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Enzio schrieb an dem Werk weiter, das er zu Hause abgebrochen hatte. Aber, wie schon damals, fehlte seinen Einfällen auch jetzt die Frische. – Die Messe wirkt noch zu sehr nach in mir! dachte er manchmal, ganz unwillkürlich gerate ich wieder in dieselbe Sprache hinein. Jetzt muß ich eine andre Sprache finden. Er versuchte, sich nun stark in seine Arbeit zu versenken, und sah in der nächsten Zeit weder Bienle noch sonst jemand für länger.

Bienle war hierüber nicht unglücklich. Sie sah, daß Enzio arbeitete, und war keinen Moment betrübt wenn sie gleich wieder gehn mußte.

Pimpernell aber dachte: Dahinter steckt etwas anderes, was er mir und ihr verheimlicht. Ob da wohl eine Dritte ist, von der wir beide keine Ahnung haben? Diese Hast, diese Eile, mit der er mich fortschickt, ist mir höchst verdächtig! Sie beschloß, dem auf die Spur zu kommen, und wußte nicht recht: Bedeutete das, wenn es wirklich so war, eine Chance für sie, oder das Gegenteil? Sie überlegte sich das sehr sorgsam, und kam zu dem Schluß, daß es für sie günstiger sei, wenn es so wäre. Dann wartete sie halbe Stunden lang in der Nähe seines Hauses, hielt die Eingangstür im Auge und eilte die Treppen empor, wenn einmal ein Mädchen wirklich von der Straße her im Gang verschwand. Aber keine läutete an seiner Wohnung.

Ob wohl noch eine Hintertreppe da ist? dachte sie, rekognoszierte das Terrain, fand keine und ging kopfschüttelnd nach Hause.

In ihrer Ratlosigkeit und dem Wunsch, ihm nah zu bleiben, begann sie jetzt in ihrer freien Zeit Briefe an ihn zu schreiben. In ihnen legte sie ihre Ideen klar über die Ausbildung der Persönlichkeit, über den ethischen Zweck des Menschen, über die Ehe, und schließlich – selbst erschrocken über dieses Thema –: über die freie Liebe. Was sollte man da nur schreiben? Sie kaute lange an ihrem Federhalter und schrieb endlich: Die freie Liebe sei für notwendig zu erklären da, wo die Beteiligten sie aus freiem Entschlüsse eingingen. Das Weib sei auf der Welt, sich lieben zu lassen, der Mann aber zum Herrschen berufen.

Enzio las das flüchtig durch, fühlte sich durch den Schlußsatz einigermaßen sympathisch berührt und dachte: das arme Pimpernell! wenn ich Lust hätte, könnte ich sie jederzeit haben. So sprach er auch zu Bienle; sie antwortete dann nur: Ich wollte, sie wäre niemals hergekommen; worauf er sie auslachte.

Da sich Pimpernell immer mit der Frage um sich und Enzio beschäftigte und die Schwierigkeit ihrer Wünsche sich trotz aller ihrer Versuche gleichblieb, so war sie allmählich in den Zustand heftigster Zähigkeit hineingeraten.

Oft stand sie abends auf der Straße und dachte: Er wird doch einmal ausgehn! und wartete stundenlang in der Kälte. Hinaufzugehen wagte sie nicht, aus Furcht, sich irgend etwas damit zu zerstören. Schließlich dachte sie: Jetzt warte ich noch eine Viertelstunde, dann gehe ich heim. Und wie die Viertelstunde um war: Jetzt noch fünf Minuten. Und wenn die fünf Minuten um waren und sie sich zum Gehen wandte: vielleicht kommt er grade jetzt die Treppe hinunter. Und wenn so viel Zeit verflossen war, daß er längst hätte das Haustor aufschließen müssen: vielleicht hat er noch irgendeine Zeile fertig zu schreiben, nun ist er grade jetzt beim Schluß und löscht gleich die Lampe! – So ging die Zeit des Wartens endlos hin, und wenn sie sich nach langem Zögern wirklich entschloß, zu gehn, sah sie sich fortwährend um, bis sie schließlich unten an der Ecke war, lief mitunter auch zurück, wenn sie dort oben jemand gehn zu sehn glaubte, um jedesmal zu erfahren, daß es Enzio doch nicht war. Nun bin ich hier in der fremden Stadt, so klagte sie für sich, nur weil ich wußte, daß er hier ist, und weil er mir gesagt hat, ich solle kommen, und nun will er mich nicht! Warum hat er mir nicht einmal geantwortet auf meinen Brief? Enzio hat ein Herz von Stein! sonst müßte er doch fühlen, daß ich unendlich mehr wert bin als diese Freundin, die ihn doch außerdem gar nicht versteht, die keine Ahnung hat, was für eine Natur er ist, und ebenso glücklich wäre, wenn irgendein gewöhnlicher braver junger Mensch sie genommen hätte! Wie mache ich es nur, daß ich Enzio kriege! Ich habe doch nun schon soviel probiert, und nichts gelingt! – Mit Haß dachte sie an Bienle, das glücklich war, während sie so leiden mußte. Sie sah sie manchmal auf der Straße, sprach flüchtig mit ihr ein paar Worte, erst gereizt, dann übermäßig freundlich, da sie allmählich gar nicht mehr wußte, was sie tun müsse.

Eines Abends, wie sie wieder unten an seinem Hause stand und grade gehn wollte, ward das Tor geöffnet. – Er ist es ja doch nicht! dachte sie, obgleich der Mensch, der da herauskam, ihm ähnlich war. Aber sie war zu oft enttäuscht worden, um noch zu hoffen. Und doch lag in ihren resignierten Worten ein Keim der Hoffnung; es war wie eine Bitte ans Schicksal, das man günstiger zu stimmen denkt, wenn man sich von vornherein ergeben zeigt.

Es war Enzio wirklich. Er war in einer vollkommenen Depression. Den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend hatte er gearbeitet, es war ihm nicht gelungen, die Gedanken, wie er sie innerlich fühlte, an das Licht zu schaffen. Es bleibt mir nur übrig, mir das Leben zu nehmen! hatte er gejammert, das Leben hat keinen Zweck mehr für mich, wenn ich ein Stümper bin!

Jetzt schritt er in die klare Luft hinaus, um sich etwas zu sammeln und zu erholen.

Enzio! sagte eine leise Stimme hinter ihm. Er wandte sich rasch um; ein Gefühl der Enttäuschung war in ihm, als er Pimpernell erkannte. – Was tust du denn hier noch? – Nichts; ich habe nur gewartet. – Mein Gott, rief er, hast du mich denn so lieb? – Ihre ganzen künstlich aufgebauten Pläne brachen zusammen unter dieser kleinen Frage, sie antwortete nicht, sie begann zu schluchzen. – Ich bin auch unglücklich! sagte er und nahm sie in die Arme. Sie sank an seine Brust und umschlang ihn fest. Er tröstete und küßte sie ganz mechanisch, sie erwiderte diese Küsse zum erstenmal mit aller Kraft, sein Blut begann plötzlich zu wallen, er fühlte nur ihren lebenswarmen, jungen Körper, der sich nach seinem sehnte, der ihn schon immer gereizt hatte, ohne daß er es sich selber eingestehen wollte, enger schmiegten sie sich aneinander, alle Gedanken verließen ihn, und halb ohne Bewußtsein flüsterte er: Komm.



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