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Wenn er mit Irene zusammen war, so malte er sich öfter heimlich aus, wie es wohl wäre, wenn er zu ihr ebenso stände wie zu dem Bienle. Dann stieg eine ganz unwillkürliche Bewegung in seinen Arm, wie wenn er sie umschlingen, die Hand auf ihr Haar legen, sie an seine Brust ziehn wolle. Mehrmals kam es vor, daß er sie aus Versehen nicht mit Irene, sondern mit Bienle anredete, so daß sie fragte: wer ist denn das? und ihm mit kühler Neugier auf die Lippen sah, wie er antwortete: Ein kleines Mädchen, die Tochter meiner Wirtin, bei der ich gewohnt habe.
Zuweilen plagten ihn auch Gewissensbisse gegen Bienle, in solcher Stimmung schrieb er ihr die zärtlichsten, leidenschaftlichsten Briefe. Traf dann ihre Antwort ein, so war sie schon vergangen, und er mußte sich erst besinnen, was er ihr alles geschrieben habe.
Das Ende seiner Ferien war längst vorüber. – Ich will jetzt nicht zurückgehn! hatte er gesagt, ich bin so im Schaffen, daß ich es für Sünde halten würde, mich zu unterbrechen. Was ich in meinem Zimmer angefangen habe, muß auch dort vollendet werden; ich will noch ein paar Wochen hierbleiben.
Jetzt hatte er ein »Magnificat« begonnen. Es schien ihm ebenso gut, ebenso frisch zu werden wie seine Messe. Er spielte Teile daraus Richard vor, dem er versichert hatte, mit dieser Komposition werde er noch zufriedener sein als mit der andern.
– Die steckt dir noch zuviel in den Gliedern, sagte Richard später, ich finde hierin nicht viel neues. Beinah alles sind Reminiszenzen. – Enzio glaubte das erst nicht, sah es aber dann selber ein und begann die neu komponierten Teile umzuschreiben.
Caecilie ahnte wohl, daß ihn außer diesem Werk noch andere Gründe zurückhielten, aber sie dachte: Nun ist es gleich, ob er noch ein wenig länger hierbleibt oder nicht, wenigstens brauche ich mich dann nicht jetzt schon von ihm zu trennen.
Der Frost setzte dieses Jahr früher ein als gewöhnlich. Enzio holte Irene öfters am Nachmittag zum Schlittschuhlaufen ab. Sie gingen auf die Eisfläche draußen auf der überschwemmten Wiese. Ihm tat die freie Bewegung nach seinen angestrengten Vormittagen wohl; und Irene sagte: Frost ist das Schönste was es gibt: Alles ist so klar und durchsichtig, und jeder Ast und jeder Zweig so, daß man ihn zeichnen möchte. – Sie hatte diesen Eissport schon seit ihrer frühen Kindheit getrieben; der Fluß war dicht am Hause, aber auf dem durfte man jetzt nicht laufen, da seine gefrorene Decke viel zu dünn war.
Hier auf dem Eise war Irene viel freier zu Enzio als zu Haus. Wenn sie zusammen liefen, legte sie ihren Arm fest um seine Hüfte, und er, erfreut, tat das gleiche, nur noch ein wenig nachdrücklicher. Wenn das doch das ganze Leben so fortgehn könnte! sagte sie einmal, als sie im Schwung dahinsausten, es gibt nichts Herrlicheres, es ist fast wie ein Fliegen. Was starren mich nur die Menschen immer so an? Bin ich sehr auffallend angezogen? – Sie starren nur so, sagte Enzio. – Wie, »nur so«? – Gott, weil du so schön bist! –
Ich mag hier nicht mehr laufen, sagte sie ein andermal, hier sind so komische Mädchen, die sehn dich immer so sonderbar an. – Enzio wurde verlegen: Hast du das bemerkt? – Wie soll ich das nicht bemerken, wenn sie es ganz offen tun! Ich habe mir sogar schon gedacht, du kennst eine von ihnen. – Eine? dachte Enzio. Da waren all die Mädchen, die er mit Richard auf seinen Vergnügungsfahrten oder auch allein kennen lernte, sie erkannten ihn wieder und warfen verliebte Blicke. Er hatte schon selber Irene vorschlagen wollen, hier nicht mehr zu laufen, ohne einen Grund zu finden, der stichhaltig gewesen wäre. So war er jetzt halb froh und halb beschämt, wie Irene ihren Wunsch aussprach. – Die Männer sehen dich an und die Mädchen mich! meinte er scherzhaft, aber wenn du das nicht magst, dann gehn wir eben!
