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Beim Zlabinger wollte der einsame alte Junggeselle nicht wieder einkehren. Die bitterböse Kathi hätte sich's nicht nehmen lassen, ihn über die fremden Damen auszufragen und wohl auch nach ihrer Art auszuhöhnen. Er hatte kein Recht, ihr's zu wehren, aber er wollte sich dem auch nicht bequemen. Beim guten Florian tranken nun Mittags der Gast wie der Wirth ein Schöppchen Wein, war's aber des Bieres wegen nicht jeden Abend behaglich. Die Unruhe im Gemüth, die sich nach dem letzten kleinen Abenteuer nicht gemildert hatte, trug nur dazu bei, daß Eisenhut, nachdem er sein Bureau beim Notar geschlossen hatte, meist über Land streifte, bald hierhin, bald dorthin. Auch nach Mariatannerl kam er wieder.
Die Bauerndoktorin hieß ihn herzlich willkommen in ihrer kurzangebundenen Art, da es aber rundherum von geschorenen Köpfen um sie wimmelte, die alle noch an diesem Feierabend durch sie mit Sprüchen der Weisheit und des Heils bedacht werden wollten, so ließ sich Eisenhut gar 142 nicht erst nieder, rief ihr zu, daß er später noch einmal nachfragen wollte, und ging.
Er schlenderte durch die Höfe, durch die Anlagen, besuchte den Mann der Moosrainerin in seinem Wirthschaftsspeicher und den Apotheker in seiner Bude. Und als er nichts Besseres mehr wußte, strich er so am Waldrand hin.
Er dachte an nichts dabei als etwa, daß dort gut wandeln sei, daß er einen Blick auf die schöne Aussicht werfen wolle und daß er da einmal eine Vogelhütte gehabt habe. Und doch zog es ihn dorthin.
Auf dem alten Distelfeld war eine elegante Villa gewachsen. Nicht eben groß, aber zierlich, wohnlich, vornehm. Er kannte das Haus von Innen und Außen zur Genüge. Freilich hatte er es noch nicht bewohnt gesehen. Es machte jetzt einen gar angenehmen Eindruck auf ihn, wie die weißen Vorhänge hinter den Scheiben so artig gefaltet und gebogen waren, wie die emsige Magd einen blinkenden Kübel am Brunnenrohr vollschöpfte und wie ein Dutzend schopfiger Hühner um sie herumwackelte, im Kies verstreute Körner aufzupicken.
Er schritt vorüber, höher steigend bis an die kleine Gartenfront, von wo man die bessere Fernsicht thalwärts genoß. Aber seine Blicke gingen nicht thalwärts, sondern blieben an dem Garten haften.
Zwischen dem Grün kurz aufgeschossener Büsche, die im Halbkreis eine kleine Wiese umrahmten, sah er eine Dame wandeln. Sie trug ein langes, blaßfarbenes Gewand, dessen 143 Schleppe mühsam und stoßweise auf dem just geschorenen Grasboden nachschleifte, während sie die gebrochene Gestalt auf ihre Tochter stützte. Diese Tochter war Violette.
Oder war es Florence?
Eisenhut konnte es nicht unterscheiden, da sie ihn nicht ansah. Aber daß diese Dame die Mutter des Mädchens war, schien ihm außer Zweifel. Die Aehnlichkeit des Antlitzes und der Gestalt sprach zu deutlich. Nur die Haare, in denen manch' silberweißes die angeborene Farbe milderte, schienen noch lichter.
Ehe sie die Hecke entlang gewandelt waren, kam Florence – oder war das Violette? – kam die andere Schwester aus dem Hause gesprungen und nahm die andere Hand der Mutter, hing sie in ihren Arm, und so führten, stützten, trugen fast die beiden jungen Gestalten die arme Frau, die, ein gebrochenes Leben zwischen diesen beiden Frühlingen, hinwankte über das blumige Grün.
Nach abermals zwanzig Schritten blieb sie stehen wie Eine, der die Kräfte versagen. Sie ließ die Hände schlaff herabhängen, das Kinn sank auf die Brust und Thränen liefen ihr über die Wange.
Die Mädchen ließen sie auf einen Gartenstuhl nieder. Die Eine kniete vor sie hin, ihr einen Schemel unter die Füße rückend, die Andere streichelte ihr das Haar und küßte sie tröstend auf die Stirne.
