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26.

Nicht einmal nach dem Mord am alten Brintner hatte es in Kalkreut so viel Klatsch gegeben wie jetzt, da diese alle Welt so lange in Atem haltende Affäre eine so neue und sensationelle Wendung genommen hatte.

Der »Foregger-Valtl«, den man einst als hochnäsigen Abenteurer nach Amerika hatte auswandern sehen und der nun seit drei Jahren vornehm den Geschäftsleiter der modernisierten »Sonne« spielte – war der lang gesuchte Mörder Brintners! Wer hätte das geahnt!

Und Brintner hatte doch Frau Kreibig heiraten wollen! Und alles, was der Knotzen-Lipp »gestanden«, war erlogen gewesen. Und Justina Brintner hatte nie eine Liebschaft mit Konrad Fercher gehabt, der nur Marei liebhatte. Und diese kleine blonde Marei, von der bis vor kurzem kein Mensch in Kalkreut die geringste Notiz genommen, die allein hatte nun den Mörder entdeckt und überführt!

Freilich, er ergab sich durchaus nicht sofort. Trotz aller Indizien, die man ihm vorhielt, leugnete er vor dem Richter hartnäckig und beteuerte leidenschaftlich seine Unschuld. Auch der Knotzen-Lipp wollte seine Geständnisse durchaus nicht zurücknehmen.

Dadurch verzögerte sich die Freilassung der Eheleute Brintner und Konrad Ferchers erheblich, und die Kalkreuter hatten Zeit genug, alle Einzelheiten des neu eingeleiteten Verfahrens mit Muße zu besprechen.

Die Ernte war ja nun vorüber, der Herbst ins Land gezogen.

Da kam ein Tag, der allem Leugnen Valentin Foreggers ein jähes Ende machte. In Fiume war im Frachtendepot ein Koffer gefunden worden, den ein Unbekannter vor mehr als drei Monaten dort deponiert und später nicht mehr abgeholt hatte.

Sein Inhalt bestand aus blutbefleckten Kleidern, einem Totschläger und einem scharfen Taschenmesser, das gleichfalls Blutspuren aufwies.

Nachforschungen der dortigen Behörden ergaben, daß der Mann, der den Koffer deponierte, im Hotel Deak gewohnt, sich als »Anton Müller aus Zürich« gemeldet hatte und angeblich nach Argentinien weiterreiste.

Indessen gelang es der Wiener Polizei, festzustellen, daß Valentin Foregger sich zur gleichen Zeit nach dem Süden begeben hatte, um dort angeblich Weineinkäufe zu besorgen, und daß er sich dabei auch einen Tag in Fiume aufhielt. Der Koffer wurde nach Wien geschafft, und nun gelang es durch Befragung von Bediensteten aus der »Sonne«, sehr leicht festzustellen, daß die darin zutage geförderten Kleider sowie der Koffer selbst Eigentum des Geschäftsleiters waren.

Angesichts dieser Tatsachen gab Valentin endlich sein Leugnen auf und legte ein umfassendes Geständnis ab.

Ja, er allein hatte Brintner ermordet, um dessen Heirat mit seiner Schwester zu verhindern. Sein Traum war immer gewesen, sich früher oder später zum Alleinherrscher der »Sonne« zu machen, was nur möglich gewesen wäre, wenn Frau Berta unvermählt blieb. Durch Rosas Plauderhaftigkeit und seine eigenen Beobachtungen merkte er, wie nahe eine neue Heirat gerückt war, und er beschloß, sie um jeden Preis zu verhindern. Unter dem Vorwand, Brintner eine Botschaft der Schwester zu bringen, verschaffte er sich gegen Mitternacht Einlaß bei dem Alten, ermordete ihn und suchte durch Mitnahme des Geldes und der Uhr den Schein eines Raubmordes zu erwecken.

