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Es war Frühmorgen im Herbste, da saßen zwei Bauern in einer halbvergilbten Laube des »Hofgartens«. So nannte man den weitläufigen, durch eine Mauer abgeschlossenen, auf der Höhe oberhalb des Dorfes liegenden Park, an dessen Rande das alte Herrenschloß stand, welches, längst an den Staat gefallen, den königlichen Herrn Landrichter und das königliche Landgericht mit allem Zubehör beherbergte. Der Garten mit seinen langen Schattengängen auf den übereinander erhöhten Mauern war Jedem, der Lust zu wandeln hatte, geöffnet und er war der Stolz und – wenn man das Bräuhaus abrechnete – auch die einzige Sehenswürdigkeit des großen Dorfes.
Immerhin fand man selten Einen mit kurzgeschorenem Haar und langem Mantel zwischen diesen Bäumen, diesen Hecken und Beeten, denn der Bauer geht nicht spazieren, und wenn er mit seinesgleichen etwas zu berathen hat, so geht er in's Wirthshaus, und wenn's hoch kommt, allenfalls zum Pfarrer. Es mußte was ganz Besonderes sein, das 2 die beiden Grauköpfe hier niedersitzen und ein über's andere Mal seufzen machte.
Ja, das war es auch. Etwas ganz Besonderes. Das sah man ihnen an den Augen an, und an der Richtung, wohin sie die besorgten Blicke immer wieder schweifen ließen, konnte man auch absehen, woher es kam oder woher es doch erwartet wurde, das Außerordentliche, das so viel Besorgniß, Furcht und Zorn in den Herzen biederer Landleute aufregte.
Jedes unbefangene Gemüth hätte der Blick aus diesen Lauben entzücken müssen. In breiten, wohlgepflegten Terrassen senkte sich der Garten bis zum Fluß hinab, der, in Morgenstrahlen funkelnd, weithin sein Silberband durch die Ebene schlängelte. Ueber ihm zogen gleich riesigen Sommerfäden einzelne Nebelstreifen, die sich unter den Blicken des Betrachters von Sekunde zu Sekunde verdünnten, um als letzte Reste der Nacht bald ganz zu zerflattern. Und solche Nebelstreifen zogen kürzer, dünner, schattenhafter über das breite Moos, das mit seinem herbstlichen Pflanzenschmuck rothschimmernd sich landeinwärts breitete. Zur rechten Hand schlossen grüne, bräunlich gesäumte Wälder das Bild. Zur Linken stand über unabsehbarer Ebene die Sonne. Vor ihren Strahlen hoben sich in meilenweiter Entfernung ein Schloß und die ersten Häuser des dazu gehörigen Dorfes in dunklen, strahlenumkränzten Umrissen ab. Wie ein gerader Strich flüssigen Silbers lief ein Kanal von dort bis an den Fluß unterhalb des Gartens heran und neben 3 dem Wasserlauf, im Staube, gelbgrau und schattenlos, zog sich eine Straße, dieselbe Straße, von welcher der Bader des Ortes in aller Ernsthaftigkeit zu behaupten pflegte, sie sei die einzige Allee im Königreich Bayern, die keine Bäume habe. Den ganzen Hintergrund des breiten Bildes schloß, blaßblau wie ferne Wolken sich vom blauen Himmel hebend, die Kette der bayerischen Alpen mit ihren höchsten Gipfeln, der Zugspitz und dem Wendelstein, weit über's Land hin grüßend.
Welch' ein entzückendes Farbenspiel von den in Sonnenglanz und Ferne verschwimmenden Gestalten der unbeweglichen Berge bis zu dem satten Braunroth der vergänglichen Vegetation, die bis an den gleißenden Fluß heran den fetten Boden dieser Torfmoore überwucherte.
Die Lerchen, die hinter dem Schloß aus den Ackerwellen des Hügellandes aufstiegen, schienen sich mit Lust in die Höhe zu schwingen, um des wonnigen Ausblicks zu genießen. Wehmüthig schienen die Nebel, die zerflossen, von all' der Herrlichkeit der Natur Abschied zu nehmen. Behaglich kreiste über dem Moor ein Reiher, ein auf Raub spähender Vagabund, die weißen Schwingen in der Sonne spiegelnd. Und geradeauf wie ein gottwohlgefälliges Opfer dampfte aus den Dächern der im Moos vereinzelten Siedelungen der ehrbare Rauch in den strahlenden Himmel.
Aber die zwei Menschen sahen von all' der Herrlichkeit nichts, wollten nichts davon sehen und hätten Jeden grob angelassen, der sie darauf aufmerksam zu machen gewagt 4 hätte. Sie sahen nur nach dem einen Punkt, dem Mittelpunkte des ganzen Bildes.
Dort lag zwischen Gebirg und Moorfläche die Stadt, ein dunkler Fleck zu schattiger Masse zusammengedrängter Häuser, die sich, wie eine versteinerte Heerde um ihren ragenden Hirten, um das uralte Wahrzeichen, um die riesige Liebfrauenkirche lagerten. Weit über die Lande, noch von viele Tagereisen entfernten Bergen in Tyrol und im Salzkammergut kennt man die Stadt an den beiden Kirchthürmen, die mit ihrer stumpfen, pudelkappenähnlichen Verdachung, einem kolossalen Stiefelzieher vergleichbar, zweizackig in den Himmel greifen, zum Dank, daß sie auf Erden ist, des frohen Landes fröhliche Hauptstadt.
Warum machte der Anblick der Entfernten nur die beiden Alten in den langen Mänteln nicht froh? Welch' Unheil sollte von ihr ausgehen, daß der Eine immer das Haupt über sie schüttelte und der Andere gar die geballte Faust in die friedliche Morgenluft nach ihr ausstreckte!?
