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Am nächsten Morgen, zu ziemlich später Stunde, saß er allein auf seinem Sofa und dachte darüber nach, wie dieses alles so plötzlich gekommen war. – Ich war halb wahnsinnig, ich muß halb wahnsinnig gewesen sein, denn jetzt ist es mir unbegreiflich; es riß mich mit fort, ohne Überlegung. Wäre ich doch nicht aus dem Haus gegangen! Dann wäre es nicht geschehn!

Was sollte er nun tun? Er mußte seine Freundschaft mit Pimpernell abbrechen; einen andern Ausweg schien es nicht zu geben. Aber wie sollte er das machen? Sollte er ihr sagen, er habe sich durch ihre Empfindung mitreißen lassen? Dies war noch das Glimpflichste.

Heute, am späten Nachmittag, wollte sie wiederkommen; er hatte nicht den Mut gehabt, darauf zu antworten; aus schuldbewußtem Zartgefühl und aus Feigheit war er beim Abschied so liebevoll und warm gewesen, daß sie sagte: Ach, Enzio, endlich hat uns das Geschick zusammengebracht!

Ein andrer Gedanke schoß ihm durch den Kopf: wenn er nun gar nichts sagte, auch zu Bienle nicht, und alles gehen ließ, wie es ging? – Das wäre, dachte er, die allererste wirkliche Gemeinheit.

Pimpernell kam, ahnungslos und glücklich. Über Erwarten war sie um einen Riesenschritt ihrem Ziel näher gekommen; sie hätte diesen neuen Zwischenzustand zwar lieber nicht gesehn, aber er mußte rasch überwunden werden.

Enzio war schweigsam. – An was denkst du? fragte sie und suchte ihn an sich zu ziehn. – An meine Freundin. – Ach, Enzio, denk doch nicht an sie. – Nach einer Weile fuhr sie fort: wollen wir noch vor Ostern oder gleich nach Ostern unsere Verlobungsanzeigen verschicken? Ich glaube, grade zu Ostern wäre vielleicht das beste. Osterglück ist doch noch besser als gewöhnliches. – Enzio lief alles Blut zu Herzen. Denkst du denn, daß wir uns heiraten?! – Ja aber selbstverständlich, ich bin doch ein ehrenhaftes Mädchen, das solch einen Schritt nicht tut, wenn er nicht zur Ehe führt! Und du bist der Sohn aus einer ehrenwerten Familie. – Und meine Freundin? – Die hättest du über kurz oder lang doch verlassen! Sie wird sich bald mit jemand anders trösten! Ich kenne solche Mädchen! Die gehn ganz auf in einer Liebe, aber es wird ihnen dann auch nicht schwer, sie zu wechseln, wenn es sein muß. Sie wird ein paar Tage weinen, das ist alles. Und im Grund mußt du doch zugeben: Irgend etwas in ihrem Wesen ist vulgär und paßt nicht zu dem deinen! Du sagst das ja auch gar nicht im Ernst. – Ein Jähzorn wollte in Enzio aufkochen; aber er beherrschte sich. – So! sagte er; glaubst du, ich werde den Verkehr mit ihr nun aufgeben? – Das mußt du jetzt, denn ich verlange es! – Er machte eine Bewegung, als wenn er ein Netz von sich abschütteln wolle, dessen Maschen er fühle, und rief: Das wäre eine üble Belohnung für alles Gute, was sie an mir getan hat, und dann vergißt du eines: Daß ich sie liebe und nie aufgehört habe sie zu lieben! – Das ist es ja: das darfst du von jetzt an nicht mehr! Ich werde nun sofort unsere Verlobungsanzeigen drucken lassen. – Glaubst du denn im Ernst, wir würden uns heiraten? Ich denke nicht daran, das verspreche ich dir hiermit auf Ehrenwort! – Pimpernell sah wie versteint aus. Aber sie gab noch nicht alle Hoffnung auf: wenn du nicht willst, so sage ich alles meinem Vater! Du weißt: er ist Schuldirektor. Im Point d'honneur ist nicht mit ihm zu spaßen! Mit der Tochter eines Schuldirektors macht man so was nicht, wenn man es nicht ernsthaft tut! Ich sage dir: er fordert dich auf Revolver und aufs Schwert. – Tu, was du willst, aber ich tue auch, was ich will. Ich fühlte mich schuldig gegen dich, aber wenn du gleich so kommst, dann komme ich auch anders! Ich habe mich hinreißen lassen, das war schlecht und abscheulich von mir, und ich wollte, ich wüßte etwas, wie ich es wieder gut machen kann. Aber geheiratet wird nicht! Ich fühle, daß wir nun nicht mehr miteinander verkehren können, ich bitte dich hiermit um Verzeihung, und du wirst es selbst einsehn, daß es besser ist, wenn wir uns künftig vermeiden. – Also hinausgeworfen! rief Pimpernell. Dann sprudelte sie sinnlose Worte vor, ihr ganzer Haß entlud sich gegen Bienle. Schließlich rief sie: Du bist verblendet, Enzio, du hast dich einfangen lassen von einem ganz gewöhnlichen Geschöpf, das dich mit dem Erstbesten betrügen wird! Sieh doch nur ihr Gesicht an! Darin steht deutlich geschrieben, was sie wirklich ist! – Schweig! rief er; wie kannst du es wagen, meine Freundin anzutasten! – Ich weiß doch, was ich weiß! – Dann sprich es gefälligst aus! Bitte, ich warte! – Er sagte dies in einem Ton, der sie maßlos erbitterte; er redete die Sprache des vollen, unangreifbaren Glücks, und auf der andern Seite stand sie selbst mit ihrem Unglück, mit ihrer niedergetretenen Ohnmacht. – Ich sage nichts mehr! – weil du nichts zu sagen weißt! Ich aber sage dir: sie ist hundertmal mehr wert als du, denn sie verleumdet ihre Nebenmenschen nicht. – Bravo! vorzüglich repliziert! »Ich aber sage dir«: du wirst noch an mich denken!