Er selbst verschloß dann die Wohnungstür von innen und nahm seinen Rückweg durch das Fenster, das er zuletzt von außen eindrückte. Uhr und Geld wickelte er in Papier und warf das Paket dann in den Ebentaler Teich, nachdem er vor Lufner durch das Gebüsch geflüchtet war, ganz wie Bastl vermutet hatte. Von der Anwesenheit des Knotzen-Lipp am Teich hatte er nichts bemerkt und auch nicht gemerkt, daß das Paket infolge des dort wachsenden Schilfs nicht untergegangen war. Da er seine Kleider in Kalkreut weder zu verbrennen noch sonst irgendwo zu verbergen wagte, deponierte er sie in Fiume, fest überzeugt, daß bei ihrer erst spät erfolgenden Entdeckung kein Mensch auf die Idee des wahren Zusammenhanges kommen werde. Sehr schwer war es, dem Knotzen-Lipp begreiflich zu machen, daß seine Angaben sich nach diesem Geständnis als Lüge erwiesen. Erst als sein ehemaliger Verteidiger, der den wahren Grund von Lipps Angaben zu erraten glaubte, ihm begreiflich machte, daß er sich durch diese Verleumdung eines schweren Verbrechens schuldig gemacht habe, für das er nun doch büßen müsse, atmete Lipp erleichtert auf.

»Nachher lassen sie mich also doch nicht aus, und ich kann in der Strafanstalt bleiben?« fragte er befriedigt.

»Gewiß. Wenn auch nicht lebenslänglich. Aber ein paar Jahre wird man Ihnen schon geben.«

»Dann ist's gut. Dann sag' ich halt die Wahrheit: Wir haben den Alten nicht umgebracht! Und das Geld habe ich mir aus dem Ebentaler Teich aufgefischt.«


Es war ein klarer, leuchtender Herbstnachmittag, als die unschuldig Verurteilten, nun endlich Freigesprochenen auf Umwegen den Brintnerhof erreicht hatten.

Am Vortag, als man ihnen ihre Entlassung ankündigte, hatten sie beschlossen: »Wir übernachten in der Stadt und fahren lieber eine Station weiter, von wo wir dann über die Kreuzhöhe zu Fuß heimgehen, um ganz unbemerkt zu bleiben.«

»Eigentlich haben wir aber die Leute jetzt doch nicht zu scheuen«, wandte Andres auf diesen Vorschlag seiner Frau ein, »alle Welt weiß nun, daß wir unschuldig im Gefängnis saßen!«

Worauf Justina, deren Gesicht in der langen Haft sich merkwürdig ins Milde verändert hatte, ihn ernst ansah.

»War unser Schicksal wirklich unverdient, Andres? Schau, in der langen Zeit, wo ich allein in der Zelle saß, und dann, als ich verzweifelt um mein Leben kämpfen mußte, ist mir gar vielerlei durch den Kopf gegangen. Wir haben wohl beide nicht gelebt, wie es recht war. Dir war das Trinken, mir das Erwerben Hauptsache, und ein Herz für andere haben wir beide nicht gehabt! Das hat uns keine Freude gebracht und war den Kindern kein Beispiel, und so ist's gekommen, daß wir in der Stunde der Not allein dagestanden haben. Und auch gegen Großvater hatten wir nicht recht gehandelt.

Gott weiß es ja, daß ich ihm ernstlich nie etwas Böses wünschte – aber ein gutes Sein hat er nicht gehabt neben uns! Denk selbst, wenn unsere Kinder uns einmal so behandeln würden wie wir ihn! So ist's mir klargeworden allmählich, daß wir, was uns getroffen hat, auch hinnehmen müssen als verdiente Strafe – nicht für etwas, das man uns angedichtet hat, sondern für das, was wir wirklich verschuldeten: für unsere Lieblosigkeit gegenüber dem alten Mann!«

Sie schwieg. Ihr Mann aber, der sie nie so reden gehört hatte, starrte sie sprachlos an wie ein Wunder.

Also auch ihr war das aufgegangen, was ihm hundertmal das Gewissen beschwert hatte in schlaflosen Nächten!

Konrad Fercher, der gleichfalls überrascht aufgehorcht, rief jetzt fröhlich: »Das war ein gutes Wort von Ihnen, Justina! Jetzt merk' ich's erst, daß Sie doch auch ein Stück von meiner Marei in sich tragen!«

Andres fand endlich auch die Sprache wieder. Er zog Justina in einen Winkel beiseite und blickte ihr in die Augen. »Und du fragst gar nicht, warum ich dich zuerst als Mörderin angegeben habe?«

»Du mein – wirst halt vor Schrecken über die Verhaftung gar nicht gewußt haben, was du redest!«

»Nein, Justina, nein ... das allein war's nicht. Aber du sollst es jetzt wissen: Närrisch war ich vor Eifersucht! Die Bachwirtin hat mir so viel vorgeredet von dir und Konrad ... Da bin ich ganz verrückt geworden darüber ... und hab' mich rächen wollen an dir – und ihm!«

Justina starrte ihn an.