Der Drohende brachte jetzt das spitzige Kinn in krampfhafte Bewegung. Selbst die grauen Bartstoppeln daran schienen sich voll Abscheu und Entrüstung gegen die verwünschte Stadt zu sträuben, während er heiser und den Schleim des Ingrimms von sich speiend die Worte hervorbrachte:
»O die vermaledeiten Stadtfräck', jetztund haben sie's uns doch abg'wunna (abgewonnen). Hin san mir (sind wir) Alle! Und 's war uns gar so viel wohl, da heraußen, wie unsere 5 braven, gottesfürchtigen Leut' nix von all' dem Schlamassel in der Stadt braucht hab'n. Aus is's jetzt mit der G'müthlichkeit und mit der Gottesfurcht und mit'm ehrbaren Verdienst! Rein aus is's. Unter d' Erd' möcht' ich sinken, ja ich möcht' mich schier selber in d' Erd' eingraben, wenn ich nur g'wiß wüßt', daß nachher die ganze Sakramentsspitzbubenbanda da drin'n der Teuxel bei lebendigem Leib holet' und neunundneunz'gtausend Klafter tief im höllischen Marterschwefel untertauchen thät und bei die Haar wieder 'rausreißen und alleweil wieder nei' in's Glutfeuer die eiskalten Tropfen (Tröpfe) die, und wieder 'raus und wieder nei' und fest untertauchen und drin umkehren und so furt bis in alle Ewigkeit. Amen!«
»Amen, Amen! Aber no mein Gott, schau Brüderl, mußt halt bedenken,« sagte der Andere, die fetten Hände über dem behaglichen Wanste zusammenfaltend. Er war offenbar der Gemüthlichere von Beiden, der die Dinge nahm, wie sie kamen, auch wenn er sie nicht loben konnte. »Du mußt bedenken, Alterl, so ein fünfundzwanz'g Jahrln hab'n mir die G'schicht doch hintang'halten. Und wenn sie sich jetzt nimmer z'rückhalt'n laßt, nu in Gott's heiligen Namen! uns wird die Sünd' net auf's Register g'schrieben werden und mir müssen uns mit dem trösten, was mir die Zeit über ehrlich verdient haben!«
»Die Zeit über, he, he!« höhnte der Andere, sich unter dem Hute die Zipfelmütze verschiebend und ein heiseres Gelächter versuchend, »die Zeit! Warum hat denn die gute 6 alte Zeit so a gachs (jähes) End' nehmen müss'n? Hast Du Dir eppa (etwa) z'viel verdient? Is' dös durchaus nothwendig, daß man sein'n Kram drin in der malefizischen Stadt kauft, statt bei mir, und daß die armen Leuteln auf'm Land von die g'scheerten Stadtjuden mit elender Waar' ang'schmiert werd'n für ihr sauer verdient's Geld?«
Der Dicke fuhr sich mit der runzligen Hand über die Augen, als würd' es ihm schwer, vor solchen Reden ein ganz ernsthaftes Gesicht zu behalten. Der Hagere bemerkte es aber doch, wie ein Lächeln die schmalen, blassen Lippen seines Freundes verzog, und nur um so ingrimmiger fuhr er fort:
»Freilich Du, Du bist der Siebeng'scheidte, Du hörst's Gras wachsen und die Flöh' husten! Dich hat no Kaner über'n Dam (Daumen) draht. Du denkst Dir halt: Wenn mein lieber Spezi (Freund), der Bartel, auch schön stad (in aller Stille) z' Grund geht, was bekümmert das mich? G'schieht ihm ganz recht, warum is er ein Kramer word'n! Ja! War' er wie ich ein Bierwirth word'n, kunnt' er auch sagen: ehrlich währt am längsten. O Du Schlaucherl! (Diminutiv für Schlaukopf im höhnischen Sinne.) Ich aber sag' Dir, meiner Seel', so wahr ich da steh', Deine Herrlichkeit hat grad so abg'wirthschaft't wie die meinige. Wirth oder Kramer, allesamm' z'samm werd'n mir ruinirt. Moanst, Bier trinken thaten die Leut' noch alleweil nach wie vor dem großen Unglück? Aber da bist g'stimmt (genarrt), Zlabinger! Moanst, wenn auch die Leut' lieber in die Stadt fahren werd'n und 's Tuch für ihre G'wandeln (Gewänder) und Knöpf' und 7 Schnür' und Passamenten und was halt sonst noch zum Anleg'n brauchen, drin bei die Juden und die Freimaurer kaufen werden, weil ihna 's Fahrbillet billiger kummt, als daß s' mir mein christlichen Profit und's Risiko bezahlen, wegen aner Maß Bier oder wegen an Schöpperl Wein oder wegen an Glasel Enzian werden sie sich dengerscht noch net auf d' Eisenbahn setzen? Dös net, Zlabinger, dös g'wiß net! Aber lebst denn Du von die paar Eimer Bier und der Butellen Schnaps, die's D' an uns Bürger verschenkst in der Wochen? Kein Schein! Aber von die Fuhrleut' lebst, die ausspannen und ihre sechs Pferd' in Dein' Stall stellen, weil's heut nimmer weiter brauchen und bei Dir schlafen und zechen, daß's a Freud' is! Für'n ersten Tag war's g'rad g'nug, von der Stadt bis über unser'n Berg auffi! Jetzt heißt's: Güterzug! auffig'schmissen 's Kolli auf'n Wagen! Hast'n net g'seg'n, sixt 'n net a, furt is er mit'n ganzen Graffel! Kaum daß der Zug eine einzige Stund' braucht bis daraus. Und bis ganz 'raus geht er net amal! Bewahre! Wegen was denn? Er laßt den Berg grad a so da liegen, pfeift Dir was und fahrt schön drum'rum! Pfutsch is er! Und warum sollt' er denn da auffikraxeln? Um in Dei'm Wirthshäusel einz'kehren, wohl? Schnecken, Zlabinger! Aus is', gar aus!«
»Wie Gott will!« hauchte der gemüthliche Zlabinger und faltete die Hände über dem Bauch, wo ihm die Geldkatze zu sitzen pflegte, die weißgesteppte, wohlgefüllte, unbewegliche, die er auch in diesen schnöden Zeiten an seinem 8 Leibe wohlgesichert hielt wie seinen heiligen Leib durch sie. Und da er fürchten mußte, daß Bartel's Ingrimm gleich wieder losbrechen werde, fügte er hinzu: »Ich hab's ja net g'rufen. Ich hab' mich mit Händ' und Füß' dagegen g'stemmt, so lang die Kraft g'halten hat.«
»Wahr is,« bekräftigte der Hagere und sah mit einem Blick des Stolzes und der Zufriedenheit auf seinen Kriegskameraden. »Mir zwei hab'n uns tapfer g'wehrt. Uns wird der liebe Herrgott kei' Schuld geben für die Sittenverderbniß und das ganze Elend, das mit dera Satansmaschin' über unser arm's Dörferl kummen muß. Wenn mir's allein hätten richten können, unser Lebtag wär' dös höllische Sündenfuhrwerk net bis an unsern Berg g'ruckt. Aber, Bartel, aus is's und unser' Zeit ist 'rum (herum, vorbei)!«
»Da, da, da! da kummt's!« rief nun Zlabinger, plötzlich von der Bank aufspringend und mit aufgerissenen Augen und stramm ausgestreckter Hand, so weit er konnte, an die Mauerbrüstung vortretend. Jetzt sah man dem schweren Manne, der bislang den Gelassenen gespielt hatte, deutlich genug an, daß auch ihm die Bedeutung des Momentes wohl bewußt, daß ihm die Wichtigkeit und Verderblichkeit der verwünschten »Satansmaschine« nicht minder klar war als dem jähzornigen Bartel, daß er sich nur besser zu beherrschen wußte als dieser und zu den Verlusten, die ihm bevorstanden, nicht auch noch seine bisher so standhafte Gesundheit dreingeben wollte, die er durch Aufregen seiner Galle zu schädigen fürchtete.
