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Die ärztliche Erklärung über einen im Mühlgraben zu Schwarzwaldau gefundenen männlichen Leichnam lautete dahin, ›daß der Entseelte allem Vermuthen nach gewaltsam vom Leben zum Tode gebracht worden sei. Ein heftiger Schlag mit einem stumpfen Instrument, wahrscheinlich mit einem metallenen Stockknopfe nach der Schläfe geführt, schien, wenn auch nicht 199 absolut tödtlich, doch eine dem Tode ähnliche Betäubung veranlaßt zu haben. In solchem Zustande hatten der (oder die) Mörder den vermeinten Leichnam in's Wasser gestoßen. Dadurch mag der Ohnmächtige noch einmal zur Besinnung gekommen sein und das Bestreben gezeigt haben, sich am Ufer mit den Händen anzuklammern und zu retten, was seine Gegner verhinderten, wobei ihm mehrere Finger entzweigeschlagen wurden. Offenbar ist das eigentliche Ableben durch Ersticken im Wasser erfolgt.‹
Weiter vermochten Arzt und Wundarzt keine Hypothesen aufzuwerfen und diese eigneten sich durchaus nicht, irgend welche Schlußfolge daraus zu ziehen.
Nicht glücklicher gestalteten sich jene des Criminalrichters. Die Aussagen des Mühlbauers, wie seiner Leute, enthielten nichts, was einem Verdachte auf Einen im Dorfe gleich gekommen wäre; sie hatten den Leichnam gefunden, – weiter nichts. Eben so wenig fand sich am corpus delicti, noch in dessen Kleidung ein Fingerzeig. Die Taschen enthielten einige Gold- und Silber-Münzen. Von Papieren gar nichts, außer einem in lederner Brieftasche befindlichen, von einer Amerikanischen Behörde ausgestellten Reise-Zeugniß, welches ursprünglich für einen andern Menschen bestimmt gewesen sein mochte.
200 Die Meinungen der Dorfbewohner, so wie der Leute vom Schlosse, theilten sich bei der ihnen vorgelegten Frage: ob sie im Unbekannten den Jäger Franz wiederzuerkennen vermöchten? Einige, wie der Revierjäger, der Mühlbauer und auch der Amtmann – (letzterer doch erst, nachdem die Haare durch den Einfluß der Nässe ihre natürliche hellere Farbe wieder bekommen) – sprachen sich dafür aus. Andere, und zwar die Mehrzahl, stellten es entschieden in Abrede. Alle jedoch vereinigten sich in der Versicherung, daß weder dieses, noch ein anderes dem Franz Sara ähnliches Individuum, seit länger als einem Jahre in der Gegend bemerkt worden sei.
Der Einzige, der mit voller Bestimmtheit seinen jugendlichen Büchsenspanner zu erkennen versicherte und sich freiwillig erbot, dieß durch einen Eid zu constatiren, war Emil. Für ihn gab es auch nicht den leisesten Zweifel: Dieses sei der Leichnam seines früheren Dieners Franz Sara, den er, weil Derselbe sich nach ihrer großen Reise, in Schwarzwaldau nicht mehr heimisch gefühlt und ein unleidliches Betragen gezeigt, auf eigene Kosten nach Amerika expedirt habe. Warum der unruhige Kopf zurückgekehrt und wie er zu diesem traurigen Ende gekommen sei? 201 Darauf lasse sich freilich keine befriedigende Antwort ertheilen.
Ueber Aufnahme des Thatbestandes, über der Obduction, den Zeugenverhören, allen Formalien insgesammt war denn wiederum ein düsterer Tag verstrichen. Der Gutsherr lud den Criminalrichter, den Arzt und Wundarzt freundlich ein, bei fortdauernd schlechtem Wetter die Nacht in Schwarzwaldau zuzubringen, was diese annahmen.
Caroline hatte sich zurückgezogen. Sie ließ sich entschuldigen, weil sie sich unwohl fühle, da die Schrecken des gestrigen Tages jetzt erst ihre Nachwirkung übten. Man fand das sehr begreiflich. Emil entfernte sich auf einen Augenblick und kehrte dann zu seinen Gästen zurück mit der Nachricht: seine Gemalin befinde sich gut, nur sei sie angegriffen, matt und wünsche Ruhe.
