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Schwül lag die Nacht über Kalkreut. Man war längst zu Bett gegangen, und auch in der »Sonne« waren die Lichter schon vor einer Weile gelöscht worden, nachdem die Wirtin eigenhändig die Haustür abgeschlossen hatte, denn ihr Bruder war heute nach Neustadt gefahren und sollte erst morgen wieder zurückkommen.
Berta war todmüde. Es hatte den ganzen Tag über viel Arbeit und Räumerei gegeben, da gestern die letzten Sommerfrischler ihr gastliches Dach verlassen hatten und nun nur noch wenige Zimmer von Touristen besetzt waren.
Trotzdem konnte sie keinen Schlaf finden. Die Luft im Zimmer war auch zu dumpf!
Selbst nachdem sie das Fenster geöffnet, wollte es nicht besser werden.
Ihre Gedanken beschäftigten sich, wie schon öfter in der letzten Zeit, mit ihrem Bruder. Sie hatte richtig vermutet: Es war kein gutes Zusammenleben mehr zwischen ihnen. Wenn Valentin auch keinen Versuch mehr machte, ihr offen zu widersprechen, so fühlte sie doch auf Schritt und Tritt den geheimen Widerwillen, mit dem er sich in seine abhängige Stellung ergab.
Dazu kam eine Unrast, die ihn befallen zu haben schien, seinen Ton gereizt machte und auf alle Hausbewohner beunruhigend wirkte.
Marei hatte darunter am meisten zu leiden. Seine Abneigung gegen sie machte sich bei jeder Gelegenheit geltend, und das kleinste Versäumnis ihrerseits wurde streng von ihm gerügt.
Das arme Ding nahm sich seine Feindschaft offenbar tief zu Herzen, denn sie sah von Tag zu Tag elender aus, obwohl sie in Berta, die ihr sehr zugetan war, stets eine Stütze fand.
Einige Zimmer weiter auf Nummer 12 lag Baumeister March ebenfalls wach und starrte hinaus in die Nacht. Auch seine Gedanken beschäftigten sich mit Marei. Er war vier Wochen abwesend gewesen und erst diesen Abend wieder in der »Sonne« eingetroffen. Mareis Anblick hatte ihn förmlich erschüttert. Wie elend sah sie aus mit dem schmalen, weißen Gesichtchen und den übergroßen Augen, aus denen Mutlosigkeit und Enttäuschung blickten.
Ein Geräusch draußen auf dem Korridor riß ihn aus seinen Gedanken. Es war, als schliche jemand leise längs der Wand hin und öffne mit großer Vorsicht eine Tür.
Was war das? March richtete sich horchend auf, indem er überlegte: Es kann nur die letzte Tür am Korridor gewesen sein, Nummer 9, denn die beiden dazwischenliegenden Zimmer, 10 und 11, waren unbewohnt. Nummer 9 aber ist das Zimmer des Geschäftsleiters, und dieser ist ja heute, wie Frau Kreibig behauptete, nach der Kreisstadt gefahren, wo er über Nacht bleiben will. Wer kann sich also in sein Zimmer schleichen? Diebe? Bah – woher sollten in Kalkreut Diebe kommen, noch dazu in die wohlverwahrte »Sonne«?
Er horchte angestrengt wohl eine Viertelstunde lang, aber draußen herrschte nun wieder absolute Stille. Schon wollte er sich wieder hinlegen, als er abermals ein Geräusch vernahm, diesmal von der Bodenstiege her, die Valentins Zimmer gegenüberlag. Leise knarrten die hölzernen Stufen zuweilen, wie wenn jemand sich vorsichtig darauf bewegte.
March wurde unruhig. Sollten doch Diebe draußen sein? Er begann sich hastig anzukleiden.
Auch Frau Berta hatte das leise Knarren der Bodenstiege vernommen und war emporgefahren. Auch ihr erster Gedanke war: Diebe!