Da ist wieder so ein Wesen! sagte Irene, als sie auf der Bank saßen und sich die Schlittschuhe abschnallten; – die starrt nun schon die ganze Zeit nach dir. – Die kenne ich aber wirklich nicht! sagte Enzio erleichtert und voller Überzeugung, indem er zu ihr hinblickte. Da fing aber das Wesen an zu nicken und zu lächeln, wobei es seine Nase etwas krauszog. – Herr Gott, das ist Pimpernell! Warte, Irene, ich bin gleich wieder da.
Sie war es wirklich. – Sie kennen mich wohl gar nicht mehr? fragte sie, indem sie mit etwas gemachter Damenhaftigkeit die Hand nahm, die er ihr entgegenstreckte. – Nein, ich habe dich nicht wiedererkannt! – Sie haben sich auch verändert! – Pimpernell, nenne mich doch nicht sie! was machst du denn immer? ach so, ich weiß es ja, du machst Puppen! – Ja, ich arbeite in einem Atelier für Gliedergestalten, oder Puppen, wenn du willst. Jeder muß das Talent, das er besitzt, in sich ausbilden. Mir hat die Natur schon früh den Weg gewiesen. Erinnerst du dich noch unserer Spiele? Sie waren kindisch, aber es steckte doch schon ein tieferer Sinn darin. Ich arbeite ganz für die Kinderseele. – Sag schnell, wie du das meinst, denn ich muß fort, meine Freundin wartet. – Pimpernell schüttelte den Kopf, indem sie flüchtig zu Irene hinübersah. – »Enzio, sagte sie, du bist stehn geblieben; mich hat das Leben weiter gebracht; über die Grenzen früherer Jugendbekanntschaften hinaus. Das alles liegt hinter mir. Ach, das Leben ist groß und herrlich! – was hast du denn alles erlebt? – O – ich weiß nicht; es kommt auch nicht darauf an, was man äußerlich erlebt, das ist ganz Nebensache. Ich habe viel gelesen 1n meinen Mußestunden; ich bin ein ganz freier Mensch geworden. – Leb wohl, sagte Enzio; sehe ich dich wieder? Er hielt ihre Hand gefaßt. Plötzlich fügte er hinzu: Ich habe so oft an dich gedacht. – Wirklich? fragte sie und wurde etwas rot. – Wann kommst du? – Sie verabredeten sich auf den nächsten Tag.
Als sie kam, gab er ihr vor allem erst einmal einen Kuß. – Du bist so niedlich! sagte er: Sei doch wieder so kameradschaftlich und nett zu mir wie früher! Wir waren doch immer die besten Freunde! – Pimpernell taute langsam auf, sie wurde zutraulich und begann zu klagen: Alle hätten sie verlassen, zu ihren Eltern stehe sie nicht mehr so wie früher, sie habe keinen wirklichen Freund, nun hätte sie Enzio grade wiedergesehn, und diese Freude wäre auch bald vorbei, sowie er abreise. – Komm doch mit und such dir eine Stellung dort, wo ich studiere! sagte er leichthin, bereute diese Worte jedoch, als sie sogleich auf diesen Gedanken einging, und sprang schnell auf einen andern Gesprächsstoff über. Aber als sie ihm Adieu sagte, konnte er nicht anders als sie wieder küssen. – Er mag mich noch! dachte Pimpernell. Dann sprach sie: Ich komme heute nachmittag wieder aufs Eis!