Das Mahl war reichlich und verfloß unter lebhaften Gesprächen, zu denen Jeder der Anwesenden seinen Antheil beitrug. Emil besonders zeichnete sich durch Gesprächigkeit aus, erzählte viel von seinen Reisen und brachte vielerlei Umstände in Anregung, die seinen Begleiter betrafen. Es war, als ob er absichtlich immer wieder auf diesen eigenthümlichen Menschen zurückkäme, dem er neben allem Tadel doch 202 auch sehr bedeutende Eigenschaften zuerkannte. Er verschwieg auch nicht, welche Geständnisse Franz ihm damals über den ersten Fehltritt abgelegt, den er als Jüngling begangen und der ihn in's Gefängniß geführt.
Der Criminalrichter begleitete diese Erzählungen mit dem Antheil eines Mannes von Fach, der gern bereit ist, aus jenem Zusammenleben mit ausgelernten Bösewichtern den Ursprung künftiger Uebelthaten anzuerkennen.
Der Arzt hingegen wendete seine Aufmerksamkeit mehr dem Erzähler, als dessen Erzählung zu. Er hing gleichsam mit den Augen an Emil's Lippen, von denen er Silbe um Silbe wegzuhaschen schien. Dadurch wurde dieser endlich verlegen. Mehrmals stockte der sonst so gleichmäßige Fluß seiner Rede, er verwirrte sich in den Perioden und griff, durch Nebengedanken zerstreut, wie unwillkürlich, nach einem Spielwerk für seine Hände, was ihm ohnehin schon zur halben Gewohnheit geworden war, wenn er am Schreibtische sitzend, Stundenlang sann und träumte. Dort waren es Federmesser, silberne Bleistifthalter, oder Briefstreicher, die er durch seine Finger gleiten ließ. Hier, wo nichts von diesen kleinen Gegenständen vorhanden, wo nur noch Flaschen und 203 Gläser auf der Tafel standen, verirrten sich die geschäftigen Werkzeuge willenloser Beweglichkeit in die Westentasche und brachten den Schlüssel zu seinem Secretair heraus, an welchem sie ihr Spiel übten. Er hatte, seitdem er in Qual und Wuth Carolinens Mahagonischrank stürmisch geschlossen, diesen Schlüssel nicht mehr beachtet. Jetzt entdeckte er die Lücke am eisernen Barte. Mitten im Sprechen hielt er ein, verblich, raffte sich wieder zusammen, fuhr wieder zu sprechen fort, brach abermals ab und stammelte zuletzt: »ich glaube wahrhaftig, der Wein ist mir zu Kopfe gestiegen?«
Der Criminalrichter fand in diesem Geständnisse nichts Auffallendes; eben so wenig der Wundarzt. Beide spürten, daß auch sie genug hatten und wußten nicht, ob ihr Wirth nicht vielleicht mehr getrunken, wie sie. Sie stimmten für Abschluß des Tages und für nächtlichen Schlummer. Der Arzt sagte gar nichts dazu.
Emil machte noch einige schwache Versuche, die Herren beisammen zu halten, die ihm aber nicht gelangen, weil sie nicht ernstlich gemeint waren.
Die Gäste wurden auf ihre Zimmer geführt.