Ohne ein weiteres Wort eilte sie hinaus. – Was tut sie nun? dachte Enzio, halb voll Mitleid, halb in Angst und Selbstvorwürfen. Ob sie jetzt zum Bienle ging und ihr alles sagte? Dem mußte er zuvorkommen. Er eilte sofort zu Bienles Haus, holte sie ab zu einem Spaziergang und erzählte ihr alles. Ihr Herz krampfte sich zusammen: Ich dachte mir immer, daß irgend etwas geschehn würde! sprach sie nur. – Weshalb hast du mir das denn nie gesagt? – Sie sah ihn an: Muß man denn immer alles sagen? Du hättest es wohl merken können. – Was tust du nun? fragte sie nach einer Pause. – Nichts! Unsere Freundschaft ist zu Ende. Sie wird nicht mehr zu' mir kommen. – Bienle schwieg, aber in ihr war eine unbestimmte Angst.


Kurz darauf stand in der Zeitung eine Notiz, der zufolge ein junges Mädchen den Versuch gemacht hatte, aus Eifersucht einem andern jungen Mädchen eine Büchse mit einer ätzenden Flüssigkeit ins Gesicht zu gießen, zur Zeit der Abenddämmerung. Der Name des Opfers, das durch einen glücklichen Zufall mit heiler Haut davongekommen, sei bekannt, dagegen habe es nicht gelingen wollen, den Namen der Täterin ausfindig zu machen, zumal die Bedrohte keine Ahnung habe, wer jenen Racheakt verübte.

Enzio erfuhr das Geschehene eine Stunde nach der Tat.

Zunächst konnte Bienle kaum sprechen, dann sank sie weinend in das Sofa. Und ehe sie endlich erzählte, ehe er noch eine Ahnung hatte, worum es sich handele, mußte er ihr auf sein heiliges Wort versprechen, nichts zu unternehmen, wenn er alles wisse. Dann erzählte sie es:

Ich sah sie auf mich zukommen, ich erwartete mir gleich nichts Gutes, denn ihr Gesicht sah so verändert aus! Ich sah auch, daß sie etwas in der Hand trug, und dann hat sie den Arm gehoben und hat zugeschüttet, ich duckte mich ganz blitzschnell drunter weg, und so hat's mir bloß den Mantel ruiniert und ich habe nur einen kleinen Fleck am Halse abbekommen, sonst nichts, gar nichts. Im Augenblick war sie davon; eins, zwei, drei hab ich den Mantel von mir gerissen, und dann sind Leute gekommen, erst nur ein paar, schließlich eine Menge, und endlich auch ein Polizist, der hat mich verhört und meinen Namen aufgeschrieben.