9 Bartel antwortete nichts. Auch er war dicht an die Brüstung der Mauer vorgesprungen. Und während seine Fingernägel unbewußt an den verwitterten Backsteinen kratzten, starrte er sprachlos hinaus in's Weite. Keiner Sylbe waren seine Lippen mächtig; nur ein bitteres Lächeln machte sich auf ihnen breit wie eine Blume auf einem Grab. Nun war das Unglück ja geschehen, die Kugel war aus dem Laufe, das Verderben ging seinen Gang.
Scheinbar langsam, in Wahrheit aber schnell, furchtbar schnell bewegte sich von der Stadt her ein Wölkchen über dem Boden. Die Morgensonne ließ den Dampfknäuel wie Silberrauch glänzen. Es schien, als erneute er sich, Qualm den Qualm gebärend, immer wieder aus sich selbst. Was unter ihm trieb und rollte, konnte man auf diese Meilenferne nicht wahrnehmen. Aber die beiden Alten wußten's, auch ohne daß ihr zorniges Auge das Ding begriff, sie wußten nur allzu gut, was es war, woher der Rauch kam und wohin er führte.
Die erste Lokomotive versuchte den neuen Schienenweg, der aus der Hauptstadt an diesem Dorfe vorüberführen sollte.
Schon vor einem Menschenalter war es dem Orte zugedacht worden, in das Schienennetz, welches damals angelegt wurde, nach Gebühr einbezogen zu werden. Aber die wunderlichen Bewohner des Ortes versahen sich von der neuen Erfindung, die sie allen Ernstes dem leibhaftigen Satan und seinen Helfershelfern in Menschengestalt zuschrieben, nicht nur nichts Gutes, sondern alle Uebel aus Erden und Gefährdung 10 ihres Seelenheils im Himmel, und die Bewegung der Gemüther war eine so heftige, nachhaltende und gewaltige, daß sie an maßgebender Stelle nicht übersehen werden konnte. Die hartnäckige Bauernschaft petitionirte bei beiden Kammern und ihre Abgesandten klopften selbst an des Königs Thür so lange, bis ihnen aufgethan wurde. So kam es, daß ihnen die Wohlthat des rascheren Verkehrs erspart wurde. Da sich von Sachverständigen auch eine andere Linie empfehlen ließ, welche den Ort nicht berührte, da Städte und Dörfer, welche diese Linie heimsuchen sollte, ganz im Gegentheil zu unseren braven Landleuten, dringend um Berücksichtigung ihrer wirthschaftlichen Interessen baten, so blieben die Vettern, Kunden und Freunde der Herren Zlabinger und Bartel von der Annäherung des diabolischen Eisenbahnwagens verschont und auf die alten schwerfälligen Verkehrsmittel mit der Welt beschränkt. Wenn ein Fuhrmann mit schwerem Gepäck noch die Landstraße gefahren kam und die vier Rosse mit aller Mühe den Berg hinaufgekeucht waren, dann war's freilich nach wie vor für diesen Tag genug und er ließ sich's beim Zlabingerbräu wohlsein. Und wenn ein Bauer für seine Jacke neue Silberknöpfe oder gar für einen neuen Mantel Tuch brauchte, wenn eine Bäuerin für Sonntagsstaat oder Hochzeit eines neuen Rockes benöthigte, so kaufte sie beim Bartel ein, der ihnen großmüthig und treuherzig das Zeug nur um dreihundert Prozent theuerer abließ, als er es in der Stadt gewann. Freilich, in die Stadt zu gehen, dazu gehörte ein Unternehmungsgeist, eine Waghalsigkeit 11 ohnegleichen, die sich auch verlohnen mußten. Ganz abgesehen von den Gefahren für Leib und Seele, ganz abgesehen von der Unbehaglichkeit, die aus dem Anstarren und Gelächter der frechen Städter entstand, ein rüstiger Fußgänger brauchte fünf Stunden nach der Stadt. Ganze drei Meilen! Ja, und wann hat der Bauer Zeit, zehn, zwölf Stunden von Hause wegzulaufen? Höchstens am Sonntag. Da sind die Geschäfte in der Stadt geschlossen. Und soll die Bäuerin allein dahin? Da sei Gott vor Spott und Schande! Und mache doch einer den Weg drei Meilen hin, drei Meilen zurück, den herzförmigen Latz von steifer Pappe fest über die Brust geschnürt und einen Rock an den Lenden, der vom schwersten Tuch, in fußtiefe, eng aneinander geschobene Falten gelegt, eine Länge von vierzig bayerischen Ellen in sich schließt und ob seines Gewichtes an Tragbändern über den Achseln gehalten wird.