Der Arzt kehrte noch beim Criminalrichter ein. »Sie werden,« sagte er, »morgen wohl hier verweilen, 204 denn es wird sich vielleicht Mancherlei für Sie zu thun finden. Ich bin fertig und reise.«
»Ich ebenfalls, Freund. Was sollte mich noch zurückhalten?«
»Meines Erachtens, – aber schelten Sie nicht, daß der Arzt dem Rechtsgelehrten in's Fach pfuschen will, – meines Erachtens wäre noch Mancherlei zur Entdeckung des Mörders zu thun!«
»Des Mörders. Ihr Aerzte seid eigensinnig wie die Pferde. Woher wissen wir denn überhaupt so bestimmt, daß nicht ein Selbstmord vorliegt?«
»Ich hab' es in meinem Gutachten bewiesen.«
»Das haben Sie nicht, bester Doctor! Sie haben festgestellt, daß der Kopf durch einen dumpfen Schlag getroffen, daß die Hirnschale verletzt wurde; daß einige Finger geknickt sind, daß der Tod im Wasser durch Erstickung erfolgte. Wozu bedarf es da des fremden Mörders? Reichen wir doch mit dem Selbstmörder aus. Daß dieses ein Mensch gewesen, zu welchem wir uns der That versehen können, leugnet niemand. Auch aus den Andeutungen seines früheren Herrn und Gönners geht es hervor. Er hat sich, des Lebens überdrüssig, vielleicht verfolgt wegen schlechter Streiche, in die kalte Fluth gestürzt; mit dem Kopf ist er heftig auf einen Pfahl gestoßen; die Finger sind zerbrochen, als er im Todeskampfe in die Mühlräder griff, – oder wie Sie sonst wollen. Zu all' diesen Dingen brauchen wir keinen Zweiten.«
»Das ist ein seltsamer Zwist, den wir da führen. Gewöhnlich macht Ihr Herren von der Justiz uns Aerzten den Vorwurf, daß wir Euch mit Einwendungen in die Queere kommen, die Eure Conjecturen stören, oder durch ›Unzurechnungsfähigkeit‹ gewisse Uebelthäter Eurer Macht entziehen wollen? Hier ist's nun umgekehrt. Hier wittert der Arzt schnöden Mord und der Jurist findet nichts dergleichen. – Nun, in Gottesnamen. Ich habe meine Schuldigkeit erfüllt und weiter in Sie zu dringen, ziemt mir nicht. Sie haben mich wegen meiner Criminal-Psychologie und meinen darauf bezüglichen Studien schon oft geneckt; Sie und Ihre Collegen. Deßhalb schweig' ich. Nur als alter Freund bitt' ich Sie, Ihrer selbst und Ihrer wichtigen Stellung wegen: bleiben Sie morgen noch! Thun Sie die Augen auf! Suchen Sie! – Ich fürchte, Sie haben nicht weit zu suchen!«
Der Richter blieb allein. »Merkwürdig,« sprach er, »wohin auch die geistvollsten Männer sich bisweilen verrennen, wenn sie auf ihrem Steckenpferde sitzen! Der Doctor, sonst der gutmüthigste Mensch auf Gottes weiter Erde, wäre wahrhaftig capabel, 206 irgend Einem der hiesigen Einwohner auf den Kopf zuzusagen: Du hast den Landstreicher umgebracht, ich les' es in Deinen Zügen! Bloß in Folge seiner psychologischen Phantasieen. – Wer mag es nur sein, den er sich als Opfer auserlesen? Doch nicht etwa gar der Mühlbauer selbst? Oder dessen Bursche? Lächerlich. – Wir wollen morgen noch einmal Mann für Mann in's Gebet nehmen, aber ich bin überzeugt, wir erfahren nichts. Der Kerl hat sich selbst umgebracht und es ist kein Schade um ihn. Ich wüßte Einige seiner Gattung, die durch Ausführung ähnlicher Entschlüsse ihren Mitmenschen sehr gefällig werden könnten.«
Am dritten Tage wurde die Frau vom Hause wieder sichtbar. Sie ließ sich berichten, welchen Erfolg die gestrigen Untersuchungen gehabt, sprach den Wunsch aus, daß doch nichts versäumt werden möge, was etwa noch in dieser Sache geschehen könne und forderte den Criminalrichter dringend auf, ihnen den heutigen Tag noch zu schenken. Emil stimmte mit ihr überein und wiederholte ihre Bitte. »Es liegt uns unendlich viel daran,« setzte er hinzu, »meiner lieben Frau, wie mir, darüber in's Klare zu gelangen, ob unter den Einwohnern von Schwarzwaldau sich 207 alles Ernstes Mörder befinden? Ein Gedanke, der etwas Beunruhigendes hat und wohl vermöchte, jenen heimischen Frieden zu stören, ohne welchen ländlicher Aufenthalt seinen ganzen Werth verliert. Bisher fühlte ich mich in diesem stillen Dorfe so sicher, vertraute allen unsern Landleuten und ich mag sinnen wie ich will, es ist mir unmöglich nur Einen zu bezeichnen, der irgend welchen