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Sie hatte mehrfach geäußert, bei ihrem Bänkchen, am kleinen See im Park, unter den Trauerweiden wünsche sie zu ruhen.
Dort wurde sie zur Erde bestattet.
Erst nach dem Begräbniß wechselten Emil und Gustav einige Worte. Bis dahin waren sie still und wie vernichtet neben einander hergegangen.
Sie beschlossen, sich bei Nacht, wenn Alles schlief, zur nothwendigen Besprechung auf Emil's Zimmer zu finden. Als sie dort zusammentrafen, bildeten sie, obgleich Beide von tiefsten Schmerzen durchdrungen, durch diese ihre Schmerzen gerade einen schroffen Gegensatz: Gustav trauerte um den Verlust der Geliebten, offen und ehrlich, mit der Wildheit eines sinnlichen, leidenschaftlichen Jünglings, dabei aber auch 245 mit der Wehmuth eines Kindes, dem die junge Mutter, die Führerin, die milde, zärtliche Veredlerin gestorben. »Nun bin ich ein Verlorener!« hieß der Jedesmalige Schluß seiner Klagen, durch welche aus heißen Thränen schon das Geständniß herausklang: er werde sich in tolles Leben und wilde Zerstreuungen werfen, um – zu vergessen! Emil's Gram war keinesweges so einfach und natürlich; man könnte ihn raffinirt nennen. Doch wie viel und wie wenig davon wirklich bis auf den Grund seiner Seele gegangen sein mag, – drei rothe Blutflecke hafteten entschieden auf der leeren, farb- und freudelosen Fläche, die – wenn er der einsamen Zukunft gedachte – vor ihm lag: Erstens Agnesens grauenhafter Tod und die Trennung von ihr, deren Jugend neben ihm, durch ihn, ohne Jugendglück geblieben; zweitens die bevorstehende Abreise Gustav's! – Denn daß diesen keine Macht, keine Bitte mehr in Schwarzwaldau festhalten werde, ließ sich leicht errathen; – drittens endlich, und das war der Dunkelste der drei blutigen Flecken: die Furcht vor Gustav's ruhmrediger Eitelkeit, die über kurz oder lang, im wüsten Verkehr mit seines Gleichen, ausschwatzen könne, wie nahe er der Verstorbenen gestanden und wie dieses zweideutige Verhältniß von einem mehr als gefälligen Gatten geduldet worden 246 sei. Emil hatte dieser seiner Befürchtungen kein Hehl. »Daß wir von einander scheiden müssen,« sprach er, »das weiß ich. Du kannst nicht weilen, wo sie nicht mehr lebt. Was Du mir in dieser letzteren Zeit an Neigung zugewendet, hatte ich ihr allein zu verdanken. Ihr Grabstein ist ein unübersteigliches Gebirge zwischen mir und Dir. Ich lasse Dich ziehen und bringe dadurch ihrem Angedenken das schwerste, darum auch das versöhnendste Todtenopfer. Auch sollst Du ihr Erbe sein. Agnesens eigenes Vermögen befindet sich in Staatspapieren unter meiner Obhut. Es gehört Dir. Hilf Deinen Eltern und dann unternimm, was Dir nothwendig scheint, Dich wieder in's Leben zu wenden. Ich lege Dir keine Bedingungen auf; verlange keine Rücksichten für mich; bitte Dich nur, die reine Liebe, wie Du sie hier kennen lerntest, in Deiner Seele zu tragen, damit sie Dich trage, halte, führe. Ich verlange nichts von Dir, als Achtung für die Todte und ihren Namen. Hat sie sich schwach gezeigt gegen Dich? – ich forsche nicht, in wie weit? mir steht das Recht nicht zu! – hat sie, die Edelste, die ich kannte, ihre weibliche Natur nicht ganz besiegt? ist sie Dir in einer flüchtigen Stunde vielleicht wie Andere, minder Würdige erschienen? . . . Vergiß das und bewahre nur in Deinem 247 Herzen, was groß, heilig an ihr gewesen. Schone – ich will nicht sagen: schone mich und meine Ehre! – schone die ihrige! Bewahre das Geheimniß. Halt' es verborgen in tiefster Brust, gleich dem kostbarsten Juwel, dessen Glanz durch einen einzigen höhnischen Blick schon getrübt, dessen Werth durch eine einzige hämische Bemerkung schon verringert werden müßte. Unter dieser Bedingung nur empfängst Du dieß Portefeuille, trittst Du die Erbschaft an, daß Du mir mit feierlichstem Eidschwur gelobst zu schweigen! Zu schweigen, wie das Grab, in welchem sie modert.«
Gustav senkte den Kopf. Emil's Großmuth machte ihn sprachlos; dessen Ehrfurcht für die Verstorbene flößte ihm Ehrfurcht ein. Gleichwohl rollten schon in dieser ernsten Stunde warme Tropfen prickelnd durch des jungen Mannes Adern, die verführerisch auf neuen Lebensgenuß hinwiesen, da er vom Gelde vernahm. Er stand bereit, jeden Schwur abzulegen, den man von ihm begehren könnte, und Emil deutete sein stummes Harren für Einwilligung.