Man wird begreifen, daß Umfang und Gewicht solchen Kleidungsstückes zur Beweglichkeit wenig beiträgt; man wird auch begreifen, daß sich an vierzig Ellen Tuch von einem biedern Kaufmann, wie unser Bartel einer ist, etwas verdienen läßt und daß ein so konservativer Mann sich um solchen Verdienst ebensowenig von der ersten besten Eisenbahn betrügen lassen will wie der fromme Zlabinger um die Fuhrleute, die ihm Ställe, Stuben und Höfe füllten und was draufgehen ließen.
Im Gemeinderathe saßen noch mehr Geschäftsleute solcher vorsichtigen und gottesfürchtigen Art. Die Wenigen, die 12 wie der junge Böswirth, der Florian Noderer, aufgeklärter zu denken wagten, wurden überstimmt und von der allgemeinen Meinung zum Schweigen gebracht. Und so war es durchgesetzt worden, daß die drei deutsche Meilen entfernte Hauptstadt, die man von den Terrassen des Hofgartens wie zum Greifen vor sich liegen sah, den meisten dieser Dorfbewohner so fern blieb, als trennte sie von ihr nicht das »Moos«, sondern das Weltmeer.
Aber seltsam! Wie so oft manch' schwer errungener Vortheil sich hinterher nicht preiswürdig erweist, so fanden nach und nach sich auch im Dorf immer mehr unruhige Köpfe, die erst schüchtern, dann zweifelnd und endlich immer kecker und bestimmter die ketzerische Meinung verlautbarten, es wäre ganz falsch gewesen, sich den von der Regierung zugedachten Schienenstrang zu verbitten, dieweil man mit der Eisenbahn in jeder Beziehung besser gefahren wäre. In den ersten zehn Jahren riskirte man freilich noch Schläge, wenn man dergleichen unvorsichtig unter der Gemeinde aussprach. Aber im andern Jahrzehnt waren bereits die Schläge Denjenigen sicherer, welche die alte Meinung noch immer verfechten zu müssen meinten. Und als vollends das dritte Dezennium anbrach, da fingen unsere Dörfler an, Petitionen an beide Kammern zu richten, daß man nun endlich auch ihnen eine Eisenbahn bauen möge, und Deputationen klopften immer wieder beim Landesherrn an, um das zu erbitten, wovor sie sich vor einem Vierteljahrhundert mit gleichem Eifer verwahrt hatten.
13 Die braven Zlabinger und Bartel mit noch etlichen gutgesinnten und wohlangesessenen Vettern wurden mittlerweile in allen Ehren steinreich. Aber die neidischen und unruhigen Bauern waren damit nicht zufrieden, daß einige unter ihnen es so gut hatten, sie wollten das Tuch zu ihren Mänteln und Weiberröcken nicht mehr so theuer bezahlen und fingen an, allerhand gottlose Zeitungen zu lesen, und so ward des Verdrusses kein Ende.
Da sich aber eine neue Eisenbahn nicht von heut auf morgen aus der Luft greift, so mußten die Ungeduldigen lange warten, bis es nach mehr als dreißig Jahren endlich einer unternehmungslustigen Gesellschaft einfiel, ihre Schienen nach einer Richtung zu legen, die auch dieß Dorf berührte.
Was die guten, ehrenfesten Alten waren, die kamen darüber außer sich. Sie wollten gar nicht dran glauben, und als sie's vom Landrichter selbst bestätigt erhalten hatten, fragten sie doch noch beim Pfarrer an, ob nicht der Weltuntergang für den nächsten Herbst im hundertjährigen Kalender angezeigt stände.
Was half's! Eines Frühlingstages sahen sie, wie man längs der alten Landstraße einen Damm durch's Moor zu errichten begann. Auf diesem hantirte bald mit allerlei Eisen ein fremdsprachiges Gesindel herum. Das währte so den Sommer durch. Und endlich stand es im frommen Blättchen, ja in demselben wahrheitsliebenden »Blattel«, das Seine Hochwürden der Herr Pfarrer von der Kanzel zu empfehlen 14 pflegte, da stand's gedruckt, daß in acht Tagen die Eröffnungsfahrt mit Festlichkeit und Pomp, mit Böllerschüssen und Fahnenschwenken, mit Hochamt und Gelage vor sich gehen werde. Es mußte wahr sein.
Ein Postillon, der seines Amtes Tage für gezählt erachtete, hatte gestern Nacht dem Zlabinger für ein Glas Schnaps die Gewißheit gegeben, daß schon jeden Tag kleinere Probefahrten auf der neuen Bahnstrecke gemacht würden und daß er nur in den Hofgarten zu steigen brauchte, um sich von dieser Thatsache mit eigenen Augen zu überzeugen.
Da hatte er denn seinen alten »Spezi«, den zornigen Bartel, unter'm Arm gefaßt und war in aller Früh' auf die oberste Terrasse gegangen und nun standen sie und schauten und falteten die Hände. Und die schmalen Lippen des sanften Zlabinger lispelten wie unbewußt vor sich hin: »Brüderl, was meinst, wenn anitzt d' Maschin' platzet' und die ganze Remisuri zum Teuxel ging! Dös war's G'scheidteste!«
Dem Bartel leuchtete dieser fromme Wunsch nicht ein. »Narr, der Du bist,« gab er grob zur Antwort, »dann spanneten 's halt eine andere vor. Was war's alsdann weiter?«
»Na, nur g'rad a bissel an' Erleichterung für's Herz, mein' ich, weiter freilich nix!«
Bartel schien mit dieser Auslegung zufrieden. Oder er hielt so nutzlose Phantasie keiner Erwiederung werth. Ganz in's Anstarren der bald vor- bald rückwärts sich bewegenden 15 Dampfwolke verloren, schwiegen nun die Beiden, bis ein in ziemlicher Nähe krachender Schuß sie aus ihrem Brüten erweckte.
Sie wendeten die Gesichter nach dem Moose hinab, wo man nicht allzufern einen Mann in Jagdhabit und Wasserstiefeln erkennen konnte, der den mühsamen Weg über die von zahllosen Wasserläufen zerklüfteten Torfschollen wohlgemuth fortsetzte. Noch rauchte seine Flinte. Ein schwarzer, kurzbeiniger Dachshund apportirte ihm just das Opfer seines letzten Schusses, eine Bekassine, von deren lahm herabhängenden Flügeln das braune Sumpfwasser troff.