ausreichenden Grund gehabt hätte, Franz Sara aus der Welt zu schaffen; nicht Einer im ganzen Dorfe, – außer etwa ich selbst, den er unbezweifelt um Unterstützung angesprochen haben würde, wär' er am Leben geblieben. Ich bin der Einzige, auf den eine solche Muthmassung gerichtet werden könnte und wüßt' ich nicht, daß ich jene Nacht bei meiner theuren Caroline zubrachte; und wäre sie nicht zur Stelle, mir's zu bestätigen, – weiß Gott, ich hielte mich selbst der Mordthat als Nachtwandler für verdächtig; deßhalb bin ich auch sehr geneigt, je länger ich darüber nachgrüble, dem Gutachten des Herrn Doctors entgegen, an Selbstmord zu glauben.«
»Sie wissen,« erwiderte der Richter, »daß ich diese Ansicht theile.«
»Um so mehr,« sagte Caroline, »da für sie der verschlossene, trotzige, und dennoch einer tiefen 208 leidenschaftlichen Liebe zugängliche Charakter des Entseelten spricht. Ich erinnere mich sehr wohl auf sein Benehmen, als meine Vorgängerin hier lebte; und wie oft ich diese unter vier Augen geneckt, mit ihrer Eroberung eines sentimentalen Leibjägers, – der nebenbei gesagt, immer Herrn von Schwarzwaldau's Günstling war. Ich sehe die Sache so an: er hat in der Fremde schlecht gewirthschaftet und im Vertrauen auf jene Gunst kam er zurück, einen abermaligen Angriff auf Emil's freigebige Großmuth zu wagen. Er langte in der Nachbarschaft an und vernahm sein ehemaliger Brodherr sei nicht mehr Witwer; eine zweite Gattin walte auf dem Schlosse. Er entdeckte, daß diese Dame dieselbe sei, die ihm schon vor Jahren, bei ihrem Besuche als Mädchen, keine besondere Gunst bezeigt, ihn vielmehr mißtrauisch und spöttisch von der Seite angesehen. Seine Bemühungen, Herrn von Schwarzwaldau ohne Zeugen zu sprechen, mußten mißlingen, weil ich gerade in diesen Tagen stets mit meinem Gemal beisammen war. Das fürchterliche Wetter kam dazu. Ein regnerischer November vermöchte den heitersten Menschen mit Lebensüberdruß zu erfüllen; wie vielmehr einen vielleicht Schuldbewußten, vielleicht Verfolgten, der den 209 letzten Zufluchtsort, auf den er noch hoffen durfte sich verschlossen sieht?«
Der Richter küßte Carolinen die Hand: »Schade, daß unser medicinischer Criminal-Psychologe nicht mehr zugegen ist; er sollte eingestehen, um wie viel sicherer die gnädige Frau urtheilt, um wie viel praktischer, als er. Doch ich will mir aus dem so eben Gesagten auch eine Lehre ziehen und alle zweckdienlichen Anstalten treffen, wo möglich in Erfahrung zu bringen, ob und wo der Verstorbene in der Nachbarschaft gesehen worden? Vielleicht hat er da oder dort Aeußerungen gethan, die auf einen verzweifelten Entschluß hinweisen?«
Der brave Mann ging ohne Säumen an dieß Geschäft. Carolinens Auseinandersetzung hatte ihn vollkommen in seiner vorgefaßten Meinung bestärkt.
Eine gänzlich entgegengesetzte Wirkung hatte sie in Emil hervorgebracht. Schon daß seine Frau ihm verschwiegen, – was sie doch längst entdeckt haben mußte, – daß eine ungeschickte, fremde Hand das Schloß ihres Secretairs verdorben, schien ihm bedenklich. In ihrer vor dem Richter gehaltenen Rede aber fand er eine so erzwungene, von ihrer gewöhnlichen Art und Weise so verschiedene Absichtlichkeit, daß er nicht länger zweifelte: sie durchschaue die 210 Wahrheit, halte ihn für Franzens Mörder und wolle durch ihr Zeugniß schon von vornhinein das entscheidende ›Alibi‹ festgestellt haben, wofern etwa noch ein Zweifel gegen ihn sich erheben könne. Er hatte also in ihr eine Vertraute, ohne sich durch eigenes Geständniß ihr überantwortet zu haben! Ihr Benehmen zeigte, daß sie ihn gerettet, ihn sich erhalten wissen wolle! Sie entschuldigte also die That, wozu er gleichsam gedrungen worden? Ihre Leidenschaft für ihn war mächtiger, als der Abscheu, den man vor Mördern hegt? Dafür aber war er nun auch ihr Knecht, ihr Eigenthum, ihr Leibeigener, kein Mensch mehr, – eine Sache! – Eine Sache, die sie sich durch Großmuth zum Zweitenmale erkauft! – Er vermied bei ihr allein zu bleiben. Mit dem Richter zugleich verließ er den Saal. Jener ging an den Schreibtisch; er warf sich auf's Pferd.
