Victor Hugo
Notre Dame
Victor Hugo

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VIII.

Wie Peter Gringoire zur Nachtzeit einem schönen Mädchen nachstrich, und wie es ihm übel erging

Peter Gringoire hatte gesehen, daß das schöne Zigeunermädchen mit ihrer Ziege in die Messerschmiedstraße einlenkte; er nahm denselben Weg.

Und warum denn nicht? sprach er zu sich selbst.

Peter Gringoire, der alle Gassen von Paris mit seinen langen Füßen gemessen hatte, war zu der sublimen Entdeckung gelangt, daß nichts poetischer sei, als einem schönen Mädchen auf dem Fuße zu folgen, ohne daß man weiß, wohin sie geht. Es lag, wie er behauptete, in dieser freiwilligen Verzichtleistung auf den eigenen Willen, in dieser Phantasie, welche sich einer anderen Phantasie unterordnet, eine Mischung phantastischer Unabhängigkeit und blinden Gehorsams, ein Mittelding zwischen Sklaverei und Freiheit, das unserem Dichter, der sich gerne in der Mitte der Dinge hielt, wohl gefiel. Schade, daß Peter Gringoire todt ist, wie schön könnte er nicht, wenn er noch lebte, die richtige Mitte zwischen Klassikern und Romantikern halten!

Unser guter Dichter, der ohnedies nicht wußte, wo er die Nacht zubringen sollte, folgte der schönen Zigeunerin, welche flüchtig einherschritt und ihre Ziege an der Hand mit sich führte, auf dem Fuße. Als dieser Wettlauf, denn Peter Gringoire folgte ihr eben so rasch, ohne sie je zu erreichen, kein Ende nehmen wollte und Straße auf, Straße ab führte, wurde unser Dichter nachdenklich und sprach für sich: Nun, irgendwo muß sie doch wohnen! Diese Zigeunermädchen sind gutmüthig . . . wer weiß!

An dieses »wer weiß!« schienen sich allerhand angenehme Ideen zu knüpfen; denn, trotz Hunger und Durst, verklärte sich das Gesicht des Poeten durch ein freundliches, bedeutungsvolles Lächeln.

Die Hausbewohner schlossen ihre Thüren und löschten ihre Lichter. Die Straßen wurden allmählig finsterer und einsamer. Nur selten noch fand man einen verspäteten Nachtwanderer, oder sah an irgend einem Fenster noch ein Lichtlein brennen. Die Zigeunerin und ihre Ziege schritten rüstig vorwärts; Peter Gringoire folgte ihnen immer gleich rasch auf dem Fuße. Jetzt hatten sie sich in das Labyrinth der unzähligen Gassen und Winkel der Altstadt verirrt. Das Zigeunermädchen schien den Weg genau zu kennen, denn sie schritt immer eilig vorwärts, ohne einen Augenblick anzuhalten.

Seit Kurzem erst schien sie den Mann bemerkt zu haben, der ihr beständig nachging; sie drehte einige Male den Kopf nach ihm um und beflügelte dann ihre Schritte, wie Jemand, den die Angst weiter treibt. Jetzt verschwand das Mädchen um eine Ecke, und in demselben Augenblicke hörte unser Dichter einen durchdringenden Schrei. Er eilte schnell vorwärts und sah beim Schein einer Lampe, die vor einem Muttergottesbilde brannte, wie das Zigeunermädchen sich gegen zwei Männer wehrte, welche sie umfaßt hielten und ihr Geschrei zu ersticken suchten. Die arme kleine Ziege stand dabei, senkte die Hörner und blöckte jämmerlich.

»Halt, Ihr Gaudiebe!« schrie unser Dichter ritterlich und stürzte tapfer auf sie los. Einer der Männer drehte sich gegen ihn um. Es war das scheußliche Angesicht des einäugigen Zwergs.

Peter Gringoire floh nicht, aber er wagte keinen Schritt weiter vorwärts. Der Zwerg hob den mächtigen Arm und schleuderte ihn mit einem einzigen Stoß vier Schritte von sich auf das Pflaster, ergriff dann das Mädchen und trug sie so leicht davon, als ob er eine Flaumfeder auf dem Arme hätte. Sein Spießgeselle folgte ihm und hinter beiden rannte mit kläglichem Blöken die Ziege.

»Räuber! Mörder!« schrie das unglückliche Zigeunermädchen.

»Halt, Ihr Schufte! laßt das Mädchen los!« schrie plötzlich mit einer Donnerstimme ein Reiter, der um die nächste Ecke kam.

Es war ein Hauptmann der königlichen Bogenschützen, vom Kopf bis zum Fuß gepanzert und die eingelegte Lanze in der Faust.

Der Reiter entriß das Zigeunermädchen dem bestürzten Zwerg und nahm sie vor sich auf den Sattelknopf. Von seinem ersten Schrecken zurückgekommen, stürzte der furchtbare Zwerg auf den Reiter los, um ihm seinen Raub wieder abzunehmen; aber in demselben Augenblicke sah er sich von einem Dutzend Lanzenreitern umringt, die ihrem Offizier auf dem Fuße gefolgt waren. Quasimodo wurde gepackt und geknebelt. Er heulte, er schäumte vor Wuth und biß mit den Zähnen um sich. Sein Spießgeselle war während des Kampfes entflohen.

