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So bewegte sich die Welt, worin unser Freund eine Zeitlang einheimisch und thätig gewesen war, gänzlich umgestaltet, in Erbauen und Verfall, Trost und Verzweiflung auf und ab, ohne daß er selbst von diesen Ereignissen etwas verstanden, oder an ihnen Theil genommen hätte. Mit schwerem Finger hatte ihn das Schicksal berührt, an ihm ein Zeichen 224 gesetzt, welche Gefahren unsere Zeit den Jünglingen bereitet, die mit Empfindung und Geist ausgerüstet, ungebunden dahin leben zu können meinen.
Nach der Rückkehr von meiner Reise war mein erster Gang zu Wilhelmi, den ich, durchaus verwandelt, das zweite Kind auf dem Schooße haltend, neben seiner muntern, artigen Frau antraf. Von den Gemälden und sonstigen Seltenheiten, als deren eifrige Sammlerin die nunmehrige Madame Wilhelmi bekannt gewesen war, erblickte ich nichts, vielmehr sah ich nur eine gewöhnliche elegante Einrichtung. Da meine Augen die verschwundenen Schätze suchten, errieth mich Wilhelmi, und ich wurde als alter Freund gleich in einen Ehekrieg eingeweiht. Die Kunstkennerin hatte seit ihrer Vermählung allen Geschmack an den Antiquitäten verloren, sie, Wilhelmi's Einreden ungeachtet, nach entlegenen Kammern verwiesen, und wollte dieses ganze Besitzthum gern losschlagen, wozu aber der Gatte seine Zustimmung beharrlich versagte. Seine Neigung war die nämliche geblieben. Er suchte die verwiesenen Lieblinge in den engen Räumen so gut als möglich unterzubringen.
Alles dieses erfuhr ich in der ersten halben Stunde durch halb ernste, halb scherzhafte Gespräche, welche jedoch von vollkommner gegenseitiger Zufriedenheit zeugten.
Bald wurde aber die häusliche Scene durch eine Figur gestört, bei deren Erscheinung die Gatten mitleidig und betrübt ihre Blicke niederschlugen. Der Eintretende wollte sich, da er einen Fremden sah, alsobald entfernen, Wilhelmi hielt ihn indessen zurück, führte ihn mir entgegen, und sagte: Erkenne ihn nur, Hermann, es ist unser alter Freund, der Doctor.
Hermann gab mir die Hand, lächelte mich wie ein Kind an, und sagte: Hippocrates war der berühmteste griechische Arzt, von der Insel Cos gebürtig, und brachte zuerst die Lehre von den kritischen Tagen auf. – Dann setzte er sich neben Wilhelmi's Frau, und warf von Zeit zu Zeit historische oder philosophische Bemerkungen hin, welche alle richtig waren, nur freilich nicht die mindeste Beziehung zu der Umgebung hatten.
Es ist schrecklich, unvorbereitet den Tod eines Bekannten zu erfahren, aber es erschüttert Mark und Bein, ihn plötzlich lebendig, so wiederzusehen.
Niemand hatte mir noch etwas von dieser traurigen Veränderung gesagt. Ich war meiner ganzen ärztlichen Fassung benöthigt, um nicht 225 in Thränen bei dem Anblicke des Unglücklichen auszubrechen, der mit blassem Antlitze, erloschenen Augen und einem stäten Lächeln, sonst aber unentstellt, dasaß.
Unter einem Vorwande nahm ich Wilhelmi bei Seite und begehrte draußen Aufschluß von ihm. Ich hörte darauf die Begebenheiten, welche nun, da ich Ihre Bücher gelesen, mir nicht mehr dunkel sind, damals aber mir völlig räthselhaft vorkommen mußten.
Wilhelmi erzählte mir, daß Hermann mit den Gebärden eines Verzweifelnden von Flämmchens Landhause fortgestürmt sei. Die Landleute hätten ihn in der Gegend mit zerrissenen Kleidern, scheu wie das Wild ihnen ausweichend, umherirren gesehen.