Bartel zuckte die Achseln und sagte: »Natürlich, der Herr Praktikant!«
Zlabinger that deßgleichen und versetzte:
.,Wenn die Herren, statt daß s' ihr Pulver in aller Gottsfruh' verpuffeten, lieber darüber wachen wollten, daß dem Land kein solches Unglück widerfahret' . . . Aber na! Wenn er nur sei' Bradl (Braten) hat, mir armen Hascher können uns so weiterfretten, daß 's a Schand' is!«
Solche Rede machte den Krämer lachen. Spaßhaft seinem dicken Freunde den Ellenbogen in die Seite stoßend, höhnte er: »Und wenn er noch sein Bradl an Dein'n Spieß stecket'! Aber na! Behaupt't der Aktenwurm glei gar, daß dem seligen Böswirth sei' Tochter die viel bessere Köchin und Dei' alter Kucheltrabant nur für die Fuhrleut' gut g'nug is.«
»Juristen, schlechte Christen! Was der sagt –«
16 »Ja, aber ich sag' dös Nämliche!« rief Bartel und lachte.
Mittlerweile war der Mann mit der Flinte aus dem Moor hervorgegangen und trat über die Brücke. Den ernsthaften Gruß, den die beiden alten Bauern ihm zuwinkten, erwiederte er mit geschwenktem Hut. Auf der untersten Terrasse des Hofgartens begegneten sie einander.
»Dös Unglück, Herr Praktikant!«
»Was denn für ein Unglück? Brennt's?«
»Es brennt und es raucht auch schon! und der Rauch wird uns Alle dersticken!« Der ausgestreckte Finger an Bartel's langer Hand wies zur Erläuterung seiner Worte nach der halbwegs aus dem Moore daherdampfenden Lokomotive.
»Ach, die neue Eisenbahn!« sagte der Praktikant. »Ja, die wird freilich mancherlei Veränderung bringen.« Die Alten schüttelten noch einmal die Köpfe und nachdem sie ihm zugegeben, daß man von droben guten Ausblick auf die neue Strecke genieße, daß sie jedoch für heute genug davon gesehen hätten, gingen sie auseinander und jeder von den Dreien machte ein gedankenvolles Gesicht.
Auch der schlanke Mann in der Jagdjoppe, der nun dort droben saß, wo kurz vorher die Alten gesessen, und, wie jene vorhin, seinen Blick über die Ebene gegen die Stadt hin schweifen ließ.
Ein freier, stolzer Blick, der aus lichtblauen Augen kam, aus Augen, denen man leicht ansah, daß weder Falschheit noch Eigennutz noch Menschenfurcht ihren geraden Blick 17 abzustumpfen vermöchten. Die blanke, nur zwischen den Brauen gefurchte Stirn verrieth selbstständiges Denken und etwas trotzigen Charakter. Die Adlernase und das gutverschnittene Blondhaar, der starke, wohlgepflegte Schnurrbart und die länglichen, schöngeformten Hände überzeugten auf den ersten Blick, daß man es mit einem Mann von Weltläufigkeit und Bildung zu thun hatte. Die Wäsche hätte sogar auf einen eleganten Mann schließen lassen. Aber schon das Halstuch war nach der Bauernmode geschlungen. Und vollends die übrige Tracht war die eines Jägers, und zwar eines Sumpfjägers.
Grobe Schmierstiefel, eine ergraute Lederhose und eine Lodenjoppe, deren Farbe an die Blätter im Wald erinnerte, die vom letzten Herbst liegen geblieben, unter dem Schnee gebleicht und von der Sommersonne gedörrt sind, ein zu ungleichem Gelb ausgeblaßtes Braun, das in allen Wettern gewaschen worden.
Und in diesem Zustande begab sich der Mann nach der Amtsstube? Warum nicht? Den Bauern war er noch immerhin auffallend städtisch gekleidet. Denn hier auf der Ebene trugen die Bauern keine Joppen wie im Gebirge, sondern kurze grauschwarze Jacken und Westen mit Silbermünzen als Knöpfe, auf dem Kopf eine Zipfelmütze und darüber einen in der untern Hälfte glatt, in der obern Hälfte gegen den Strich gebürsteten Filzhut und im heißesten Sommer nicht anders als im strengsten Winter einen vom Hals 18 bis an die Knöchel reichenden Tuchmantel – denn – sagten sie – was für die Kälte gut, das schützt auch gegen die Hitze.
Den Bauern galt der Mann in der Jägertracht nach wie vor für einen »Stadtfrack«, ob er sich gleich in diesem Aufzug in keiner Stadt hätte sehen lassen dürfen, ohne Hunde und Schusterjungen hinter sich herzuziehen. Der Landrichter machte sich nichts aus seiner Tracht. Er war's gewohnt, ihn also kommen und gehen zu sehen. Hatte ihn doch der Praktikant bei seinem Einzug in's Amt schon vor zehn Jahren in der nämlichen Joppe empfangen. Eisenhut war länger auf dem Gerichte daheim, als der Vorstand, und ein in alle Menschen und Verhältnisse so gut eingewachsener Hülfsarbeiter dünkte den neuen Bureauchef viel zu wichtig und brauchbar, als daß er ihn wegen solcher Kleinigkeiten wie seine Nimrodpassion und Nimrodtoilette hätte verstimmen mögen. Das war damals. Jetzt war's zu so nachläufiger Korrektur längst zu spät. Wer weiß, ob der Herr Landrichter es nicht sich ebenso bequem gemacht, hätte ihn nicht das Gesetz zur Uniform verpflichtet. Aber die Uniform mit der goldenen Achte am Kragen war erst für den Assessor obligatorisch. Und unser Mann war ja noch Rechtspraktikant. War es seit siebenzehn Jahren und wünschte keine Veränderung seiner Lage. Kaum daß er einmal an eine solche gedacht in langer Zeit. Und wenn er heute daran dachte, so war nur die verwünschte Lokomotive daran schuld, die da drunten immer näher und näher herankam und neue 19 Menschen, neue Wirthschaft, neue Gedanken aus der Stadt zu bringen drohte.