Sie kommt heute wieder zum Schlittschuhlaufen, Irene! Was machen wir denn da? Ich will mit dir zusammen sein! – Ich war heut morgen unten auf dem Fluß! sagte Irene; das Eis ist fest und gut. – Bist du gelaufen? – Allein mochte ich nicht; komm! wir wollen aber ums Atelier« Haus herumgehn, damit uns niemand vom Fenster aus sieht. Meine Mutter würde es vielleicht nicht wollen, daß ich laufe. – Die ist doch nicht ängstlich, im Gegenteil! – Für sich selbst nicht, für mich aber desto mehr.
Sie wanderten durch den Garten und schnallten sich unten die Schlittschuhe an. Irene ging als erste bis in die Mitte des Flusses, ohne jede Furcht, genau als sei sie auf dem festen Lande. – Sei vorsichtig! sagte Enzio ängstlich, laß mich vorangehn! – Sie lachte: Hast du etwa auch Angst? – Für mich nicht, du darfst nicht allein vorauslaufen, warte! – Irene hielt an und sah sich um. was sind die Menschen gräßlich, sagte sie, ich habe noch ganz andere Sachen gemacht als dies hier, dies ist ja gar nichts! – Was, fragte Enzio, der sie eingeholt hatte. – Habe ich dir die Geschichte mit der Windmühle einmal erzählt? – Nein. – Da waren wir auf dem Lande, wie ich klein war; oben auf dem Hügel stand eine Mühle. Ihre Flügel sausten nur so durch die Luft! wenn einer hochschwang, rannte ich hindurch, ehe mich der zweite treffen konnte. – Da kannst du aber von Glück sagen, daß er dich nicht gefaßt hat! – Denkst du, das hätte ich nur einmal gemacht? O, so oft, immerzu; und jedesmal schauerte es so herrlich durch meinen Körper! – Lauf nicht so schnell, Irene, das Eis knackt an den Ufern, hörst du es nicht? – Laß es doch knacken! rief sie fröhlich.
Der Fluß machte eine Wendung, sie liefen unter einer Brücke durch; oben standen Menschen, die erstaunt herabsahn. – Schnell, schnell, sagte Irene, sonst kommt womöglich noch ein Polizist herunter! Sie flogen unter dem hohlen Bogen durch, von dem Gewölbe zitterte leise der Widerhall des surrenden Geräusches ihrer Stahlschuhe nieder. Als der Fluß abermals eine Wendung machte und die Brücke nicht mehr sichtbar war, liefen sie langsamer.
– Mein linker Schlittschuh löst sich! sagte Irene. Sie kamen an jenen Baum, der seine Aste weithin über den Fluß sandte, unter denen sie vor Jahren sich zum ersten Male mit Namen genannt hatten.
– Weißt du es noch, Irene? fragte er, wie sie sich jetzt auf einem der Äste niederließ und er an ihrem Fuß beschäftigt war. – Ja! meinte sie gleichmütig, dann fragte sie: sitzt er jetzt gut? – Enzio richtete sich wieder auf, sie liefen eine Weile schweigend weiter, er faßte wieder ihre Hände.