Wir Zurückgebliebenen, sagte er, die wir erfuhren, daß Johanna nach dem Schlosse abgereist war, wurden über das Ausbleiben Hermann's sehr bestürzt. Ich schrieb an ihn, und da der Brief unbestellt wieder in meine Hände gelangte, so reiste ich selbst nach der Gegend, wo ich denn jene Vorfälle hörte.
Er war verschwunden, trat jedoch nach mehreren Monaten, während welcher Correspondenz, Nachfrage, öffentliche Bekanntmachungen vergeblich angewendet worden waren, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln, eines Abends, da es dämmerte, in mein Zimmer, fiel mir weinend um den Hals, sagte, daß er da und dort gewesen sei, aber nirgends Ruhe finde, daß ich ihm ein Plätzchen bei mir gönnen möge, wo er sterben könne.
Meinen Schreck werden Sie ermessen. Ich sprach mit meiner Frau, die sich kaum zusammennehmen konnte, da sie ihn so außer sich sah, und verstört. Wir brachten ihn darauf in einem stillen Gartenzimmer bei uns unter, baten ihn, sich zu schonen, seine Sinne zu sammeln, dann werde sich ja Alles finden, was auch vorgefallen sein möge.
Er ließ sich diese Obsorge gefallen, und saß einige Tage vor sich hin. Als ich glaubte, er sei so weit beruhigt, daß man mit ihm reden könne, suchte ich zu erforschen, was sein Inneres so gewaltsam aufgeregt hatte. Ich bekam jedoch keine andern Antworten von ihm, als, daß er der verworfenste aller Menschen sei, daß nichts auf Erden sich mit seinem Elende vergleichen lasse; ob ich den Oedipus kenne? – Da ich sah, daß ihn mein Andringen schwer leiden machte, so gab ich es auf und habe auch nachmals nicht versucht, sein Geheimniß zu entdecken.
Nur so viel ist mir aus unwillkürlichen Aeußerungen klar geworden, 226 daß das Bewußtsein einer Schuld, die furchtbar gewesen sein muß, seine Brust zerfrißt, daß sich auf dem Landhause Flämmchen's das Schlimme begeben haben mag, und daß dieses wahrscheinlich einen Zusammenhang mit dem Inhalte der Brieftasche hat, welche ihm von seinem Vater vererbt worden ist.
Ich glaubte, Beschäftigung werde ihn am ersten wieder zum Gefühle seiner selbst bringen, und äußerte ihm diese Meinung. Er ergriff sie mit Leidenschaft und rief: Du hast das Wahre getroffen. Beschäftigung mangelt mir. Giebt es nicht Manches, was Einem die bösen Träume verscheuchen mag: Philosophie, Religion, Kunst, Staatswissenschaft? Versuchen wir es mit diesen erhabenen Mächten und Geistern der Zeit, deren Einer uns gewiß hülfreich sein wird!
Ich hatte leider mit meinem wohlgemeinten Worte nur den Punkt berührt, der die Crisis zum Ausbruch bringen mußte. Es begann eine Zeit, an welche ich mich nicht gern erinnere, denn ich mußte in ihr wahrnehmen, ohne helfen zu können, wie die Seele eines Freundes sich jammervoll auflöste. Er eilte in die Kirchen, schrieb Predigten nach, saß zu den Füßen des Philosophen und las in dessen Büchern bis spät in die Nacht. Er durchstrich die Säle der Gallerie; studirte Kunstgeschichte, ging die Staatsmänner seiner Bekanntschaft um praktische Arbeiten an, die sie ihm auch, seinen Zustand bemitleidend, wenigstens zum Schein gewährten. Aber alle diese religiösen, philosophischen, ästhetischen und praktischen Ausspannungen, welche mit einer stürmischen Hast, ja mit Wuth betrieben wurden, konnten den Geängstigten, Versinkenden keinen Anhalt geben. Noch sind Zettel von ihm aus jener Periode übrig, worin er die rührendsten und zerreißendsten Klagen dem Papiere vertraut. Ach, ruft er in einer dieser Ergießungen aus, dem befleckten Gemüthe steht Alles fern! Gott und die Natur, Schönheit und Wahrheit, Staat und Menschenwohl schweben dem ausgeleerten, öden Geiste, wie dünne Schatten vorbei, welche er nicht zu fassen, an denen er sich nicht anzuklammern vermag!