Waren es denn wirklich schon siebenzehn Jahre, daß der Praktikant hier draußen über dem Moore hauste? Unglaublich! Er mußte sich wohl in den Jahreszahlen irren.
War's, um besser drüber nachdenken zu können, war's, daß ihn die steigende Sonne blendete, er deckte die Augen mit der Hand und blieb so eine Weile still athmend sitzen, bis er etwas um seine Kniee krabbeln fühlte.
»Pfui, Waldmann!« rief er und meinte damit seinen Hund. Der aber schlief drei Schritte fern, lang ausgestreckt im Kies. Ein halbverhaltenes Kinderlachen belehrte auch alsbald den Praktikanten, daß die freundliche Störung keinen vierfüßigen Urheber hatte.
»Du bist's, Annamierl!« sagte der nachdenkliche Mann zu einem achtjährigen Blondkopf, der jetzt gar possierlich vor ihm knixte und dann halb verschämt, halb gefallsüchtig einen Finger in den Mund steckte. »Ja, was willst Du da?«
»Ich hab' mir denkt, wenn der Herr Eisenhut was g'schossen haben, dann könnt' ich's gleich in d' Kuchel tragen. Nachher is's g'rupft und g'spießt und brat'n, bis Sie vom G'richt kemen (kommen), und mit'm Zwölfiläuten kann's auftrag'n werd'n.«
»O Du guter Narr,« sagte der Praktikant, die Waidtasche aufknüpfend. »SèSè ist die alte bayerische Gebeformel, ähnlich wie ecce oder tiens gebraucht. Meist in der Verbindung: sè, da hast! oder: sè, da nimm!, da hast den Vogel. Ich lass' 20 der Frau Mutter schön guten Morgen wünschen und Dei'm Vater gleichfalls.«
Die Kleine machte zum Dank nochmals einen Knix, dann sagte sie, mit dem Zeigefinger geheimnißvoll sich die Nasenspitze berührend, ganz leise, als hätten die Taxushecken Ohren: »Der Vater laßt den Herrn Praktikanten auch schön grüßen und ich soll melden, heut Abend gibt's a Sponsau. Der Herr Pfarrer kimmt auch und Sie sollten fein net warten lassen.« Nach einer Pause reiflicher Ueberlegung fügte das Kind hinzu: »Herr Eisenhut . . . gelten's, a Sponsau ist gar was Gut's?«
»Du kleiner Schlecker!« rief der Praktikant und haschte mit einem raschen Griff das Dirnchen, das ihm entwischen wollte. »Sag' einmal, Annamierl, wie alt bist denn schon?«
»Neune bald!«
»Wirklich? Hum. Und wie alt ist denn nachher Dein jüngster Bruder, der Maxl?«
»Das wirst ja selber besser wissen. Hast'n ja über'n Taufstein g'hebt . . . Vorige Pfingsten is er sechzehn g'wesen.«
Eisenhut gab keine Antwort. Er stützte den Ellenbogen auf's Knie und die Stirn in die Hand. Das Kind hatte den Beweis beigebracht, den er vorhin nicht hatte finden wollen. Damals, kurze Wochen nach seinem Eintritt in's Landgericht, war dem jungen Böswirth sein zweiter Sohn geboren worden und, wohl um dem neuen Gast, der so leutselig und gemüthlich war, eine besondere Ehre zu erweisen, 21 hatten ihn die Wirthsleute gebeten, des Neugeborenen Pathe zu werden. Wer ihm damals gesagt hätte, daß an die siebenzehn Jahre vergehen sollten . . . »Eheu fugaces labuntur anni« sprach er vor sich hin. Er kam sich vor wie Merlin, der im Walde geschlafen und ein Menschenleben verträumt hatte. Von der Ebene herauf ließ sich der schrille Pfiff der Lokomotive vernehmen. Das war der Ton, der seinen Siebenschlaf zerstören zu wollen schien.
Unwillkürlich hob er den Kopf, um zu Thal zu sehen. Da stand das Kind noch immer vor ihm. In der einen Hand hielt es den blutigen Vogel, in der andern eine rothe Mohnblume, die, vom Winde gefährdet, gar lieblich sich an des Mägdleins frische Wange schmiegte. Den Athem anhaltend, stand es so schon lang, um den Sinnenden nicht zu stören. Es wußte nicht, was in diesem vorging. Aber daß er traurig sei, das sah es. Drum als er wieder den Kopf hob, hielt Annamierl ihm rasch die Blume hin, und kaum daß er sie ihr aus der Hand genommen, sprang sie auch schon mit der Jagdbeute davon, sich noch oft schalkhaft zum Gruße nach ihm umwendend.
Er spielte noch eine Weile mit der rothen Blume. Es fiel ihm ein, wie immer und überall die Kinder zu ihm Zutrauen bewiesen hatten. Wie oft, wenn er als Student über Land gegangen war, hatten ihm Kinder, die ihm auf dem Felde begegnet, Blumen angeboten. In der Stadt, wo es keine Blumen gab, hielten sie ihn an, um wenigstens nach der Uhr zu fragen. Und auch jetzt noch, wenn er mit der 22 Büchse durch Wald und Wiesen strich, erfuhr er Freundliches, wo immer er schönen Kindern begegnete, auch wenn dieselben um fünf bis zehn Jahre älter waren als die kleine Annamierl.
Es war etwas Zutrauenerweckendes in seiner Miene, seinem Gehaben, und ein freundlicher Zauber in seinen Augen – die Leute mochten ihn gut leiden, wo er nur vorüberkam, und wo er hausen wollte, war er gern gelitten.
