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Sie waren in Automobilen gekommen. Gendarmen hielten den Hof sowie den Platz vor beiden Wohnhäusern abgesperrt.
Unten in der Leutestube saßen inzwischen die Angeklagten. Die zwei Fenster nach dem Wirtschaftshof waren geschlossen, doch jenes nach dem Garten stand offen.
Diesem Fenster gegenüber saß Konrad Fercher, während die Eheleute Brintner stumm in der Ecke unter dem Hausaltar saßen und der Knotzen-Lipp es sich auf der Ofenbank bequem gemacht hatte.
Konrad starrte hinaus in den Garten, wo alles in Sommerblüte stand. Sein Blick hing unverwandt an dem Kiesfleckchen vor der Laube. Plötzlich fuhr er zusammen. Ihm war, als hätte sich hinter den mit roten Blüten übersäten herabhängenden Ranken des Laubeneinganges etwas geregt. Als sähe er dort ein weißes Gesicht mit großen Augen, die starr auf ihn gerichtet waren. ...
Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Mit stöhnendem Laut wischte er sie ab.
»Fehlt Ihnen etwas?« fragte sein Hüter.
»Ich weiß nicht ...«, lautete die Antwort, »die Schwüle ... es zieht wohl ein Wetter herauf ...«
»Wollen Sie ein Glas Wein?«
Konrad schüttelte stumm den Kopf. Dann fuhr er sich wieder über die Stirn. Das Gesicht – es war noch immer dort! Und es gehörte Marei, er fühlte es, wenn er auch die Züge nicht unterscheiden konnte. Warum sah sie ihn so an? Ahnte sie nicht, daß es ihn um allen Verstand brachte, sie so nahe zu wissen und doch getrennt durch eine Welt ... ? Daß er es nicht länger ertragen konnte ...
Er legte die Hand über die Augen und preßte die Lippen zusammen, um das Stöhnen zu unterdrücken, das sich seiner Brust entringen wollte. Und doch konnte er es nicht ganz. Ein ächzender Laut quoll zwischen den zusammengebissenen Zähnen durch.
»Geh, führe ihn ein wenig hinaus an die frische Luft«, sagte derjenige, der die Oberaufsicht über die Gefangenen hatte, zu Konrads Begleiter. »Da wird ihm gleich besser werden.«
Taumelnd schritt Konrad neben seinem Begleiter hin den weißen Kiesweg entlang. Auch im Garten war es schwül.
Es zog ein Gewitter herauf. Die Vögel im grünen Blättergewirr der Laube waren jäh verstummt.
»Ist Ihnen besser?« fragte Konrads Begleiter. Aber er bekam keine Antwort. Sein Gefangener war plötzlich stehengeblieben und blickte wie erstarrt auf die Bohnenlaube, aus der jetzt eine zarte Gestalt auf ihn zuglitt.
»Marei!«
»Konrad!?«
Zwei Augenpaare tauchten ineinander, zwei Hände suchten sich. ...
»Halt, Jungfer, hier wird nicht geredet!« rief Konrads Begleiter und wollte Marei zurückdrängen. Aber sie achtete nicht auf die barschen Worte.
»Ich danke dir! Ich danke dir! Jetzt weiß ich's ... unrecht tun sie dir!« stammelte sie leise, worauf er, ein bitteres Lächeln um die Lippen, murmelte: »Und das hast erst fragen müssen?«
Es war alles, was sie sprachen. Konrads Begleiter erinnerte sich seiner Pflicht und befahl Marei, sich augenblicklich zu entfernen.
Den Blick immer noch auf Konrad gerichtet, murmelte sie: »Er ist mein Bräutigam. Ich habe ihn ja nur sehen wollen ... und jetzt leb' wohl, Konrad! Ich bleib dir treu, auch wenn sie dich ...«
Da schob sie der Wächter schon um die Hausecke und zog Konrad mit sich fort.
Auf der anderen Seite des Hauses stand inzwischen der Knotzen-Lipp im Wohnzimmer des Ermordeten. Man hatte ihn holen lassen, damit er noch einmal an Ort und Stelle genau angebe, wie er damals ins Haus gekommen sei und wie er alles vorfand.
Lipp demonstrierte es.
Er blieb dabei, mit Konrad Fercher durch das Fenster gestiegen zu sein, wo sie dann den alten Mann bereits in seinem Blut liegend fanden. Justina und Andres seien mit ihm beschäftigt gewesen.
»Hat Ihnen denn der alte Mann nicht leid getan?« wurde er gefragt.
»Da kann man halt nichts machen.«
»Wer hat also zugestochen?«
»Die Frau Brintner. Nachher auch der Zahlmeister.«
»Und Sie?«
»Ich hab ihm bloß den Mund zuhalten müssen. Dafür hab' ichs Geld bekommen. Das gehört mir!«
»Hat er nichts geredet? Nicht um Hilfe gerufen?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Philipp Knotz«, sagte der Vorsitzende mit eindringlichem Ernst, »sprechen Sie die Wahrheit! Hier auf den Dielen ist noch das Blut des Ermordeten, Sie stehen am Ort der Tat, ich frage Sie noch einmal: Wie war es?«
»Ich sag' ja eh die Wahrheit! Alle vier haben wir's getan«, lautete die gleichgültig gegebene Antwort.