Enzio war außer sich. Er wollte sofort zur Polizei. Bienle erinnerte an sein Versprechen, und als das nichts half und sie immer wieder vergeblich flehte, rief sie: Wenn du es tust, dann ist alles aus zwischen uns, dann kann ich dich nie wiedersehn! – Und ich? Ich soll in steter Angst leben, daß sie ihren Versuch noch einmal wiederholt? – Ich nehm' mich schon in acht, ein andermal, und laß sie gar nicht an mich herankommen! Sie wird's wohl auch nicht wiederholen! Aber jetzt, wenn du sie anzeigtest, dann käme es zu einer Gerichtsverhandlung, und denk doch, was da alles öffentlich besprochen würde! Du würdest vorgeladen, ich würde vorgeladen, und ich würde sterben, wenn man mich fragte über dich und mich!

Enzio schwieg. – Und dann – fuhr Bienle fort: Das Mädchen hat doch nicht so sehr viel Schuld! Du hast's in die Verzweiflung gebracht, daß es nimmer anders hat können! – Enzio kehrte den Blick fort: Ich gehe morgen hin zu ihr, irgend etwas muß geschehn!

Wie er so redete, läutete es draußen. Dann hörte man eine erregte Stimme, die Enzios Namen nannte. Er öffnete schnell die Tür zu seinem Schlafzimmer, ließ Bienle leise eintreten und schloß sie wieder.

Gleich darauf klopfte es hastig, und ehe er noch Herein gerufen hatte, stand Pimpernell schon auf der Schwelle, schloß die Tür und ging starr auf ihn zu. – Er fuhr ein einziges Mal nervös mit der Hand durch sein dichtes, blondes Haar, so daß die Stirne hell hervortrat, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich gegen den Flügel zurück.

Nun? war alles, was er fragte, mit großen, stechenden Augen.

Sie hielt den Blick unausgesetzt auf ihn geheftet, ihr Atem ging immer schwerer, ihre Brust hob und senkte sich wie keuchend. – Enzio. Mehr brachte sie nicht heraus. – – – – Ich habe dir etwas Furchtbares zu sagen, rang es sich von Neuem von ihren Lippen los, und ihr Blick klammerte sich auf sein Gesicht: Ich habe etwas Entsetzliches getan! Ich habe deine Freundin zugrunde gerichtet!

Enzio wußte es besser; aber dieses Wort, das alles aussprach, so wie es hätte werden können, traf ihn so stark, daß sein Gesicht einen ganz andern Ausdruck annahm; so, wie wenn er sich im nächsten Moment auf sie stürzen würde, um sie zu erwürgen, voll Todesangst starrte sie ihn an; aber er machte keine Bewegung weiter, ja, der Ausdruck seiner Augen ging ganz langsam in Mitleid über. Bienles Worte tönten ihm in den Ohren: Du hast sie in die Verzweiflung gebracht, daß sie nimmer anders hat können.

Sie bemerkte halb unbewußt diese Wandlung auf seinem Gesicht, und ihr eignes Unglück, die unvermeidlichen Folgen ihrer Tat erschienen ihr so ungeheuer, so über alle Maßen furchtbar, daß sie sich nicht klar darüber ward, in Enzio müßten ganz andre Gefühle die Oberhand behalten.

Nun bleibt mir nichts übrig, als mir das Leben zu nehmen! noch heute Nacht! Denn morgen, morgen früh kommt die Polizei und holt mich! O Gott, ich war ja wahnsinnig, ich war verrückt, ich war nicht mehr bei Sinnen!

Enzio sah unwillkürlich zur Tür des Schlafzimmers. Es war, als müsse Bienles Stimme jetzt die Worte sprechen: Sag ihr, wie alles wirklich ist, befreie sie doch von ihrer Angst! Aber es blieb still dort drinnen, und er dachte: Ich werde diese Worte auch noch zu ihr sprechen; – er setzte fast schon dazu an, verstummte aber wieder und sah auf Pimpernell: Diese Rache wollte er sich wenigstens gönnen, sie noch ein paar Augenblicke in ihrer Verzweiflung zu sehn. Und diese Augenblicke waren konzentriert genug.