Da brachte er denn abermals den bekannten Dolch zum Vorschein. Auf diesen mußte Gustav, in knieender Stellung, zwei Finger der rechten Hand legen und die Eidesformel nachsprechen, die dahin lautete, daß dieser Dolch ihm in sein Herz gebohrt werden 248 dürfe, wenn jemals auch nur die leiseste Andeutung der Vorgänge im Schlosse zu Schwarzwaldau ihm entschlüpfe; daß er dann seinen Tod nicht wie an ihm begangenen Mord, sondern lediglich wie gerechte Vollstreckung eines von ihm selbst anerkannten Urtheils betrachten wolle.
Er verschwor Seele und Seelenseligkeit, wenn er dieß Wort bräche.
Darauf nahmen sie Abschied: sie wollten sich nicht mehr wiedersehen. Morgen früh sollte Gustav abreisen; zunächst nur bis Thalwiese. – Das Portefeuille unter'm Arm wendete sich der so lange für unentbehrlich gehaltene, nun entlassene Freund der Thüre zu, und hoffte den Ausgang schon gewonnen zu haben, da rief Emil's Bitte ihn zurück. Nicht ohne Besorgniß gehorchte er. Diese steigerte sich noch, als sein Wohlthäter nach einem Buche griff.
»Sind wir wohl jetzt in der Stimmung? . . .« fragte Gustav schüchtern.
»Nur auf einen Augenblick noch. Lies diese Stelle.«
»Die Kaltwasser'sche Uebersetzung des Plutarch;« aus dieser las Gustav: »›Solon's Mutter war wie Heraklides der Pontiker meldet, mit der Mutter des Pisistratus Geschwisterkind. Anfänglich lebte er 249 mit Diesem in vertrauter Freundschaft, theils weil er so nahe mit ihm verwandt war, theils auch, wie Einige sagen, weil er ihn, seiner Schönheit und großen Talente wegen, auf's Zärtlichste liebte. Daher kam es denn vermuthlich, daß ihre Feindschaft, als sie in der Folge wegen politischer Meinungen miteinander zerfielen, nicht in heftige und wilde Leidenschaft ausartete, sondern jene Gerechtsame sich noch immer in ihren Herzen erhielten und das Andenken der vorigen Liebe und Zärtlichkeit wie glimmende Funken von einem großen Feuer aufbewahrten.‹«
Gustav konnte den Schluß dieses Perioden nicht ohne Rührung lesen, was sich durch seiner Stimme Zittern verrieth.
»Ich bin kein Solon,« hub Emil an, »und Du kein Pisistratus; unsere Mütter waren nicht Geschwisterkinder und zwischen uns besteht keine Verwandtschaft außer jener des Herzens, – die zwar auch nicht gegenseitig, doch in dem meinigen lebte. Ich liebte Dich und Alles, was schön, gut, edel an Dir ist. Deine Talente und Anlagen galten mir vielleicht über ihren Werth, eben weil sie unausgebildet mich wähnen ließen, Dich und sie fördern zu können? Es war ein Wahn. Jetzt scheidet uns – nicht die politische Meinung, – aber doch etwas dem Aehnliches. 250 Die Durchführung des Vergleiches schenkst Du mir; sie würde Dich ermüden. Wir trennen uns, – was soll ich's läugnen? – fast wie Gegner! – darum brauchen wir nicht Feinde zu sein. Erinnerung wird glimmende Funken aufbewahren von jenem großen Feuer, welches einst in meiner Brust loderte. Gehe mit Gott.«
Sie reichten sich die Hände – und Emil blieb allein!
Als er am nächsten Tage, – nicht erwachte, denn er hatte nicht geschlafen, – als er sich vom Lager aufrichtete, dem Rollen des Wagens zu lauschen, welcher den heimisch gewordenen Gast entführte, da trat der Tafeldecker bei ihm ein.
»Wo ist Franz?« fragte der Herr, dem es jetzt erst in den Sinn kam, daß er den Jäger nicht gesehen seit Agnesens Tode.