Man ließ Justina holen.
»Schauen Sie mir ins Gesicht, Frau Brintner«, sagte der Vorsitzende.
Justina sah ihn scheu an.
»Ich bin unschuldig!« stieß sie trotzig heraus.
»Können Sie mir das an dem Fleck sagen, wo der alte Großvater in seinem Blut gelegen ist?«
»Ja, das kann ich sagen!«
»Treten Sie auf die Stelle, wo er gelegen ist, und sagen Sie die Wahrheit!«
Justina trat erregt vorwärts.
»Ich schwöre bei Gott«, rief sie laut, »tausendmal und tausendmal, wir sind unschuldig!«
Nun rief man Andres und Konrad Fercher. Einer nach dem anderen mußte auf die Stelle treten, wo die Leiche gelegen hatte, und bekam dieselben Fragen wie Justina.
Beide erklärten, sie seien unschuldig, obwohl der Knotzen-Lipp auch ihnen ins Gesicht sagte, sie wären dabeigewesen.
Die Geschworenen sahen ein, daß auch hier Klarheit nicht zu erlangen war. Da es draußen infolge des immer schwärzer werdenden Himmels schon dämmrig wurde, beschlossen sie, die Rückfahrt anzutreten.
Man ließ die Automobile vorfahren. Schweigend stiegen die Herren ein. Die Angeklagten sollten mit der Eisenbahn zurückgeschafft werden.
Nachdem das letzte Auto den Brintnerhof verlassen hatte, führte man sie zur Station.
Marei, die noch einen letzten Abschiedsblick vom Geliebten erhaschen wollte, sich aber scheute, die Straße zu betreten, wo alles voll Neugieriger stand, hatte sich am Ende des Gartenzaunes hinter einem Holunderbusch verborgen. Dort führte die Straße, nur durch einen schmalen Graben getrennt, hart an ihrem Versteck vorüber. Wenn sie nur ein wenig vortrat, mußte Konrad sie sehen.
Er ging als letzter im Zug, mit tief gesenktem Kopf, neben seinem Wächter her. Als er in Mareis Nähe kam, schreckte er empor – sie war vorgetreten, und er hatte sie erblickt.
Wieder tauchten ihre Blicke ineinander, freilich nur für Sekunden. Dann war Konrad vorüber. Sie stand noch immer reglos und sah ihm nach.
Plötzlich schreckte sie zusammen. Ihr war, als hätte irgendwo jemand dumpf aufgestöhnt. Bestürzt blickte sie um sich. Die Straße war bereits leer, aber seitwärts hinter dem Stamm eines Apfelbaumes sah sie nun einen Mann stehen, der beide Fäuste wie in Qual oder Entsetzen auf Stirn und Augen gedrückt hatte.
Er stand halb abgewandt. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen und kannte ihn nicht. An einer seiner großen weißen Hände funkelte ein plumper Siegelring, und das begriff sie sofort: Daß auch er hier stand, weil er die Angeklagten hatte sehen wollen, daß er sich dazu hinter einem Baum verborgen hatte und daß ihr Anblick ihn tief und furchtbar erschüttert haben mußte.
Marei begriff später nie, wie ihr beim Anblick dieses Mannes sofort blitzgleich der Gedanke durch den Kopf geschossen war: Der ist der Mörder! Es hat ihn herausgetrieben, um diejenigen zu sehen, die für seine Tat büßen sollten.
Wie erstarrt stand sie. Jetzt wandte er sich noch mehr ab, ließ die Hände sinken und glitt in Hast zwischen den Bäumen hin. Etwa dreißig Meter von Marei entfernt übersprang er den Straßengraben, gewann die Landstraße und schritt schnell davon.
Mit einem Schrei stürzte Marei ihm nach, nur beseelt von dem Drang, ihn einzuholen und festzuhalten.
Hatte er den Schrei gehört? Er zuckte zusammen und blickte sich flüchtig um, gerade als durch die reglose Luft der erste Windstoß fauchend einherfuhr.
Eine dichte Staubwolke, durchsetzt von dürren Blättern und Streu, hüllte alles ein, blendete Mareis Augen und warf sich ihr atemraubend gegen die Brust. Als sie wieder aufblicken konnte, war die Straße leer, der Mann, dem sie folgte, verschwunden, als hätte ihn der Erdboden verschluckt.
Trotzdem eilte sie weiter. Aber nun setzte der Gewittersturm mit aller Macht ein. Als Marei atemholend stehenblieb, merkte sie, daß Kalkreut und der Brintnerhof schon weit hinter ihr lagen.
Weit und breit kein Haus. Da packte sie plötzlich Angst; sie machte kehrt und lief zurück.
*