Und dann das Dach auf unserm Hause! sagte sie nach einer Weile. Er wußte nicht gleich, was sie meine. Sie war wieder bei ihrer Erinnerung toller Kinderstreiche. Wie war das? fragte er. – Es ist doch platt! Ich kletterte die Stufen hinauf und ging bis an den Rand, sogar noch weiter: ich stand beinah nur noch mit den Hacken auf dem Boden, und die Füße ragten in die Luft. Dann beugte ich mich nach vorn, ins Leere. – Hast du das auch oft getan? – Nicht selten und nicht oft, sagte sie nachdenklich, aber viel weniger als das mit der Windmühle. – Das hast du mir ja alles nie erzählt! – Es weiß auch niemand, und es ist dumm von mir, daß ich es dir jetzt erzähle, es hat doch gar keinen Sinn, so was zu sagen. – weißt du noch etwas Ähnliches? Sie dachte nach, dann lachte sie. – Ich bin manchmal von dem Steinsims am Parterrefenster über die Lanzen von dem Eisengitter weggesprungen, aber da mußte ich in der Luft meine Kleider immer festhalten, weil ich die Vorstellung hatte, sie blieben sonst hängen. Sie sind aber niemals hängen geblieben. – Das ist ja unerhört! sagte Enzio, weniger berührt durch diese tollkühnen Dinge selbst, als durch den sachlichen Ton, mit dem Irene sie erzählte. Nach einer Weile meinte er: das hätte ich nie von dir gedacht! – Weil ich es nie gesagt habe? o, ich sage das meiste nie! – Tust du auch jetzt manchmal noch so etwas? – Nein, aber Angst kenne ich darum doch nicht! Diese letzten Worte richteten ihrer beider Aufmerksamkeit unwillkürlich wieder auf das Eis. Sie waren noch unter mehreren andern Brücken durchgelaufen, die Villen waren hinter ihnen geblieben, sie befanden sich außerhalb der Stadt. Links und rechts vom Ufer lagen Wiesen. Die wenigen Spuren einiger verwegener Menschen, die vor ihnen schon das Eis versucht hatten, hörten auf, es nahm eine andere Farbe an, als sei es Glas. – wir können nicht weiter! sagte Enzio, sieh, dort wird es ganz dünn! Statt einer Antwort löste sich Irene von ihm, sauste eine Strecke allein, während er ihr erschreckt nachrief, und stand dann auf der spiegelblanken Fläche mit einer Wendung still, indem sie ihn ansah, als wolle sie sagen: Siehst du wohl! – Es ist nicht um mich, es ist um deinetwillen, komm, laß uns umdrehn, ich habe Angst, es fängt auch an zu schneien! – Um so schöner, jetzt wird's erst lustig! – Es war, als käme Irene wie in einen Rausch, der sie jede Gefahr vergessen ließ. – Nein, rief Enzio, ich bitte dich, komm zurück! – Ich will aber nicht! Du bist ein Hasenfuß! Sie setzte sich schon wieder in Bewegung, er mußte ihr folgen. – Ich flehe dich an, Irene, lauf nicht weiter! sagte er nach einer Weile und blieb stehn. Sie selbst schoß noch ein kleines Stückchen vorwärts, dann hielt sie ebenfalls: was machst du denn für ein Gesicht?! – Ich gehe nicht weiter! – Wie siehst du denn aus? – Ich weiß nicht, mir wird auf einmal so entsetzlich unheimlich!– –Der Ton seiner Stimme war so besonders, daß sie ihn erschrocken ansah. Im selben Augenblick knirschte und zwitscherte etwas. – Was machst du denn?? rief sie und starrte ihn entsetzt an. Er griff in die Luft und wankte, der Boden unter ihm senkte sich und splitterte, er wollte einen Schritt nach vorne tun, es war, als solle er einen Berg hinauf, seine Füße rutschten ab, etwas Eisiges kroch schnell an seinem Körper empor, und dann sah Irene nur noch seinen Kopf und seine Finger, die zuckten und sich ballten und wieder öffneten und verzweifelt Halt zu gewinnen suchten. Das Eis schwamm in seinem ganzen nächsten Umkreis als Schollen auf dem Wasser. Er suchte die festere Decke zu gewinnen, seine Arme kamen zum Vorschein, er bemühte sich Stützpunkts zu finden, bis zur Brust arbeitete er sich empor; dann gab die Fläche wieder nach, ein neues Stück brach los, Irene löste sich aus ihrer Erstarrung. – Ich helfe dir, warte, schrie sie und kam näher. Enzio hatte im Nu seine ganze Geistesgegenwart wieder. Das tust du nicht! schrie er zurück, geh hinauf ans Land! das Eis ist viel zu schwach, wenn du da lange stehst, versinkst du auch! – Ich lege mich platt auf den Boden und ziehe dich heraus! – Hörst du mich nicht! schrie er zornig, verzweifelt, – ich will, du sollst ans Ufer, ich befehle es dir! Hörst du, ich befehle!! – Nein, sagte sie tonlos, wenn ich dir nicht helfen kann, dann sterbe ich mit! – Er hatte inzwischen eine Art von Halt gewonnen, die eigne Todesangst ließ für einen Augenblick nach, sein einziger Gedanke war jetzt Irene. Sie mußte gerettet werden. Und mitten in seiner entsetzlichen Lage zwang er sich zu einem Lachen. – Es ist ja nicht so schlimm, stieß er hervor, nur du, du selbst machst alles noch viel schlimmer! Ich kann da nie hinauf, solange du so dicht stehst, das Eis bricht ab, ich fühle es, ich kann nicht an dich und mich zugleich denken, ich habe mehr Sicherheit und Kraft, wenn du am Land bist! – Diese letzten Worte wirkten. Sie verließ die Stelle, aber im Moment, wo Enzio nun aufs neue versuchte, sich emporzuarbeiten, gab das Eis wieder nach, es brach und senkte sich unter dem Gewicht seines Körpers, eine Scholle löste sich und verschwand unter ihm wie der versinkende Rücken eines großen Fisches. Erst kniete er für einen Moment auf ihr, dann kroch er vorwärts und endlich stieß er sie mit dem Fuß zurück, um sich nach vorn zu schnellen und Halt an einem neuen Stücke zu gewinnen; das Wasser wühlte hinterdrein.