Es war ein rührender, lieblicher Anblick. Das Abendlicht floß wie ein heiligender Schein um die schlanken 144 Gestalten, um die Bilder des Schmerzes und der kindlichen Liebe.
Eisenhut wagte es nicht, eine Bewegung vor- oder rückwärts zu machen, aus Scheu, diesen Frieden zu stören. Sie sahen ihn nicht. Die Mutter war ganz mit ihrem Leiden, die Töchter ganz mit ihrer Sorgfalt beschäftigt, und alle Drei mochten sich aus Gewohnheit wie alle Tage, so auch heute, hier vor dem Wald unbelauscht und unbeobachtet glauben.
Die ältere Dame machte jetzt eine fruchtlose Anstrengung, sich zu erheben. Der entmuthigte Blick, den sie zu den beiden Mädchen an ihrer Seite emporsandte, schien sagen zu wollen: ich kann nicht länger hier verweilen, aber ich kann mich auch nicht erheben! Wer hilft mir?
Die Schwestern griffen denn auch gemeinsam der Kranken unter die Arme. Diese richtete sich mühsam und allmälig in den bebenden Knieen empor und schlich dann, den rechten Arm um einer Tochter Schulter schlingend, sich mit dem linken auf beide Hände der andern stützend, langsam, schwankend, Schritt vor Schritt dem Hause zu.
Sechs Stufen führten breit vom Garten empor zum Wohnzimmer, dessen Glasthüren weit offen standen. Eisenhut sah die Mühe, die sich die Mädchen gaben, der müden Frau emporzuhelfen. Als die letzte Stufe erklommen war, hielt die Mutter still, um erst neue Kraft zum Weiterschreiten zu fassen. Sie lehnte sich an das eine Kind mit Haupt und Schultern und ließ das andere doch nicht aus 145 der Hand. Regungslos hingen die drei weißen, faltenreichen Schleppen ein Weilchen über die Stufen hinab, als wären sie aus demselben Marmor wie jene gemeißelt.
Drei Minuten später waren alle Drei im Hause verschwunden. Ein Diener in schwarzen Kleidern schloß die Glasthüren. –
Eisenhut ging raschen Schrittes zur Moosrainerin zurück. Aber obschon von den hilfsbedürftigen Bauern nur mehr ein einziger bei der Aerztin zurückgeblieben war, so machte der Eine doch so groß Geschrei, daß Max seine Fragen noch auf dem Herzen behalten mußte.
»Afra, liebe Afra!« winselte das Bäuerlein, »ich hab' schon auf Dich g'schworen, wie D' in Moosrain noch 'dient hast. Jetzt muaßt mir helfen. Ja Du muaßt, muaßt –«
»Ich kann Dir nicht helfen. Rund 'rausg'sagt: ich kann nicht und kein anderer Mensch auch nicht. Und Keiner kann mehr, als er halt kann. Dir ist nicht z' helfen – außer durch Gottes Wunderkraft und Güt'. Also laß mich in Ruh' und trag' Dein Leid, wie Christus sein Kreuz 'tragen hat.«
Das Bäuerlein weinte. »Du kannst schon, wann D' nur magst. Und damit magst, will ich Dir all' mein Hab' und Gut –«
Den Fuß zu Boden stampfend unterbrach ihn die Moosrainerin: »Willst still sein mit Deinen lästerlichen Reden! Denk' an Dein Seelenheil! denk' an Deine Kinder! Ich kann Dir nit helfen, und für nix und wieder nix willst 146 Dein Bissel vertragen? Soll ich Dir ein Hokuspokus vormachen? . . . G'schwindigkeit ist keine Hexerei! . . . Wie die Tyroler auf der Dult? (Jahrmarkt) . . . Dazu bin ich mir zu gut und Du mir zu g'sund und die Zeit für uns Beide zu kostbar! . . . Kostbar ist mei' Zeit, hab' ich g'sagt!! Hast's nit g'hört? Willst nit hören? . . . Nu, nachher merk's!«
Mit einem Ruck hatte sie den Jammermann beim Kragen und mit einem zweiten über der Schwelle.
»So adjes! Glück auf d' Reis' und nix für ungut!« rief sie, schloß ab und ging mit Eisenhut in ein anderes Zimmer, wo man den Hartnäckigen nicht mehr schelten hörte. »Wenn man da nicht kurzen Prozeß machet', würd' man so einen Bauernkerl seiner Lebtag nit los!«
»Was fehlt dem Mann?« fragte der Praktikant.