Worüber beklagte er sich denn auf einmal? Ging's ihm nicht gut hier draußen? Er war sein eigener Herr. Die Bureaustunden abgemacht, fragte keine Menschenseele nach seinem Thun und Lassen. Mit dem Pfarrer, mit dem Wirth, mit dem Forstmeister befreundet, hatte er die weiteste Jagd, den besten Tisch und die lustigsten Bücher zu seiner Verfügung. Er war die Stütze des Landrichters, der Konzipient und Stellvertreter des fast immer abwesenden Notars, das Faktotum und die Vertrauensperson der Bauern im Umkreis einer halben Meile. Sein Verdienst war gering, aber seine Ersparnisse beträchtlich, denn er hatte Alles, was er brauchte, um einen Spottpreis. Jeder that ihm zu Liebe, was er konnte; die Bauern, die ihn für Rath und Auskunft nie bezahlten, schleppten doch immer was herbei oder erwiesen sich in anderer Art gefällig. Er hatte wenig Ausgaben und diese waren billig zu bestreiten. Welchen Gehalt hätte er zum Beispiel nur erwerben müssen, um in der Stadt so zu speisen, wie er es hier gewohnt worden? Ihn quälten keine gesellschaftlichen Rücksichten. Vater und Mutter waren 23 todt; Geschwister hatte er nie gehabt. Ohne Familie, ohne Bedürfnisse, ohne Wünsche, wer konnte glücklicher sein als er und wo er selber glücklicher als hier!
Da pfiff es wieder vom Moose herauf. Die verwünschte Lokomotive! Hatte sie nun wirklich dreinzureden? Sollte es wirklich anders werden?
Er konnte sich nicht erinnern, seit zehn Jahren einen so schwermüthigen Morgen erlebt zu haben wie den heutigen. Die Sorgen schienen wie der Kohlendampf in der Luft zu liegen. Warum fiel es ihm gerade heute ein, daß er vierzig Jahr alt sei? Warum dachte er gerade heute daran, was ihn einst auf dieß Nest herausgetrieben hatte?
Jetzt konnt' er darüber lachen. Aber damals, vor siebenzehn Jahren, hatte er nicht gelacht. Es war die bekannte alte Geschichte. Er hatte ein Mädchen lieb gehabt, das ihm weis gemacht, es liebe ihn mit gleicher Leidenschaft. Vielleicht glaubte es das auch selbst. Aber die Zeit treibt gern mit solchem Wahn ihr Spiel. Besonders mit einer Studentenliebschaft. Freilich wird nicht jedes Band so grob und roh gelöst, wie es ihm widerfahren war. Die Untreue braucht nicht so verletzende Gestalt anzunehmen, als wie sie ihm gezeigt. Aber einmal macht Jeder so eine ähnliche Erfahrung. Je nun, der Eine verschläft's, der Andere vertrinkt's, der Dritte lacht sich den Buckel voll, der Vierte wird darüber verrückt. Max Eisenhut war einer jener starken Menschen mit weichem Herzen. Er sprach kein Wort über die fatale Sache; er hatte weder ein Bedürfniß, Mittheilung zu 24 geben, noch Mitleid zu empfangen. Aber es war ihm doch zu Muthe, als sollte das Herz in Stücke brechen. Er fühlte die Nothwendigkeit, sich einen Halt und eine Mauer zu schaffen, wenn er nicht verkommen sollte. Wäre Krieg in der Welt gewesen, das hätt' ihm noch am besten getaugt. Aber für das Soldatenspiel im Frieden war er nicht harmlos, nicht jung und nicht reich genug. Einen Beruf, der zwingend ihn emporgehoben hätte, fühlte er nicht. Er war Jurist geworden, weil sein Vater einer gewesen war. Bei ihm, dem wackern Landrichter, hatte der Sohn schon als Knabe alle Handgriffe des Bureaus gelernt, so daß er nur die nöthige Wissenschaft zu erwerben brauchte, um flott weiter zu amtiren, wie er es von klein auf gesehen hatte. Wäre sonst noch ein Lebensberuf ihm in den Sinn gekommen, so wär' es der eines Forstmannes gewesen; denn wie seines Vaters Vorfahren seit undenklichen Zeiten alle rechtsgelehrte Bureaukraten gewesen, so war seine Mutter aus einem uralten Förstergeschlechte. Die Lieder und Geschichten, die der kleine Max auf der Mutter Knieen vernommen, spielten alle im grünen, grünen Wald, mit dessen Thieren und Menschen er bald an des Großvaters Hand vertraut wurde. So war er auf dem Lande groß gewachsen. Daß es ihm dann in der Stadt so über die Maßen gut gefallen, wir haben's gehört, wie schlecht ihm das bekommen. Was Wunder, daß ihn in jener gefährlichen Zeit der Gedanke mit Uebermacht befiel, so treulos und schamlos wären die Leute nur in der Stadt. Wenn er sich erst wieder auf dem Lande 25 vergraben könnte, dann würd' ihm wohler werden. Im Walde würde sein Herz gesunden, wenn er nur tagelang wieder in ihm herumstreifen könnte. Vielleicht hatte er sich so die richtige Arznei verschrieben. Jedenfalls schien der Erfolg ihm Recht zu geben.