»Das hast du geglaubt? Du – von mir?«

»Zuerst ja! Später nicht mehr. Aber anfangs war nur das in mir, und alles andere war mir gleichgültig.«

»Andres! Es ging um unser aller Leben!«

Er senkte den Kopf.

»Sei nicht hart mit mir, Justina! Schau, gerade weil du auch mit mir so hart und lieblos warst in der letzten Zeit, hab' ich's geglaubt! Und ich hab' dich lieb, Justina ... du bist mir viel!«

»Hart war ich, weil du dich dem Trunk immer mehr ergeben hattest. Auch ich habe dich lieb, Andres, und hab's nicht verwinden können, daß du immer tiefer gesunken bist.«

»Es soll nie mehr geschehen, Justina, ich schwöre es dir heute, wo wir beide ein neues Leben anfangen wollen!«

»Andres! Wenn du das halten könntest! Wie glücklich würden wir leben!«

»Ich werde es! Der Doktor im Spital hat mir ja gezeigt, wohin ich kommen würde, wenn ich das Trinken nicht lasse. Da waren Leute, Justina – ich kann dir's nicht beschreiben, wie schrecklich die waren! Seitdem habe ich einen Ekel vor allem Trinken.«

Tiefaufatmend trat Justina über die Schwelle ihres Heims, wo ihr die Kinder entgegensprangen und ihr Kommen von Marei, Toni und Stina mit lauter Freude begrüßt wurde.

Nachdem der erste Jubel sich gelegt hatte, befanden Justina und Andres sich plötzlich mit den Kindern allein. Die andern waren verschwunden.

Marei saß unten in der Bohnenlaube mit Konrad Fercher. Bastl aber trat in Tonis Stube.

»Toni«, fragte er, verlegen lächelnd, »nun ist's für mich soweit, daß ich zurück nach Losendorf muß. Die droben brauchen mich nicht mehr, und ich –«

»Was – fort willst du?« stammelte sie erschrocken.

»Ja. Morgen früh schon. Ehe ich aber gehe, muß ich dich noch etwas fragen. Schau – das Alleinsein in Losendorf käme mich jetzt doppelt hart an, und du bist ja nun, wo dein Bruder wieder die Leitung hier übernimmt, auch nicht mehr vonnöten auf dem Brintnerhof. Was meinst, wenn ich dich bitten täte: Komm zu mir nach Losendorf als meine Frau? Es ist schön bei uns unten, und gefallen würde es dir gewiß!«

Tonis Augen füllten sich mit Tränen, aber sie blickte nicht zu ihm auf.

»Hast mich denn wirklich lieb?« murmelte sie ungläubig.

Da schlangen sich zwei starke Arme um sie, und Bastls Stimme sagte herzlich: »Mußt mich das wirklich erst noch fragen? Hast es nicht längst gemerkt? Wenn nur du mich auch so magst!«


Zur selben Stunde trugen es die Hucker und Schuster-Giffl brühwarm von Haus zu Haus: »Sie sind schon da, die Freigesprochenen! Ganz unversehens sind sie vor einer Stunde heimgekommen! Und die Hoffart hat die Brintnerin in der Stadt vergessen – schier liebreich hat sie alle Hausleute begrüßt, als wären sie leibhaftige Geschwister von ihr!«

Da litt es die Kalkreuter nicht länger daheim. So gehässig man Justina einst nachgeredet hatte, als sie verhaftet wurde, so wohlwollend gedachte man ihrer jetzt. Es war, als ob das öffentliche Gewissen erwacht wäre und jeder sich im stillen sagte: Du hast ihr auch unrecht getan, jetzt eile dich, es gutzumachen!

Und plötzlich erinnerte sich jedermann, daß man doch »eigentlich immer gut mit dem Brintnerhof gestanden hatte« und also wohl die Pflicht habe, den Heimgekehrten ein freundliches Willkommen zu bieten.

So kam es, daß auf einmal eine kleine Völkerwanderung aus Kalkreut nach dem Brintnerhof entstand ...


Die Verhandlung gegen den Geschäftsleiter der »Sonne« konnte nicht durchgeführt werden.

Als man Valentin Foregger eines Morgens zum Verhör aus der Zelle holen wollte, fand man ihn erhängt.

Dies war die letzte Sensationsnachricht, welche in dem Fall Brintner die Kalkreuter in Aufregung versetzte.

Ende

*

 


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