Das Zigeunermädchen richtete sich mit Grazie auf dem Sattel empor, blickte den Offizier mit ihren schalkhaften Augen an und fragte mit dem ganzen Wohllaut ihrer Stimme: »Wie heißt Ihr, Herr Gendarm?«

»Hauptmann Phöbus de Châteaupers, Euch zu dienen, mein schönes Kind!« erwiederte der Offizier, und während er sich im Sattel aufrichtete und behaglich seinen Schnurrbart strich, gleitete die behende Zigeunerin rasch vom Pferde herab und entfloh mit der Schnelligkeit des Windes.

»Beim Nabel des heiligen Vaters!« sagte der Offizier, »ich hätte lieber das Mädchen behalten als den garstigen Zwerg. Schnallt dem Schuft die Riemen fester.«

»Je nun, Herr Hauptmann,« erwiederte einer der Gendarmen, »die Grasmücke ist davon geflogen und die Fledermaus zurückgeblieben!«

Inzwischen lag der arme Peter Gringoire noch immer auf dem Pflaster vor der Lampe, welche die Nische des Muttergottesbildes erhellte, und wohin ihn die kräftige Faust des Zwerges geschleudert hatte. Allmählig kam er wieder zu sich. Anfangs zwischen Traum und Wachen schwebend, vermischten sich in seinem Geiste die schlanken Figuren des Zigeunermädchens und der Ziege mit der gewichtigen Faust des Zwerges, die ihn zu Boden geschleudert hatte. Dieser Zustand war vorübergehend. Eine empfindliche Kälte am unteren Theile seines Körpers brachte ihn bald völlig zu sich; er lag mit dem halben Leibe in dem Bach, der durch diese Gasse rieselte.

Der arme Dichter versuchte aufzustehen, aber alle seine Glieder waren wie gelähmt. Verfluchter buckliger Cyklop! brummte er zwischen den Zähnen.

Der Name des Zwergs führte ihm das Bild des Archidiakonus Claude Frollo, des Begleiters von Quasimodo, in's Gedächtnis zurück. Die gewaltsame Scene, welcher er angewohnt hatte, schwebte an ihm vorüber; er erinnerte sich, daß es zwei Männer waren, gegen welche sich das Zigeunermädchen wehrte, und das finstere, hochmüthige Gesicht des Archidiakonus trat verwirrt vor den Blick seines Geistes.

Das wäre doch seltsam! dachte er bei sich selbst, und auf den Grund dieses Gedankens baute er eine Menge Hypothesen, deren eine immer sonderbarer war als die andere. Nässe und Kälte weckten ihn aus seinen Träumen zur rauhen Wirklichkeit: Mich hungert! mich dürstet! mich friert! seufzte er in kläglichem Tone.

Ein Haufe jener kleinen Halbwilden, die halbnackt gehen, und von jeher zu Paris unter dem Namen Gamins bekannt waren und noch sind, lief unter lautem Geschrei und Lachen der Stelle zu, an welcher unser armer Dichter ausgestreckt lag. Sie zogen einen Strohsack hinter sich nach, und das bloße Geräusch ihrer Holzschuhe hätte einen Todten erwecken können. Peter Gringoire, der noch etwas Leben in sich spürte, erhob sich mit halbem Leibe.

»Juchhe! Juchhe!« schrieen die Jungen aus voller Kehle, »der alte Eustach Moubon, der Hufschmied an der Ecke ist gestorben. Wir wollen mit seinem Strohsack ein Freudenfeuer machen!«

Mit diesen Worten warfen sie den Strohsack gerade auf den unglücklichen Poeten, in dessen Nähe sie gekommen waren, ohne ihn zu sehen. Zugleich nahm einer der Jungen eine Handvoll Stroh, um es an der Lampe der heiligen Jungfrau anzuzünden.

Hunger! Durst! Kälte! Hitze! soll ich durch alle Qualen der Hölle gehen und zuletzt noch den Feuertod sterben? seufzte der geängstigte Dichter, raffte sich, von Todesfurcht getrieben, gewaltsam auf und warf den Strohsack mitten unter den Haufen der Gamins.

»Heilige Jungfrau! Der todte Hufschmied!« schrieen die Jungen und liefen über Hals und Kopf davon.

Der Dichter entfloh nach der andern Seite und der Strohsack blieb Meister des Schlachtfeldes. Am andern Morgen wurde er gefunden und mit großem Pomp in die Kirche Sainte-Opportune gebracht. Man konnte dort bis auf die neuesten Zeiten aus dem Munde des Sakristans das Wunder vernehmen, welches das Marienbild im Winkel der Straße Mauconseil in der ewig denkwürdigen Nacht vom 6. auf den 7. Januar 1482 verrichtet hatte, indem es den verstorbenen Hufschmied Moubon, den der Teufel in seinen Strohsack gebannt hatte, durch seine bloße Gegenwart aus demselben herausbeschwor.


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