So sich abarbeitend, die Kräfte gegen einander treibend, verfiel er nach und nach in den Zustand, wo nun Alles ruht und todt ist, den wir trauernd anschauen, worin wir ihn duldend unter uns wandern lassen, und von dem wohl keine Heilung zu erwarten ist.
Nachdem Wilhelmi mir diese Eröffnungen gemacht hatte, beobachtete ich den Unglücklichen in allen Stunden, welche meine öffentlichen Geschäfte 227 mir frei ließen. Hier wurde mir die seltenste und bedauernswertheste Geisteskrankheit sichtbar, die ich je wahrgenommen habe.
Hermann war körperlich gesund. Die Blässe seines Antlitzes, die Mattigkeit seiner Augen hinderte nicht, daß alle Lebensfunctionen bei ihm den natürlichen, regelrechten Gang nahmen. Er aß und trank hinreichend, seine Füße trugen ihn auf meilenlangen Wanderungen, die er in der Umgegend anzustellen pflegte, ohne daß bei der Heimkehr eine Erschöpfung an ihm zu verspüren gewesen wäre; er schlummerte tief und ruhig. Auch war er keinesweges wahn- oder blödsinnig; er las viel, hörte Gesprächen von allgemeinerem Interesse gern zu und ließ seine Bemerkungen vernehmen, die immer verständig, zuweilen scharfsinnig, hin und wieder selbst tief waren. So gab er einst, da wir viel über Schicksal und Selbstbestimmung geredet hatten, den Begriff der Freiheit dahin an, daß sie die Form der Nothwendigkeit sei, und führte diesen Satz auf eine Weise durch, welche uns Alle in Erstaunen setzte.
Dennoch war er im Kerne des Seins gestört, ja getödtet. Das Leben, welches in Freude und Leid, in Begehren und Verabscheuen, in Liebe und Haß, in den Wechselbeziehungen zu unseren Nebenmenschen besteht, war in ihm durch eine schreckliche Erinnerung ausgelöscht. Er weinte und lachte über nichts, ein stehendes gleichgültiges Lächeln machte seine Züge zur Maske. Er wollte nichts und wendete sich von nichts hinweg, er hatte keinen Freund und keinen Feind, die besonderen Verhältnisse Anderer waren für ihn so wenig vorhanden, als seine eigenen, mit einem Worte: Das Individuum schien in ihm völlig untergegangen zu sein. Nur allgemeine Gedanken und Vorstellungen nahm diese Seele, wie ein leeres Gefäß noch auf, ohne die Federkraft zu besitzen, sie in ihr Eigenthum zu verarbeiten, und daraus die Nahrung zu Entschlüssen zu saugen.
So lebte er, scheinbar ein Mensch, aber ohne Antheil, und in der That den Kreisen, welche unser Dasein umschließen, entrückt, seine Tage hin. Die Zeit war für ihn keine Zeit, denn er empfand den Wechsel der Begebenheiten nicht, der Ort kein Ort, denn keine Sympathie fesselte ihn mehr an eine Stätte. Es war der Zustand der Pflanze, er vegetirte.
Daß in einer so vernichteten Seele dennoch richtige Anschauungen, ja Ideen einkehren konnten, bestätigte meine alte Ueberzeugung von der Natur der menschlichen Seele überhaupt. Wir sind weit mehr Depots des geistlichen Fluidums, welches durch das Universum streicht, als daß wir es 228 selbstthätig erzeugten. Auch hier sind die Volksredensarten von den Gedanken, die Einem Gott, und denen, die Einem der Teufel eingegeben, wohl zu beachten und tiefen Sinnes. Nie hätte ich freilich gewünscht, den Beweis für meine Hypothese durch einen Menschen zu erhalten, dessen Loos mir nahe ging. Meine Abneigung gegen ihn war schon früher verschwunden gewesen, ich hatte mir seine guten Seiten klar gemacht, und seine jetzige Krankheit schnitt mir durch das Herz.