Mit zitternder Hand raffte sie einen Schlafrock auf und warf ihn über. Links von ihrem Zimmer schliefen Köchin und Stubenmädchen. Die mußte man zuerst wecken, dann den Hausknecht rufen ...
Aber sie kam nicht dazu. Eben, als sie in die Pantoffeln schlüpfte, ertönte draußen am Korridor ein gellender Schrei:
»Hilfe! Er will mich auch ermorden!«
Es war Mareis Stimme, Frau Berta erkannte sie sofort. Dann erstarb der Schrei in dumpfem Röcheln.
Gleichzeitig wurde auch Marchs Stubentür aufgerissen, man hörte dessen zornige Stimme und das Ringen zweier Männer.
Frau Berta läutete stürmisch nach dem Hausknecht und flog hinaus. Draußen war es dunkel. Nur ein kleines Öllämpchen, das während der Nacht brannte, verbreitete einen schwachen Schein, der kaum bis an das Ende des Korridors reichte, wo sich zwei Körper keuchend am Boden wälzten.
Frau Kreibig tastete, an allen Gliedern zitternd, nach dem Lichtschalter, und im nächsten Augenblick flammte das elektrische Licht auf.
»Um Gottes willen – was ist? Herr March – wen –« Frau Berta verstummte und blickte wie erstarrt auf die Szene, die sich ihren Augen bot.
March, der am Boden lag, rang keuchend gegen die Umklammerung Valentins, dessen Finger seinen Hals wie Eisenstränge umspannt hielten. In einem Winkel daneben kauerte Marei, mit den Armen ein dunkles Bündel krampfhaft an sich drückend. Von ihrer Schulter lief Blut, und ihre Augen hingen in namenlosem Entsetzen an Valentin, der mit seinen wutentstellten Zügen und blutunterlaufenen Augen eher einem wilden Tiere glich als einem Menschen.
»Valentin – was tust du?« schrie Frau Berta, aus ihrer Erstarrung zu sich kommend, endlich gellend auf.
Da ließ er jäh von seinem Opfer ab und starrte sie an. Ohne zu antworten, erhob er sich dann, aber nur, um auf Marei zuzustürzen und den Versuch zu machen, ihr das Bündel mit Gewalt zu entreißen.
»Dirne!« zischte er dabei. »Ich werde dir helfen, mich nachts in meinem Zimmer bestehlen zu wollen! Aber ich hatte eine Nase! Ich traute dir ja nie! Darum tat ich absichtlich so, als wollte ich über Nacht in Neustadt bleiben – gib her, was du gestohlen hast!«
Aber Marei umklammerte ihr Bündel nur um so fester. »Nie«, stammelte sie, »nie ... es ist ja ...«
»Was soll denn das alles bedeuten?« mischte sich Frau Kreibig ein. »Laß sie los, Valentin! Und du, Marei, erkläre, wie du hierher kommst. Du warst doch nicht wirklich in meines Bruders Zimmer?«
»Natürlich war sie dort«, fiel Valentin, ehe Marei antworten konnte, ein. »Bestehlen wollte sie mich. Aber ich habe etwas Derartiges schon immer vorausgesehen und wollte sie bei der Tat ertappen. Darum blieb ich nicht in Neustadt, sondern kehrte abends heimlich zurück und versteckte mich auf dem Boden. Ich wollte doch sehen, ob sie es wirklich wagen würde –«
»Sie lügen!« unterbrach ihn Marei, sich zitternd aufrichtend. »Sie wissen ganz gut, was ich suchte – wenn Sie es nicht gewußt hätten, würden Sie nicht versucht haben, mich zu erstechen und für immer stumm zu machen wie den armen, alten Brintner!«
»Marei!« schrie Frau Berta auf und taumelte zurück. »Was soll das heißen?«
»Fragen Sie Ihren Bruder!«
Valentin war kalkweiß geworden. Weder er noch die anderen waren in ihrer Aufregung gewahr geworden, daß sich allmählich verschiedene Türen geöffnet und eine Anzahl Menschen angesammelt hatten, die scheu und verstört herüberlauschten.