»Das, was uns Allen mehr oder weniger fehlt: die Jugend. – Er ist freilich noch weiter davon als unsereiner. Aber es ist kein Kraut g'wachsen, mit dem man sich wieder auf achtzehn Jahr' 'runtertrinken kann. Der Narr aber glaubt . . . Ach was, lassen wir den Narren laufen! Wie geht's denn Ihnen?«
»Dank der Nachfrag', Frau Moosrainerin! Gut! Und bei Ihnen steht ja auch Alles zum Besten. Hab' mich just ein wenig im Bad umgeschaut. Das ist ja eine stattliche Ansiedelung geworden.«
»Ja,« sagte die Wunderbäuerin stolz, »Gottes Segen ist dabei, was auch die dummen Menschen reden mögen! Im nächsten Frühling bauen wir noch ein Haus. Heuer 147 reichen wir schon nicht mehr mit dem Raum. Haben Sie die Durchlauchtigen schon gesehen?«
»Nein, ich war droben am Wald, um die Neugierde zu befriedigen, was aus meiner alten Aufhütte geworden ist. Alle Achtung! Ein feiner Bau!«
»Und feine Leuteln drin!«
»Ich habe eine kranke Frau mit zwei Töchtern im Garten gesehen. Wer ist die Dame?«
»Die Staatsräthin Rüdenhausen.«
»Eine Wittwe?«
»Warum nicht gar! Der Herr Staatsrath kommt so ab und zu herauskutschirt, um nachzuschauen, wie es seiner Gnädigen geht, und wenn er sich davon zur Genüge überzeugt hat, kehrt er neugestärkt zu seiner Pflicht zurück.«
»Was fehlt der Frau Staatsrath?«
Die Moosrainerin verzog den Mund, nahm Eisenhut vertraulich bei der Hand und sagte leise, aber bestimmt: »Das Nämliche, was dem Bauern fehlt, der eben 'nausg'feuert worden ist!«
»Also die liebe Jugend oder vielmehr . . . nichts!«
»Wie Sie sagen! Warum soll sich der Bauer Bärenhuber nicht grad' so gut was einbilden wie die gnädige Frau von Rüdenhausen?«
»Ja, aber die Staatsräthin wird nicht – 'nausg'feuert, wie eben der Bärenhuber 'nausg'feuert worden ist.«
»Gewiß nicht! Wer sollte denn für die armen Kranken zahlen, wenn sich die Reichen nicht Krankheiten anthun oder 148 einbilden wollten? Und dann, lieb's Freunderl, wenn ich den Bärenhuber mit der nöthigen Grobheit vor die Thür sperr', denkt er sich nach und nach: ›Man geht doch nit zum Doktor, daß man 'rausg'schmissen wird! Es muß halt wohl ohne Doktor sich machen!‹ Und das hilft ihm vielleicht. Die reichen Leut', die den Glauben für ihre Einbildungen kaufen können, die finden Doktores nach dem Hundert, die an ihnen herumkuriren, bis Mathä am Letzten ist. Na, was ein Anderer kann, kann ich auch. Warum soll einer meiner Widersacher einstecken, was meinen Kranken zugut' kommen mag? Bei mir hilft ihr vielleicht die gute Luft und der gute Glaube!«
»Aber ich sah die Frau Schmerzen leiden, sich krampfhaft und mühsam bewegen, stöhnen und um Hülse flehen.«
»Ja, glauben Sie, Einbildungen thun nicht weh? O du mein Gott! Nicht stehn und nicht gehn hat die Frau können, wie sie vor sechs Wochen hiehergekommen ist. Nervenkrankheit heißt man das. Gibt allerhand lateinische Namen dafür. Aber keine Medizin! Wer aber fleißig hinterm Pflug schwitzt, wer alle Tag seine vier Rösserln striegelt, aufzäumt und kutschirt, ja wer nur so oft wie Sie mit der Büchs' im Wald umstreift, von dem hat man noch nie gehört, daß er auf diese Weise lahm und krumm geworden ist. Darauf haben die Stadtleut' das Privilegium, und je größer die Stadt, desto mehr.«
»Schade,« sagte Eisenhut, »es scheinen sonst vernünftige, anständige, liebenswürdige Damen zu sein.«
149 »O, alle Achtung! Und sind auch reich und nicht stolz, wohlthätig und nicht prahlerisch, schön und nicht übermüthig. Haben Sie sich die beiden Zwillingstöchter betrachtet?«
»Ja wohl!« antwortete Eisenhut so obenhin. Aber die Moosrainerin, der plötzlich ein wunderlicher Gedanke durch den Kopf gefahren war, faßte ihn scharf in's Auge. Dabei ließ sie den Mittelfinger über den Daumen knallen, sagte ein halblautes: »Warum denn nicht!« vor sich hin und nagte an ihrer Unterlippe wie Jemand, der eben einen ihn selbst überraschenden Entschluß gefaßt hat.