Ich sah ein, daß in diesem Falle am allerwenigsten positiv zu verfahren sein werde, daß man treu aufmerkend neben dem Leidenden stehen und irgend ein günstiges Ereigniß abwarten müsse, was zur Heilung benutzt werden könne. Am erwünschtesten wäre mir gewesen, wenn ich der verborgenen Quelle des Kummers hätte auf die Spur kommen können, allein in dieser Beziehung scheiterten alle meine Versuche. Der Unglückliche verschloß die Ursache seiner Schmerzen in tiefster Brust, und auch die Brieftasche war verschwunden. Wir durchsuchten in seiner Abwesenheit alle Winkel des Zimmers, ließen Schränke und Commoden öffnen; umsonst! sie war nicht zu finden.
Eine Geschäftsreise führte mich in die Nähe von Flämmchens Landhause. Ich machte einen Abstecher dorthin, weil ich glaubte, ich würde vielleicht da einige Aufklärungen über diese dunkle Geschichte erhalten. Das Haus war unter Sequestration, welche die Verwandten des Domherrn ausgebracht hatten. Das Wittwenkind hatte man mit der Alten ausgetrieben, da binnen der gesetzlichen Zeit kein Leibeserbe erscheinen wollen. Neue Leute befanden sich im Hause, welche mir nichts, was mir diente, sagen konnten.
Als ich nach *** zurückkehrte, war Johanna an der Hand des Generals so eben aus ihrer Dunkelheit hervorgegangen. Wie sie sich bis dahin fast menschenscheu abgeschlossen hatte, so verspürte sie nun das Bedürfniß, mit ihren alten Freunden auf's Neue anzuknüpfen. So besuchte sie denn auch Wilhelmi's Haus, und erfuhr dort Hermann's Schicksal.
Ihr Mitleid war grenzenlos. Mir machte sie die bittersten Vorwürfe, daß ich ihr die Sache verborgen, wozu ich meine guten Gründe gehabt hatte. Sie verlangte von mir die Erlaubniß, den Kranken zu sehen, zu sprechen, ich weigerte mich auf das Bestimmteste, dieselbe zu ertheilen, da alle Aufregungen mir in seinem Zustande bedenklich zu sein schienen.
Indessen, wie die Frauen sind, die zuweilen hartnäckig auf ihrem 229 Sinne bestehen, sie giebt das Vorhaben nicht auf, dessen Ausführung die mächtigsten Gefühle ihrer Brust heischen. Im Stillen erforscht sie, daß zu dem Gartenzimmer, worin er wohnt, ein besonderer Zugang über den Hof führt, und macht sich eines Morgens allein und heimlich auf, ihn zu besuchen.
Der Kranke saß, da sie eintrat, mit dem Rücken gegen die Thüre gekehrt. Liebreich begrüßt sie ihn, er wendet sich, und starrt, regungslos wie eine Bildsäule, sie an. Sie will ihm die Hand reichen, er aber zieht mit den Worten: Wir sind nicht in Griechenland, wo die Gräuel erlaubt waren! einen Dolch aus dem Busen, und zückt ihn mit schrecklicher Gebärde auf sie, die vor Entsetzen in die Knie zu sinken meint. Dann läßt er das Mordgewehr fallen, wirft auf sie einen Blick des Abscheues, der sich tiefer in sie einbohrt, als dem Dolche möglich gewesen wäre, schlägt die Hände vor das Gesicht, stößt ein Jammergeschrei aus, daß Wilhelmi es im Vorderhause hört, und springt an ihr vorbei aus dem Zimmer.
Wilhelmi kam, außer sich vor Bestürzung, zu mir. Wir fanden Johannen ohnmächtig, die uns nur langsam, von der fürchterlichen Scene bis zum Sterben erschüttert, das Vorgefallene entdecken konnte. Wir suchten nach dem Unglücklichen; er war verschwunden. Durch Gärten, an unbewohnten Hintergebäuden vorbei, mußte er seine Flucht genommen haben. Alle Erkundigungen nach ihm an den Thoren, in den Umgebungen der Stadt waren fruchtlos.