Zwar machte er anfangs nur gute Miene zur bösen Wahl, die sich ihm bot, und dachte, sobald sich anderswo eine Stelle frei zeigte, dieß der Stadt allzu nahe Landgericht sofort mit einem entfernteren zu vertauschen. Allein allgemach merkte der unzufriedene Mann, daß die Entfernung, welche gerade dieß Dorf von der Stadt trennte, ungleich größer war, als es die knappe Meilenzahl hatte vermuthen lassen. Dann fand er bald ein paar tüchtige Menschen, die ihn liebgewannen. Da war der junge Wirth und der alte Pfarrer, zwei aufgeweckte Charakterköpfe mit eigenthümlichen Schicksalen, die sie aus dem andern Menschenbrei hervorstechen ließen. Der alte Zauber, der von seinem guten Gesicht und seinen offenen Augen ausging, bewährte sich auch hier, so daß die härtesten Prozeßbauern auf sein Zureden hin die rauhe Hand zum Sühneversuch hergaben, daß die verstocktesten Verbrecher auf seine Fragen hin bekannten und manche trutzige Maid, die sonst überhoch die Nase trug und für den besten Freier keinen Finger rührte, ihm eine Blume bot, um die er nicht einmal gebeten hatte. Und was die Hauptsache war, die Jagd auf dem Moos, beschwerlich und manchmal gefährlich, aber immer aufregend und lohnend, die wollt' er bald nicht mehr missen. Er bewarb sich nicht nur um keine 26 Veränderung mehr, er wies sie sogar von der Hand, als sie unverhofft geboten wurde. Mit solchem Eifer wies er sie zurück, daß man es höheren Orts für angemessen fand, seine Beförderung einige Zeit lang zu vergessen. Später ward aus dem Vorsatz eine Gewohnheit. Man wußte nicht mehr, warum man Eisenhut übergangen hatte, war aber überzeugt, daß es gute Ursachen gehabt haben müßte, Ursachen, die ein nochmaliges Uebersehen nur um so gerechtfertigter erscheinen lassen konnten. Das war Eisenhut gerade recht. Mittlerweile war das Notariat in Flor gekommen und der Notar des Ortes, ein wunderlicher, gebrechlicher alter Herr, hatte den Landgerichtspraktikanten aufgefordert, einige seiner vielen Mußestunden für ihn zu verwenden. Darauf ging Eisenhut ein. Er ward alsbald die Stütze des Amts, gewann dabei mehr als er brauchte und hatte für die Zukunft nur den Wunsch, einmal des Notars Nachfolger zu werden. Auch das nicht etwa, um mehr zu werden, sondern um das bleiben zu können, was und wo er es war. Der gegenwärtige Notarius zeigte freilich noch keine Lust, vom Leben oder auch nur von seinem Posten zu lassen. Aber Eisenhut hatte keine Eile. Ehrgeiz plagte ihn nicht; schon das Wort machte ihn lachen. Er wollte schlicht und rechtschaffen leben nach seinem Gefallen und Keinem Rede stehen. Hier war es ihm besser geworden, als er sich hatte träumen lassen. Er lebte und waltete nicht anders, als ob er Grundherr und Eigenthümer des Landes wäre. Im kleinen Kreise, der ihn groß genug dünkte, genoß er eine Art von Herrschaft mit Wohlleben und 27 Stillleben. Bedürfnißlosigkeit, lächelnde Philosophie, ein dörferlicher Epikuräismus thaten das Uebrige, ihn glücklich zu machen. Die alte Geschichte, die ihm die Stadt verleidet hatte, war lange vergessen. Die Einstgeliebte war eine dicke, unförmliche Bürgersfrau geworden, die ihrem Mann ähnlich sah; ihre Kinder guckten ihr bereits über die Schulter und sie ließ in den falschen Zopf, den sie nach der Mode trug, aus Liebe zur Wahrheit einige graue Haare flechten. Eisenhut sah aus wie dazumal, er hatte keine Sorgen und keine grauen Haare und Niemand wollte glauben, daß er älter als dreißig Jahre sei. Die einzige Nachwirkung der alten Geschichte war, daß er Junggeselle geblieben und, seiner Lebensweise entsprechend, auch niemalen diesen Stand aufzugeben Willens war.
Er fand die Mädchen und die Blumen noch immer schön; ließ sich auch manchmal mit Blumen und Mädchen ein, aber nur so eben wie der Stadtherr auf dem Lande. Es war ihm bei allem Scherzen zur Gewohnheit geworden, sein Herz in der Hand zu behalten. Bald war auch keine Vorsicht mehr nöthig. Er wußte, daß sein altes Herz ihm nicht mehr davonzulaufen drohte.
Hätte ihn Einer gefragt, ob er denn nichts entbehre, so hätte er geringschätzig die Achseln gezuckt. Wer entbehrt am Ende nichts! Kamen ihm auch manchmal vagabundirende Gedanken, er wies sie trotzig von sich und überzeugte sich selber, daß es so, wie es war, für ihn am besten wäre. So kam's, daß er, der junge, der aufgeklärte, der uneigennützige 28 Mann, heute Morgen die pfeifende Lokomotive, die sich dort drunten bald vor- bald rückwärts bewegte, nicht viel freundlicher begrüßte, als die beiden, in schnöder Eigensucht beschränkten Alten es gethan hatten.
Sah diese herzlose Maschine nicht ganz so aus wie der vorlaute Bote einer ungemüthlichen Zeit, die keine zufriedene Verborgenheit mehr achtet, die Jeden auf die laute Straße stellt und es nicht dulden kann, daß Einer ohne Habsucht behaglich, ohne äußeres Zeichen angesehen, ohne Würden mächtig und frei und ohne Ehrgeiz glücklich sei.
Aber seltsam! Je länger er dem Treiben der emsigen Lokomotive, dem Spiel der Hebel und Räder, dem Zucken des Dampfes zusah, desto heiterer wurden seine Gedanken. Es ist doch ein gut Ding so eine Eisenbahn! Manchmal hatte man hier außen doch Stunden, nein Tage von qualvoller Langweile. Ein bischen Veränderung konnte nicht schaden; etwas Aufrühren und Aufmuntern war dem zähen Volk sogar nöthig. Man lebte ja hier ohnehin noch wie in einem früheren Jahrhundert und kriegte nur durch verlogene Zeitungen manchmal Nachricht von dem jetzigen; aber nicht viel zudringlicher, als ob sie aus dem Monde kämen. Ja, aber diese Weltabgeschiedenheit war eben die Grundlage seines Glücks! Je nun, was konnte man ihm viel anhaben! Und wenn? . . . Laß es nur ruhig herankommen, dann wäg's ab. Du wirst dich auch darein zu schicken wissen. Siebenzehn Jahre sind eine lange Zeit! Die hast du genossen. Will's nun einmal anders werden . . . nun denn, sei's drum!
29 Ob in dieses Selbstgespräch nicht doch ein melancholischer Ton hineinklang . . . wer weiß es.
Die Schloßuhr schlug acht Uhr. Er wußte, daß nun die Bauern an seine Amtsstube klopften. Der Vormittag gehörte dem Landgericht, der Nachmittag dem Notariate. Genug geträumt für heute! Rasch sprang Eisenhut von der Bank auf, warf die Büchse über die Schulter, rückte den ehemals grünen Hut zurecht und winkte dem immer noch pfeifenden Ungethüm des gefürchteten Fortschritts mit lustiger Hand einen Gruß hinab. Dann ging er hastig dem Schlosse zu. Unter den Pfundsohlen seiner Wasserstiefel knirschte der zierlich gebreitete Kies, glänzenden Auges und hochgehobenen Schweifes hinter ihm trabte stolz, würdevoll und lautlos auf den weichen, einwärts gedrehten Pfoten der biedere Waldmann, seines Herrn unzertrennlicher Begleiter. 30