Irene war inzwischen an das Ufer gelangt; ihre Finger zitterten, aber sie vermochte die Schlittschuhe zu lösen. – Ich hole Hilfe! rief sie – und dann war Enzio allein.
Wieder machte er verzweifelte Versuche sich emporzuheben, immer wieder, bis er fühlte, daß seine Kräfte sanken.
wenn ich hier wirklich ertrinken sollte... dachte er. Dann lag er eine ganze Weile still. – Ich müßte versuchen, das Eis bis zum Ufer hin abzubrechen, das ist der einzige weg, der für mich Aussicht hat. Er bemühte sich vergebens, er erschöpfte seine letzten Kräfte, seine Muskeln hatten keine Kraft mehr; und nun hatte er nur noch den einen Gedanken: Hoffentlich halte ich mich solange fest, bis Hilfe kommt. –
Aber es kam niemand. Eine lange Zeit verging.
Merkwürdig, dachte er, mir ist, als würde mein Körper von unten herauf allmählich warm, wie ist das möglich? – Er empfand keine Schmerzen, nur die Finger waren, als zögen sich enge Drähte immer schneidender um sie. Der Schnee fiel stärker, aber im Norden, wohin sein Gesicht gekehrt war, lag ein gelber, klarer, tiefer Himmel. Dort hinein sah er, und ihm war, als zöge er selbst durch dieses durchsichtige Nichts, immer weiter, nach Norden zu, bis hoch hinauf ans Meer. –
Die Mühle, dachte Enzio. Ob sie wohl auch ganz stille steht? Weshalb läuft Irene unter der Mühle durch? Wir sind doch nie an einer Mühle vorbeigekommen, wir sind andere Wege gegangen, draußen, auf den Feldern, wo ist die Mühle denn, ich sehe sie nicht ... Seine Augen starrten glasig in die Weite, er erkannte halb wieder, wo er war. Noch einmal versuchte er eine Bewegung zu machen, dann blieb sein Körper stumm. Er fühlte, wie auch die Finger ihre Kraft verloren, warum kam Irene nicht zurück? Hatte sie ihn ganz vergessen? War sie zu Haus und modellierte? Du kannst ja gar nicht modellieren, flüsterte er – – aber der Ring mit dem roten Stein – wo ist der Ring mit dem roten Stein? – Hier ist er! sagte Bienle. – Wo? ich sehe ihn nicht. – Hier ist er! sagte Bienle lauter – das klang ja gar nicht wie ihre Stimme – – Hier! Hier! rief es von neuem, rauh und tief – und statt ihrer sah er undeutlich drei Männer, und einen Wagen. Sie eilten herab zum Fluß, eine Schlange flog durch die Luft und traf ihn hart an der Stirn. – Packen Sie zu! Wir ziehn Sie aufs Land! Packen Sie doch zu! Zum Donnerwetter hören Sie denn nicht! Zupacken sollen Sie!! – Enzio! Enzio! rief eine ferne Stimme.