Valentin fand endlich die Sprache wieder. Mit einer wegwerfenden Geste sagte er: »Du siehst ja wohl, daß sie verrückt ist, wie die Leute schon lange behaupten. Nimm ihr die Sachen ab, die sie gestohlen hat, und lasse sie fortschaffen!«
Aber Frau Berta sah nun erst das Blut an Mareis Schulter und wies entsetzt darauf hin. »Du hast sie gestochen, Valentin! Wie konntest du das tun?«
»Es war finster, und ich glaubte es erst mit einem Einbrecher zu tun zu haben!«
»Das ist nicht wahr«, erklärte Marei, »ich trat mit der brennenden Kerze in der Hand aus seinem Zimmer, und er wußte genau, wen er vor sich hatte, denn er schlug mir die Kerze ja selbst aus der Hand. Dann stach er nach mir, wobei er sagte: ›Warte, du wirst mich trotzdem nicht verraten! Wenn dir der alte Brintner schon so am Herzen liegt, so soll es dir auch gehen wie ihm!‹ Wenn Herr March nicht gekommen wäre ...«
»Lüge, alles verrückte Lüge ...!«
»Nein, ich lüge nicht. Sie wollten mich ermorden, damit ich es nicht beweisen kann, daß Sie der Mörder Brintners sind. Sie ahnten schon lange, daß ich nur in die ›Sonne‹ gekommen bin, um diese Beweise zu suchen. Darum haßten Sie mich vom ersten Tag an und hielten Ihr Zimmer stets ängstlich verschlossen. Aber Gott hat mich nicht verlassen ...«
»Sie ist wahnsinnig! Siehst du nicht, daß sie wahnsinnig ist? Warum machst du dieser Komödie nicht ein Ende?« wandte sich Valentin, der immer mehr Sicherheit gewann, an seine Schwester, die regungslos an der Mauer lehnte und Marei unverwandt anstarrte. »Beweise!« lachte er dann schrill auf. »Ich möchte wissen, womit sie mir eine solche Albernheit beweisen könnte!«
»Damit!« rief Marei laut, indem sie ihr Bündel in die Höhe hielt: »Mit diesem Mantel, aus dem genau der Zeugstreifen samt dem Knopf fehlt, den Sie in der Mordnacht im Gebüsch verloren, als Sie Egid Lufner auswichen! Und damit!« Sie hielt einen kleinen Gegenstand empor, der sich als Kompaß erwies und die Form eines Uhranhängers besaß.
»Ich kenne das Ding genau, denn ich war dabei, als mein Schwager es seinem Vater schenkte. Der alte Herr trug es stets an seiner Uhrkette, und man dachte später, der Knotzen-Lipp habe es verloren. Nun fand ich es in Ihrem Schrank! Aber ich weiß noch mehr! Ich habe Sie beobachtet, wie Sie hinter einem Baum verborgen, von Gewissensqualen gefoltert, den unschuldig Angeklagten nachstarrten, die man auf den Brintnerhof gebracht hatte! Da wußte ich, obwohl ich damals Ihr Gesicht nicht sehen konnte, daß dies nur der Mörder sein konnte. An Ihrem Siegelring erkannte ich Sie später wieder, und von da an ließ ich Sie nicht mehr aus den Augen. Auch Egid Lufner hat in Ihnen den Mann wiedererkannt, den er in der Mordnacht aus unserem Garten treten sah. Wollen Sie noch leugnen?«
Sie hatte laut und leidenschaftlich gesprochen, eine ganz andere als die schüchterne Marei, die man bisher gekannt. Wie eine Richterin stand sie vor Valentin, der sich vergeblich mühte, seine Fassung zu bewahren, und sie haßerfüllt anstarrte.
