es wollte ihnen nicht leichter werden um ihre Herzen und der Tag wollte sich nicht umbringen lassen, er nahm gar kein Ende. Und war doch wirklich um keine Secunde länger, als er im Kalender steht. Emil hatte sich vorgesetzt, wie sie mit der Morgen-Dämmerung ausgezogen, erst zur Abend-Dämmerung wieder einzuziehen im Schlosse 241 Schwarzwaldau. Zwanzigmal in einer Stunde zog er die Uhr, um nachzusehen, ob diese Stunde nicht rascher vorübergehen wolle, als ihre bleiernen Schwestern? und jedesmal wiederholte er kopfschüttelnd: »vulnerant omnes.«
»Was heißt das?« fragte Gustav, nachdem er es oft genug gedankenlos mit angehört, gerade da sie endlich nach Sonnenuntergang auf dem Rückwege den schon zu Schwarzwaldau's Gebiete gehörigen, sogenannten Herrenwald erreicht hatten, der einen mäßigen Hügel, – den einzigen dieser flachen Gegend – bedeckt. »Was heißt: vulnerant omnes?
»Sie verwunden alle, heißt es,« erwiderte Agnes. »Sie verwunden alle, die letzte tödtet, ultima necat. So weit reicht mein Latein; weiter nicht.«
»Also sind Wunden damit gemeint?«
»Allerdings.«
»Dann hat der alte Herr, der diesen weisen Wahlspruch ausheckte, über einer Dummheit gebrütet. Alle verwunden nicht. Es giebt denn doch einige . . . .«
»Und wer bürgt dafür,« unterbrach ihn Agnes, »daß diese nicht gerade die tiefsten, schmerzlichsten Wunden hinterlassen, wenn auch unsichtbare?«
»Ja wohl, ja wohl!« seufzte Emil – und ließ 242 die Hände sinken, daß die Zügel fast herabglitten. Halb nach den hinter ihm Sitzenden gekehrt, sah er sie trübselig an: »Trägt nicht ein Jeder seine Wunden und Narben, nur daß Einer sie besser zu verstecken weiß, wie der Andere?«
Die Pferde gingen langsam; sie zogen schwer durch den Sand des steilen Hügels hinauf. Eben langten sie droben an, da krachte aus dem Dickicht ein Schuß. Im Nu hatten die Pferde durch einen heftigen Ruck dem auf sie nicht achtenden Lenker die Zügel aus den Fingern gerissen und obgleich sonst an Jagd gewöhnt und feuerfest, rannten sie unaufhaltsam den Abhang hinunter, der unglücklicherweise gegen die Abendseite sich neigend, mit dichtem Rasen bewachsen und deßhalb nicht so ausgebrannt und aufgewühlt war, wie jener, auf dem sie emporgestiegen. Der Wagen rollte ihnen an den Leib, drängte sie und machte sie noch toller. Zur Rechten hin war ein Theil des Waldes, den Raupenfraß angegriffen, im vorigen Winter niedergeschlagen worden; die Ueberreste der Baumstämme wurzelten noch im Boden. Ueber diese nahmen die rasenden Thiere, unerwartet ausbiegend, jetzt ihren Weg. »Dort unten liegt die Kiesgrube,« schrie Gustav und sprang herab, um sich wo möglich noch vor die Pferde zu werfen, 243 deren Eil durch einzelne Baumstummel doch ein wenig gehemmt wurde. Emil that desgleichen. Beide fielen zur Erde. Als sie sich wieder aufrafften, war der Wagen schon fern. Agnes, in ihr Tuch gehüllt, regte sich nicht. Die Männer schrieen ihr zu, auch sie solle den Sprung in Gottesnamen wagen! – vergeblich; schon zu spät! – Alles war verschwunden, in die Grube hinuntergestürzt.
Binnen einer Minute waren sie bei ihr. Sie lag, das schöne Antlitz von scharfem Kiessand geschunden, das zerschmetterte Haupt auf einem großen Steine; die Pferde mit gebrochenen Beinen, der zertrümmerte Wagen eine Strecke davon. Emil und Gustav warfen sich neben ihr nieder. Sie reichte jedem eine Hand. Daß sie sprechen wollte, war sichtbar; Blutströme, aus der Brust hervorquellend, hemmten ihre Rede. Gustav heulte vor Schmerz und Wuth. Emil war bleich und stumm. Rathlos Beide. Sie bewegte die Lippen: »Ultima necat!« flüsterte sie und: »mein Latein am Ende!« Dann legte sie den Finger auf den Mund, als wollte sie den beiden Männern Schweigen gebieten und das brechende Auge, nach ihnen gerichtet, ergänzte die Bedeutung dieser Geberde. –
»Sie ist todt!« sagte Emil.
244 »Und mit ihr mein besseres Leben,« stöhnte Gustav. »Ich bin ein Verlorener.«
Dann hoben sie den Leichnam auf und trugen ihn davon.
Vom Blute überdeckt, langten sie spät Abends im Schlosse an.