Enzio hob die Arme nach dem Ding da vorn, er begriff halb, was er sollte, er wollte es umklammern – – Eiseskälte stieg an seinem Kopf empor, und dann schwebte er in einem rosenroten Meer und alle Glocken läuteten. Es war die Schulglocke. – Ein schöner Blumenstrauß! Hast du den wirklich für mich bestimmt? fragte sein Lehrer. – Rosen, Rosen, murmelte Enzio und kletterte über die Hecke zu Irenens Garten. Niemals schlägt die Nachtigall bei Sonnenaufgang, Bienle, sieh, sieh, wie alles rot wird von der Sonne! Wie sie flutet! Jetzt, jetzt geht die Sonne auf.
Irenes Eltern kamen in der Dämmerung von einem Spaziergang heim; im Korridor, im Stiegenhause waren nasse Spuren. Blaß trat ihnen Irene entgegen: Er liegt oben, im ersten Stock, in meinem Zimmer, er hat das Bewußtsein noch nicht wieder, aber man hat ihn zum Atmen gebracht, endlich hat er geatmet, nachdem er da draußen ... ihr Vater fing sie auf. – Es kann nur Enzio sein, sagte er zu seiner Frau, geh hinauf, sieh nach! – Sieh du nach, laß mich bei Irene bleiben. Er eilte die Treppe empor und warf einen Blick ins Zimmer. In Irenes Bett lag Enzio, wie ein Toter, starr und blaß, mit geschlossenen Augen. Er trat zu ihm heran und befühlte das Herz. – Irene hatte ihre Schwäche schnell überwunden. – Hast du seine Eltern benachrichtigt? fragte der Professor. Sie hob den Kopf; die fielen ihr erst jetzt ein. – Komm ins Zimmer, trink einen Schluck Wein, du hast es nötig. – Sie trank, was er ihr gab. Dann saß sie wieder mit starren Augen, und erzählte beinah tonlos alles, was sie wußte. – Ihr seid beide verrückt! sagte ihr Vater, was müßt ihr auch solch tolle Streiche machen! Und dieser Wahnsinn, ihn dann hier ins Haus zu bringen, weshalb hast du ihn nicht sofort zu seinen Eltern schaffen lassen? Irene sah ihn groß an; auf den Gedanken war sie nicht gekommen. – Ihre Mutter hatte diese ganze Zeit mit großen, sorgenschweren Augen dagesessen, jetzt erhob sie sich. Sie ging hinauf ins Zimmer, überwand ein leichtes Grauen und setzte sich zu Enzio an den Bettrand. Auch sie legte ihre Hand an sein Herz und fühlte, wie es schlug. Dann strich sie ihm leise das wirre Haar zurück, das fest und strähnig an seinem Gesichte klebte.
Es war sofort zum Arzt geschickt worden, er kam, untersuchte ihn, fand den Herzschlag schwach, ordnete einiges an und sprach die Hoffnung aus, daß Enzios gesunder Organismus den Schlag bald überwunden haben werde. Hoffentlich stelle sich kein Fieber ein, oder gar eine Lungenentzündung.
Der Professor ging zu Caecilie und erzählte ihr schonend, was vorgefallen war. Sie glaubte ihm nicht, sie fürchtete, Enzio sei tot, sie schwankte, er nahm sie in seine kräftigen Arme, streichelte sie, wie wenn er ein kleines Kind hielte und versicherte immer wieder, Enzio sei ganz lebendig. Sie wollte ihn sogleich herüberschaffen in ihre eigne Wohnung, er machte ihr klar, das sei unmöglich; aber es wäre unbegreiflich, daß Irene ihn zu sich in ihr eignes Zimmer habe bringen lassen. – Das ist nicht unbegreiflich, murmelte Caecilie, ich hätte es ebenso gemacht.