Erst gegen Abend trafen sie beim Essen wieder zusammen. Der Richter war besonders gut aufgelegt. Seine durch Carolinens Aeußerungen veranlaßte Thätigkeit hatte gleich auf der Stelle günstigen Erfolg gehabt: Der Actuarius hatte den Platz ausgekundschaftet, wo Franz eine Nacht und einen Tag vor seinem Tode zugebracht. Es war eine Krämersfrau im Marktflecken, eine Meile von Schwarzwaldau, die 211 ihn daselbst aufgenommen, obgleich er ihr selbst gestanden, daß er auf der Flucht sei und durch verheimlichte Anwesenheit Gefahr bringe?
Wir kennen sie als Lisette, unter welchem Namen sie bei Agnesen Kammermädchen und zuletzt Franzens Geliebte gewesen. Als dieser, seinem Herrn auf die weite Reise folgend, Schwarzwaldau und sie verlassen, hatte sie keinen Dienst mehr gefunden, vielmehr keinen gesucht, weil ihr der Scheidende sammt seinem Trostspruche: ›es wächst Gras über Alles!‹ ein Andenken hinterlassen, wodurch sie außer Stand gesetzt wurde, als Kammerjungfer einzutreten. Der alte Krämer im Marktflecken, zum Zweitenmale Witwer, bedurfte einer dritten Frau. Von Lisettens Gesprächigkeit und den ›vornehmen Ausdrücken, die sie im Schlosse aufgelesen‹ hatte er sich günstige Wirkung für seinen Kramladen versprochen; auf die kleine lebendige Zugabe hatte er nicht geachtet; er bot ihr seine Hand; sie, jeder anderen Aussicht entbehrend, griff zu. Sie nun hatte, ohne des alten Mannes Vorwissen, den jungen Vater ihres Kindes bei sich versteckt gehalten. Und sie gab zu Protocolle: ›Franz wäre in der Desperation gewesen und entschlossen, seinem Leben ein Ende zu machen, auf demselben Flecke, wo er dieß schon vor mehreren Jahren 212 beabsichtigte und nur durch die närrische Liebe zur gnädigen Frau zurückgehalten wurde!‹
Als der Richter diese Aussage triumphirend wiederholte, mit dem Bedauern, daß sein Freund, der psychologische Arzt, nicht zugegen sei, zeigte Caroline aufrichtige Theilnahme und es entschlüpften ihr, die nur von Emil aufgefangenen, vom Dritten überhörten Worte. »so war vielleicht Alles nur ein entsetzlicher Traum?«
»Nichts Anderes!« flüsterte Emil ihr zu, indem er ihre Hand unter dem Tische ergriff, die in der seinigen zuckte und zitterte.
Das Rollen eines Wagens durch die Einfahrt ließ sich vernehmen.
»Besuch?« fragte Emil,
»Vielleicht meine Mutter!« sprach Caroline und entzog ihm ihre Hand. Ihre Züge gewannen plötzlich einen ernsten, feierlichen Ausdruck.
Der Tafeldecker, der sogleich hinausgegangen war, als man die Kutsche gehört, kam zurück und sagte der gnädigen Frau etwas in's Ohr.
Diese bat den Richter um Erlaubniß, die Tafel verlassen und ihre Mutter empfangen zu dürfen. Dann erhob sie sich. Den Tafeldecker winkte sie nach.
»Werden wir Ihre Frau Schwiegermutter nicht 213 die Ehre haben, hier zu begrüßen?« fragte der Richter.