Dann wurde sie einsylbig. Eisenhut, der sich nicht in's Herz schauen lassen wollte, zeigte sich auch nicht sehr gesprächig und so schieden sie, da der Abend dunkelte und der erste Stern am Himmel erschien.
Max schlich durch den Wald, in seine Gedanken verloren. Er kam nicht weit. Plötzlich ging er auf dem Fußpfad rasch zurück zu dem Orte, wo vordem seine Aufhütte gestanden. Ein paarmal hielt er inne, wie wenn er umkehren wollte.
Was peinigte ihn? Was dacht' er in Einem fort an die Krankheit des armen Bärenhuber und der reichen Frau von Rüdenhausen. Aber der Gedanke hatte heilsame Kraft für ihn. Er war ja nicht krank, also war er noch jung.
So jung noch, daß er an die Gartenecke pilgerte, in der frommen Hoffnung, vielleicht noch einmal ein weißes Kleid aus dunklen Büschen leuchten zu sehen.
Sein Schritt rauschte über den welken Blättern im Walde. Er sah sich vorsichtig wie ein Dieb nach allen Seiten um, 150 bis er still stand und sich mit einem Seufzer des Behagens an einen Baum lehnte. Dort betrachtete er, wie der Schattenriß des Hauses sich schwarz vom dunklen Himmel abhob, wie hie und da die Wipfel der jungen Bäume sich hin und her wiegten und der Strahl des kleinen Springbrunnens hinter dem offenen Gitter bald stärker, bald schwächer in die Höhe stieg – und nun mit Eins versank und nicht mehr wiederkam.
Es fehlte was im Ohre des Horchenden, seit der plaudernde Springquell verstummt war. Es mahnte die Seele, als ob sie nach anderem Gemurmel suchen müßte in der lauschigen Nacht.
Und da war wirklich ein anderes Geräusch vernehmbar – leise vorhin, nun deutlicher, näherkommend, ein satzweises Schleifen wie von langen Kleidern auf einem Kiesweg. Jetzt war's ganz nah und jetzt verstummt.
Eisenhut hielt den Athem an. Da sprach ganz nahe hinter Gartenzaun und Hecke eine unsichtbare Stimme.
»Was machst Du hier allein im Garten?«
Und ebenso leise, ebenso schalkhaft, ebenso sanft antwortete es mit der nämlichen Stimme:
»Ich? Nichts! Ich falte die Hände und sehe die Sterne wachsen. Die Gedanken sind zollfrei.«
»Auch wenn sie in den . . . . . . er Hofgarten einbrechen wollen?«
»Auch dann!«
»Also sind Deine Gedanken dort?«
151 »Laß mich zufrieden!«
»Warum nicht gar!«
Ein langer Seufzer. Ein schadenfrohes Kichern. Dann ein leises Klatschen wie von einem schwesterlichen Kuß auf Nacken oder Wange. Ein Schlag und noch ein Kuß. Lauteres Kichern. Faltenrauschen und dann ein Huschen fliehender Gewänder über Gras und Kies, springende Schritte, die im Sande knirschen, scherzende Stimmen, die auflachen und verhallen. Und nun war's wieder still, ganz still, wie in einer Kirche um Mitternacht, und durch die Stille ging ein einsamer Mensch mit einem fiebernden Herzen.
Als Eisenhut durch sein Dorf schritt, sah er im Pfarrhause noch Licht in des Freundes Stube. Er trat ein, setzte sich nach gutem Willkomm hinter den Schirm der Lampe, so daß sein erhitztes Gesicht im Schatten blieb und der treffliche Johann von Gott keinen Argwohn schöpfte, als der alte Praktikant mit etwas heiserer Stimme sagte: »Ich habe mir da, in der Finsterniß durch den Wald gehend, ein großes Loch in den linken Aermel meiner Joppe gerissen. Der freche Zweig muß wie ein Messer so scharf gewesen sein. Da sieh' einmal an! . . . à propos, wie heißt doch Dein Schneider in der Stadt?« 152