Eine halbe Stunde später stand sie an Enzios Lager. Sie wollte nicht wieder fort von ihm. Eine matte Lampe brannte neben dem Bett. Immer wieder sah sie in Todesangst auf sein stilles, geschlossenes Gesicht und küßte seine Lippen. Nach langer Zeit hoben sich langsam, lautlos seine Lider, mit einem Blicke wie aus einer andern Welt ruhten seine Augen bewußtlos in den ihren, daß es sie durchschauerte, und ehe sie ihn ganz in sich aufnehmen konnte, war er schon vorbei; die Lider hatten sich wieder geschlossen, wie Tore vor einem ungewissen Reich. Sie blieb die Nacht bei ihm. Dem Kapellmeister ward ein kurzes, beruhigendes Billett geschickt. Er fand es, wie er abends aus dem Theater kam, und legte sich zu Bett, indem er dachte: Es besteht keine Gefahr, also ist es nicht nötig, daß ich die Unruhe dort vermehre durch mein unnützes Erscheinen.
Irene hatte sich zurückgezogen, nachdem sie noch einmal in Enzios Zimmer – ihrem eignen – war. Ihre Augen waren noch immer trocken und wie erstarrt. Dann lag sie oben in der Fremdenstube, wach, die ganze Nacht durch. Alle Vorgänge des Nachmittags wiederholten sich vor ihrem Geist, immer wieder sah sie Enzio sinken, und sie allein hatte die Schuld. Sie sah ihn vor ihren Augen verschwinden, sie sah, wie das Eis sich über ihm schloß, wie die Männer es in Stücke brachen, wie einer von ihnen selbst beinah dabei ertrank, wie sie endlich den Körper fanden und triefend an das Land zogen, leblos, mit blauem Gesicht, wie sie ihn niederlegten und behandelten, als sei er eine Gliederpuppe, wie sie ihn künstliche Bewegungen machen ließen, um die Atmung wiederherzustellen. Grauenhaft war diese Nacht, in ihren Augen stand das Entsetzen, sie fanden keine Tränen. Mehrmals erhob sie sich und ging an die Tür ihres Zimmers; nichts war vernehmbar, sie zögerte, dann trat sie ein, in ihrem langen Nachtgewand, über das sie einen Mantel geworfen hatte. – Wie ist es? flüsterte sie. – Immer dasselbe; er atmet, aber er, ist noch nicht erwacht.
Gegen Morgen schlug Enzio zum zweitenmal die Augen auf; er erkannte seine Mutter und fragte leise: Wo ist Bienle? Dann sank er wieder in seine Betäubung zurück. Aber allmählich kam eine zuckende Bewegung in seinen Körper, die sich von Stunde zu Stunde steigerte. Seine Hände griffen in die Luft und wollten Halt gewinnen, abgerissene Sätze stießen seine Lippen aus, und bald lag er in hellem Fieber. Irene ward nicht mehr zu ihm gelassen. Immer von neuem kämpfte er die Todesangst durch, versank er in dem Wasser.
Tagelang lag er so, bis seine Phantasien stiller wurden. Nun redete er fortwährend von Bienle und Irene. Er verlangte das rote Buch, und rief es immer wieder. Caecilie hielt dies anfangs für wirre Phantasie, aber Irene, der sie es erzählte, wußte sogleich, was er meine: Jene in purpurrote Seide gebundene Komposition, die Enzio ihr vor Jahren schenkte. Caecilie suchte und fand sie zwischen Irenes Büchern, und gab sie ihm; er griff mit beiden Händen danach und ward sogleich still. Dann begann er eine Seite nach der andern umzublättern, als überläse er all die Noten mit großer Schnelligkeit. – Hier fehlt etwas! rief er, indem er auf das letzte leere Blatt deutete, das nur die unbeschriebenen Notenlinien enthielt. Gib mir einen Bleistift, ich muß das fertig schreiben, alles dies ist Unsinn, ich mache etwas anderes! Sie wollte ihn ablenken, aber er ward heftig und bestand darauf, so, daß sie dachte: besser, ich tue ihm seinen Willen. – Mit großer Eile schrieb er jetzt das ganze Blatt voll, dann sank er zurück und murmelte: Gott sei Dank, nun ist es richtig.