»Später wohl. Unter uns gesagt, ich vermuthe: die gütige Mama schwimmt als Silberflotte heran, die der alte Kaufherr expedirt. Es handelt sich um Ausgleichung einiger Gelddifferenzen, die meine Gattin liebevoll übernahm.«
»Sie sind ein beglückter Ehemann, Herr von Schwarzwaldau!«
»Ja, Gott sei Dank, das bin ich!«
»Und wie wunderbar die Fügungen des Himmels walten. Damit Ihnen dieß Glück durch Ihre Gemalin und ihr durch Sie zu Theile werden könne, mußte ja wohl der erste Bräutigam ein so frühzeitiges Ende finden? – Ich habe von jenem traurigen Ereigniß nur Gerüchte vernommen; Thalwiese gehört, wie Sie wissen, nicht mehr in meinen Amtskreis. Haben denn die gerichtlichen Untersuchungen auf irgend eine Vermuthung geführt?«
»Auf keine, daß ich wüßte! Die Sache ist sehr verworren –«
Und nun wurde, was in Neuland geschehen, so weit es zur öffentlichen Kenntniß gekommen, zwischen den beiden Herren durchgesprochen, wobei Emil abermals große Beredtsamkeit entwickelte und den Richter 214 in Erstaunen setzte durch scharfe Kritik der Verstöße, welche von jenem Vollzieher der Gerechtigkeit bei Führung der Sache begangen worden.
»Sie hätten jura studiren sollen, Herr von Schwarzwaldau; einen bedeutenden Criminalisten würden Sie abgegeben haben! – Aber Ihre Damen scheinen uns ganz und gar vergessen zu wollen?«
»Sie kommen schon!«
Der Tafeldecker öffnete die Thüre und Caroline trat ein an der Seite – nicht ihrer Mutter, sondern eines Fremden, welchen sie als den Justizrath R. vorstellte, dessen Bekanntschaft sie in Neuland gemacht.
Dieser verneigte sich schweigend vor Emil und begrüßte im Criminalrichter einen Collegen, worauf Jener, des so eben gepflogenen Gespräches eingedenk, ein wenig verlegen, nur mit der Frage erwiderte: »Und was verschafft unserer Gegend die Ehre? . . . .«
»Nach langem, vergeblichem Forschen und Harren ist endlich der Zeitpunct gekommen, der auf die unselige Mordthat in Neuland unzweifelhaftes Licht werfen soll. Der Thäter hat sich durch ein zweites Verbrechen uns in die Hände geliefert; uns beiden; denn wir sind berufen, im Verein zu handeln; ich – und Sie, Herr College. Der Mörder Ihres 215 Jägers Franz Sara ist auch der Mörder meines jungen Herrn von Thalwiese! Eine That gebar die andere, wie eine Hyäne die andere erzeugt.«
»Und Sie verfolgen eine sichere Spur! Und diese leitete Sie . . .«
»Hierher! Nach Schloß Schwarzwaldau!«
»Und worauf gründen sich Ihre Indicien?«
»Auf dieses Blatt Papier, auf welchem Sie, Herr College, eine naturgetreue Nachbildung jener Wunde erblicken, die Thalwiese's Brust entstellte; und auf dieses kleine, sehr kleine Stückchen feinsten Stahles, von unserm Physicus in jener Wunde entdeckt, von mir sorgsam aufbewahrt. Es hat sich durch heftig geführten Stoß an einer Rippe, die es streifte, abgesplittert. Die Waffe, zu welcher es gehört, hat sich gefunden.«
»Gefunden? Wo?«
»Hier ist sie,« sagte Caroline, schlug ihr Tuch zurück, und hielt die Klinge des Dolches ihrem Gatten vor's Gesicht: »Du bist Gustav's Mörder!«
Emil sank in den Sessel zurück, beide Hände krampfhaft geballt und gegen sein Herz gepreßt, als wollte er den wilden Schlag desselben bändigen. Er schien dem Ersticken nahe und schöpfte mühsam Athem. Nach und nach gewann er Luft. Er schlug die 216 Augen auf, sah die drei ihn umstehenden Personen groß an, lächelte freundlich, nickte Carolinen zu und sprach: »Habe Dank!« –Dann wendete er sich zum Richter: »Lassen sie Ihren Schreiber kommen, ich bin bereit!«