»Ach, der liegt danieder,« entgegnete der Tafeldecker. »Es ist ihm gar schlecht, aber von den Arzeneien, die der Herr Doctor ihm verordnet, will er nichts wissen. Er sagt, die könnten ihm nicht helfen. Er zieht sich das Unglück unserer armen gnädigen Frau zu Gemüthe. Du lieber Gott, thun wir's nicht 251 Alle? Nur daß wir nicht nachgeben, wie der junge verwöhnte Patron und uns auf den Beinen halten für den Dienst.«
»Was hältst Du in der Hand, Alter?«
»Ein Briefchen. Der junge Herr hat mir's aus dem Wagen zugereicht; ich sollt' es ohne Zögern übergeben.«
Emil entließ den Diener und fand, nachdem er den dick verklebten und vielfach besiegelten Umschlag mühsam zerrissen, nachstehende Zeilen mit Bleistift gekritzelt:
›Für die Möglichkeit, daß kränkende Gerüchte über A. laut würden, seh' ich mich gezwungen, Dir eine Entdeckung zu machen. Die ganze Nacht hab' ich mir den Kopf zerbrochen, ob ich sie nicht unterdrücken sollte? Doch ich gedachte meines Eidschwurs – und muß mich sicherstellen vor möglichem Verdacht. So wisse, daß am letzten Abend vor ihrem Tode die Selige, durch einen mir immer noch unerklärlichen Irrthum getäuscht, Deinen Jäger für mich genommen und diesem einige vertrauliche Worte zugeflüstert hat, welche diesen mir stets verdächtigen Menschen zum Mitwisser des Geheimnisses machen. Daraus entsprang ihre und meine trübe Stimmung bei unserer Landreise, die zuletzt auch Dich ansteckte. So 252 viel davon, als von einer Sache, deren ich leider gewiß bin.
›Nun zu einer Vermuthung: Hast Du nie bemerkt, daß Franz, trotz seiner Liebschaft mit Lisetten, (die mir eigentlich wie ein falsches Feldzeichen vorkam,) seine frechen Augen auf Deine Gemalin richtete? – Ich müßte mich sehr betrogen haben, wenn er es nicht gethan hätte! Dieß vorausgesetzt, was meinst Du, wenn ich Dir nicht länger vorenthalte, daß ich, als der Schuß im Herrenwalde fiel, eine Kugel pfeifen hörte? Daß diese Kugel mir die Mütze vom Kopfe streifte und eine Locke mitnahm? Wirst Du zweifeln, daß der Schuß einem gehaßten Nebenbuhler galt? Mindestens wirst Du zugestehen müssen, daß die Verwechslung unserer Personen am vorhergehenden Tage und dieser am nächsten Tage erfolgte, fast gelungene Mordanfall, viel zu denken giebt. Die ganze Sache ist so delicat, daß ich Dich nicht damit beunruhigen wollte; um so weniger, weil Du bis zum Begräbnisse für nichts weiter Sinn hattest, und sogar aus Mitleid für den unschuldigen Thäter jeden Versuch unterdrücktest, zu erfahren, welcher Deiner Forstleute dort geschossen haben könnte? Auf Schnepfen vielleicht? Seit wann erlegt man Schnepfen mit Kugeln? Suche an Ort und Stelle 253 nach, Du wirst meine Kopfbedeckung zuverlässig noch im Gebüsche finden. Nur vorsichtig! Mache nicht unnützen Lärm. Sei weise, wie Solon. Ich bleibe Dein
Piststratus.‹
Emil verbrannte das Blättchen, kleidete sich an und stieg die Wendeltreppe hinauf zum Jägerzimmer. Vor der letzten Stufe machte er Halt. »Nur vorsichtig!« murmelte er und begab sich auf die Wanderung nach dem Herrenwalde.
Der verhängnißvolle Platz war bald erreicht.
Einige Schritte rechts von der noch unzerstörten Wagenspur, wo die Räder durch den ersten heftigen Seitensprung der Pferde aus dem Geleise gerathen waren, hing Gustav's blaue Tuchmütze in den Dornen eines Brombeergesträuches. Die Kugel hatte den Deckel durchlöchert; Haare von seinem Haupte klebten halb versengt um die scharf abgeschnittene runde Oeffnung.