Sie hatte sich auf das Sofa geworfen und den Kopf in die Kissen gegraben, wie ein verfolgtes Tier, das nichts sehn will. Immer neue Stöße von Angst erschütterten ihren Körper.

Da übermannte ihn das Mitleid. Er trat zu ihr hin und sagte: Es ist ja nicht so schlimm: es ist alles besser abgelaufen, als du denkst. – Sie richtete sich mit einem Ruck empor und starrte ihm in die Augen, als habe sie seine Stimme aus der Höhe herab gehört, wie die eines Engels. – Ich habe sie gesehn, sprach Enzio; sie war vorhin bei mir; ihr Gesicht ist unentstellt. Nur am Halse, sagte sie, habe sie eine kleine Wunde; ihren Mantel – den hast du ihr freilich ein für allemal verdorben. – Sie war bei dir? Du hast sie gesehn? Und du erschlägst mich nicht!? Ihr Gesicht ist gerettet? O, dann ist alles gut! Dann kommt der Polizeidiener vielleicht doch nicht! Das arme Kind! Sie hatte ja keine Schuld, ich hatte nur einen so furchtbaren Haß auf sie. Aber sie hat mich wahrscheinlich schon angezeigt und der Polizeidiener kommt doch!

Was du nur immer mit deinem Polizeidiener hast! sagte Enzio, halb voll Mitleid und halb voll Abneigung: Niemand kommt und holt dich; niemand zeigt dich an! Sie ist bereits verhört worden und hat ausgesagt, sie habe nicht die geringste Ahnung, wer ihr das angetan haben könnte, sie glaube, es handle sich um eine Verwechslung, es sei eine ganz andre gemeint gewesen.

Jetzt geriet Pimpernell in eine Extase von Dankbarkeit. Eine solche Großmut faßte sie zunächst gar nicht. Dann aber sagte sie mit plötzlichem Entschluß: So werde ich mich selber dem Gerichte stellen! Jetzt fühle ich den Mut dazu! Meine Tat muß Sühne finden! Wenn sie auch nicht vollendet wurde: ich bin trotzdem eine Mörderin! – Enzio runzelte die Stirn: Laß doch die Phrasen, die haben keinen Sinn. – Dann will ich ihr wenigstens den Mantel ersetzen, weißt du, was er gekostet hat? – Es schwebte ihm auf den Lippen, zu sagen: Das einzige, was du tun kannst, ist, daß du dich ein für allemal zurückziehst. Aber diese Worte erschienen ihm nicht klug, nur grausam und geeignet, ihre bittern Empfindungen wieder in ihr aufzuwecken. Nach allem, was vorgefallen, erschien es außerdem selbstverständlich, daß sie sich nicht mehr sahn. – Du tust nichts, gar nichts, sagte er. Besuch sie nicht, du kannst es ihr nicht verdenken, wenn sie deinen Besuch nicht annähme. – Und ist ihr wirklich nichts, gar nichts geschehn? – Nichts, als was ich dir schon gesagt habe. – Erzähl es mir noch einmal, genau! – Und wie sie, nun ruhiger geworden, dasaß und auf seine Worte hörte, wo diese wahnsinnige Angst vor der Polizei von ihr genommen war, die noch viel größer war als all ihr vergangner Haß, dachte sie jetzt, von ihrer wieder gesicherten Position aus: Etwas hätte sie doch wohl wenigstens abbekommen können! Ich habe alles wahnsinnig dumm gemacht! – Aber sie ertötete diesen Gedanken gleich. Dann ging sie. Zum zweiten Male trat sie aus Enzios Leben zurück. Er begleitete sie hinaus.

Als er wieder ins Zimmer kam, stand Bienle darinnen, den Blick zu Boden geheftet. Er trat stumm auf sie zu.

Zeig mir die Stelle, wo ist sie, ich will sie sehn! – Hier, antwortete sie, hob den Kopf ein wenig und deutete auf ihren Hals. Da war ein tropfengroßer, feuerroter, wunder Fleck. Sie schwiegen; sie sah ihm in die Augen. Er blickte in ihr liebliches, blühendes Gesicht, das rein und unverletzt geblieben war, und aufschluchzend sank er an ihr nieder.



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