Aller Augen hingen an ihm und Marei. Gäste und Personal hatten sich um beide geschart, nachdem einer der Touristen dem Hausknecht zugeraunt hatte, rasch nach der Gendarmerie zu laufen.
Valentin, der den tiefen Eindruck von Mareis Worten merkte und aller Augen auf sich gerichtet sah, machte eine ungeheure Anstrengung, um wieder Herr seiner Nerven zu werden. Es gelang ihm wirklich, ein hochmütiges Lächeln auf die Lippen zu zwingen, während er sagte: »Das also sind die Beweise! Nun, ich habe nichts dagegen, wenn diese Närrin sie morgen vor dem Richter wiederholt, und werde darauf zu antworten wissen. Jetzt aber verbitte ich mir weitere Belästigungen.«
Damit wollte er der in den Hof führenden Hintertreppe zu, als sich Baumeister Marchs Hand plötzlich schwer auf seine Schulter legte.
»Halt«, sagte March, »ich muß darauf bestehen, daß Sie hier bleiben. Sie könnten es sonst am Ende geratener finden, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Und auch ich habe den Aussagen Mareis etwas hinzuzufügen ...«
»Sie?« Valentin prallte zurück und strebte sich loszumachen. Aber Marchs Hand lag wie eine Eisenklammer um seinen Arm.
»Ja, ich! Und ich wünsche meine Aussage sogleich vor diesen Zeugen zu machen. Ich habe erstens zu bestätigen, daß Sie die von Marei angeführten Worte, die einem Schuldgeständnis gleichkommen, tatsächlich gesagt haben, denn ich hörte sie deutlich, als ich die Tür öffnete. Zweitens kann ich bezeugen, daß Sie Marei ermorden wollten, denn ich selbst entwand Ihnen ja mit Mühe das Messer. Endlich habe ich über die Nacht, in der Herr Brintner ermordet wurde, folgende Angaben zu machen, die ich bereit bin, mit meinem Eid zu bekräftigen: Ich habe in jener Nacht hier in der ›Sonne‹ gewohnt und eines Unwohlseins wegen nicht schlafen können. Dabei beobachtete ich, wie Sie, Herr Foregger, kurz vor Mitternacht, in einen Mantel gehüllt, heimlich das Haus verließen. Eine Stunde später erst sah ich Sie wiederkommen. Dann hörte ich Sie bis zum Morgen in Ihrem Zimmer hantieren. Als der Mord bekannt wurde, hegte ich sofort Verdacht gegen Sie, scheute mich aber, bloß auf Vermutungen hin diesen Verdacht auszusprechen, der wieder einschlief, als die allgemeine Stimme die Brintnerschen Eheleute als Täter bezeichnete und man die dem Toten geraubten Gegenstände beim Knotzen-Lipp vorfand. Jetzt mag der Richter entscheiden, ob sie in Verbindung mit Mareis Aussagen nicht eine furchtbare Bedeutung gewinnen.«
Als der Baumeister die letzten Worte sprach, hörte man mehrere Personen die Treppe heraufkommen.
»Die Gendarmen!« sagte jemand laut.
Valentin zuckte zusammen und riß sich mit einer wilden Bewegung von March los.
»Lebendig sollt ihr mich nicht haben!« schrie er auf. Aber da griffen schon ein Dutzend Hände nach ihm und machten jeden weiteren Fluchtversuch unmöglich. Zwei Minuten später wurde er, mit Handschellen versehen, von zwei Gendarmen aus der »Sonne« geführt, zu deren Gebieter er sich mit allen Mitteln, und doch vergeblich, zu machen versucht hatte.
Oben in ihrem Zimmer lag Frau Berta fassungslos, während Marei und Baumeister March sie zu trösten versuchten.
»Daß er schlecht war, habe ich lange gemerkt«, schluchzte sie, »aber ein Mörder. Und gar an dem Mann, von dem er wußte, daß ich aber darum hat er es ja wohl überhaupt getan!« schloß sie zusammenschaudernd.
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