Emil verbarg diesen leblosen Zeugen einer verruchten That in seinem Rocke, dann übersah er mit furchtbarer Kälte, vor der ihm selbst schauderte, prüfend und forschend die Umgebung. Der Weg durch den Herrenwald führt nicht über den höchsten Gipfel des Hügels. Die eigentliche Kuppe ist dicht bewaldet. Dort mußte sich der Mörder angestellt, folglich mußte er von oben herab gezielt haben; folglich konnte die 254 Kugel, sollte sie entdeckt werden, gegen den Erdboden hin zu finden sein? – Und sie fand sich. Freilich erst nach langem, abmattendem Umherkriechen durch Gestrüpp und Farrenkräuter. Sie saß in einer alten Edeltanne, am Fuße des Stammes; röthlich weiße Splitter von Rinde und Bast verriethen sie dem in Angstschweiß Gebadeten. von Dornen Zerkratzten. Er grub sie mit dem Messer, welches an der Scheide seines Hirschfängers steckte, eifrig heraus. Sie hatte, da sie in weiches Holz eingedrungen schon erkaltet gewesen war, ihre vollständige Form und Rundung behalten.
Emil wog sie nachdenklich lange in seiner Hand: »Wenn dieses Klümpchen Blei einen Zoll tiefer ging und, anstatt den Fuß eines Baumes zu erreichen, den Kopf eines Menschen traf, so war dieser Mensch jetzt kalt, . . . regungslos, . . . war ein Leichnam, wie jener, den wir unter den Trauerweiden einscharrten! Und wäre das nicht vielleicht besser? Ach, und wär' es nicht gewiß besser, es säße in meinem Hirn? O, gewiß!«
Er wog die Kugel, und wog sie wieder:
»Ob ich nicht den Muth haben sollte?« . . . Und bitter lächelnd fuhr er fort: »Da besinn' ich mich auf ein armes Weib . . . ich reisete durch Dresden, im Februar; das Eis der Elbe fing an, sich 255 zu regen; hier und da blickten Wasserspiegel durch, neben Blöcken, die sich über Blöcke thürmten. Ich sah hinunter auf den Kampf der lebendigen Fluth mit dem starren Eise. Gellend durchschnitt ein Schrei die naßkalte Luft und das arme Weib stürzte sich über die Mauer der Brücke. Sie verfehlte ihre Absicht in den Wogen unterzusinken; sie fiel auf hartes Eis und brach beide Beine. Ein Soldat eilte vom Ufer nach zu ihr hin. Ehe er sie erlangen konnte, ehe er sie auflud, hatten sich neue Lücken gebildet und die Rückkehr bis an's Land war nicht ohne Gefahr. Flehend rief die Unglückliche und angstvoll: nehmt Euch nur in Acht, daß wir nicht ertrinken! – Wie thöricht erschien es mir damals, daß dieselbe, die vor wenig Minuten den Tod suchte, ihn jetzt fürchtete, wo sie, verstümmelt und leidend, noch viel hoffnungsloser schien, als vorher. Und bin ich nicht thörichter als jenes Weib? Sie hatte ja nur die Beine gebrochen! Mir ist das Herz gebrochen, das Leben, die Ehre . . . und dennoch will ich nicht sterben? . . . Nein, wozu die Lügen gegen mich selbst? Ich vermag nicht, mich umzubringen; ich muß weiter fortleben! Und ich werde!« –
Franz Sara lag angekleidet auf seinem Bett, als Herr von Schwarzwaldau in's Jägerzimmer eintrat; schien zu schlummern und regte sich nicht.
Emil warf Gustav's durchlöcherte Kappe auf 256 den Tisch, riß Franzens gezogene Kugelbüchse – (ein Geschenk seines alten Lehrherrn) – vom Pflock an der Mauer und paßte die Kugel in's dicke Rohr, deren Kaliber genau zutraf. Noch stand er unschlüssig, da erhob sich der Jäger:
»Ja, Herr, ich war's! der Schurke sollte sterben, da sie noch lebte. Jetzt soll er's gewiß, da sie seinetwegen umkam. Und müßt' ich . . .«
Emil schloß die Thür. Eine lange Unterredung erfolgte, deren Inhalt niemand im Schlosse erfuhr, obwohl sich alle Leute, vorzüglich Lisette, sehr verwunderten, was der Herr so gewaltig lange im Jägerzimmer zu thun haben möge?
Einige Tage später empfing der Amtmann die für ihn gerichtlich ausgefertigte Vollmacht: ›Während Abwesenheit des Gutsherrn, der eine zur Herstellung erschütterter Gesundheit nothwendige Reise auf längere Zeit und außer Landes unternehme, an dessen Statt die Herrschaft zu verwalten und sämmtliche Geschäfte zu führen.‹
Als dienenden Begleiter nahm Emil von Schwarzwaldau einzig und allein seinen Leibjäger Franz Sara mit auf Reisen.
Lisette wollte sich die Augen ausweinen.
»Es wächst Gras über Alles!« tröstete sie der scheidende Liebhaber.