Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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28. Hundposttag

Osterfest

Einen Hundtag, der so lang und wichtig ist wie der 28ste, darf man schon in drei Feiertage zerfällen.

Erster Osterfeiertag

Ankunft im Pfarrhause – Klub der Drillinge – Karpfe

Am ersten Ostertage schlich Sebastian, voll Schneewolken wie der Himmel über ihm, aus dem Totenhaus der Tugend, aus den Wirtschaftgebäuden der Leidenschaften, ich meine aus der Residenzstadt – aber erst gegen Abend, um heute mit seinem von einem halbjährigen Gewitterregen bodenlos gewordnen Herzen keinem Freunde lange zur Last zu sein. Auf dem Berge, hinter welchem Flachsenfingen wie durch einen Erdfall einsinkt, kehrt' er sich um gegen die dunkle Stadt und ließ vor seiner Seele wie einen Abendnebel die Erinnerung vorüberziehen, wie er vor drei Vierteljahren im Abendglanze des Sommers und der Hoffnung so fröhlich über diese Häuser geblickt habe – ich beschrieb es längst –, und er verglich seine damaligen Aussichten mit seiner heutigen Wüste; er sagte endlich: »Sage dirs nur geradezu, was du hast und willst – du hast nämlich nichts mehr, kein geliebtes und liebendes Herz in der ganzen Stadt – aber du willst noch einmal nach St. Lüne marschieren und ganz verarmt vom blassen Engel, den dein ausgestohlnes Herz nicht vergessen kann, den zweiten Abschied nehmen, wie du der Sonne nachsteigst und sie, wenn du ihren Untergang aus einem Tale gesehen, noch einmal auf einem Berge sinken siehest.«...

Fünf halbe Sabbaterwege vom Dorfe erblickte er den Hofkaplan, von einem Katechumenen (sowohl des Schneiderhandwerks als des Christentums) gejagt. Vergeblich suchte er und der junge Schneider den vorausgehetzten Seelenhirten zu erlaufen. Der Hirt stand nicht eher fest, als bis der Junge in sein Haus hinein war. Ein Hundertundzwanzigpfünder (das ist mein physisches Gewicht) bekömmt nicht mehr ästhetisches, wenn er die unbedeutende Ursache des unbedeutenden Rennens so lange bei sich behält und es nicht eher sagt als jetzo, daß der Kaplan durchaus niemand hinter sich gehen hören konnte, weil er besorgte, der Mensch erschmeiß' ihn von hinten. Nun wollte der Lehrbursche in die Fußstapfen seines geistlichen Meisters treten und ihm nachkommen – je ärger der Meister ins Freie setzte, um jenen zurückzulassen, desto weiter sprang der Schüler vor, ihn zu ertappen – das war der ganze Bettel; aber so jagen Menschen Menschen.

Viktor lief mit aufgeflognen Armen an hangende, die der Eigner in der Angst nicht erheben konnte. Aber im Pfarrhause legten sich zwei wärmere um seinen ausgefrornen Busen, die seiner Landsmännin; und die Pfarrerin trübte seine und ihre Aufersteh-Freude nicht mit einer einzigen Klage über seine bisherige Entfernung – er erwiderte diese freundschaftliche Feinheit, die dem andern unnütze Entschuldigungen erließ, mit doppelter Wärme und mit einem dickbändigen Klaglibell gegen seine eigne Narrheiten. Sie führte ihn eine Treppe im freudigen, heute mit lauter erleuchteten Stockwerken durchbrochnen Pfarrhause hinauf an ihres lieben Sohnes Brust und vor die Augen der drei verwandten Söhne aus einem Vaterland, vor die Drillinge....

O ihr vier Menschen eines Herzens, drückt meines verlassenen Viktors seines an eurem warm und macht den Guten froh, nur auf einen Abend.... Ich bins wahrlich selber, seit dem Pascha-Ausgange aus dem flachsenfingischen Ägypten. Ich will daher das 28ste Kapitel so lang machen, wie das Baddorf selber ist. Meinem Werke wird dadurch Gewicht erteilt bei wahren Kunstrichtern – aber auch bei Postmeistern, die von mir, wenn ichs in die Verlagshandlung absende, fürs Wägen etwas Erhebliches ziehen... Soll aber ein Autor so schäbicht sein und seine Empfindungen, bloß weil sie ein Postsekretär mehr nach seiner eignen abwiegt als nach der Posttaxe, des Portos wegen abkürzen? Und muntert mich nicht die Kur-, die Fürsten- und die Städte-Bank in Regensburg zum Gegenteil auf, zu verlängerten Empfindungen, indem besagte Bänke mir durch einen Reichsabschied zwei Drittel Postgeld für Drucksachen erlassen, um die Gelehrsamkeit, hoffen sie, in Gang zu bringen und die Empfindsamkeit?

Der edle Evangelist war zwar auch mit droben – er und Joachime hatten die Hofdame höflich zu den Eltern begleitet –, aber hier auf dem Lande, wo weniger moralisches Unkraut steht als in Städten (so wie weniger botanisches in Feldern als in Gärten) und wo man Freuden ohne maitres de déplaisirs genießet, hier, wo in Viktor die Liebe des Vaterlandes die Sehnsucht nach jeder andern stillte, konnte niemand unglücklich sein als der, ders verdiente. Matz verschwand da wie eine Kröte unter Tulpen. Viktor hätte die Briten geliebt, auch ohne die vaterländische Blutverwandtschaft – und hätte die Holländer gelästert, auch mit derselben; daher schreibt sich seine unbesonnene Rede, diese Völker malten sich in ihren Tabakpfeifen, indem die englischen aufgerichtete Köpfe hätten und die belgischen hangende.

Alle drei waren von der Oppositionpartei und verloren ihr kaltes Blut über das eiskalte von Pitt. Der Korrespondent der Hundtage schreibt mir nicht, warum – obs war, weil sie vom Minister beleidigt wurden – oder ob sie am fürchterlichen Weltgerichte und der Totenauferstehung in Frankreich, wo die Sonne über Phönix-Asche und Krokodileneier zugleich brütet, nähern Anteil nahmen – oder weswegen sonst. Er berichtet mir überhaupt nichts weiter von ihnen als ihre Namen, nämlich Kaspar, Melchior und Balthasar, welches die Namen der heiligen drei Könige aus Morgenland warenNach der gemeinen Meinung; denn ich bin der andere zugetan, nach der sie heißen Ator, Sator, Peratoras. – Diese Namen unterscheiden die Könige ganz von den Hirten, die Misael, Acheel, Cyriakus und Stephanus heißen und auch eher kamen, was ich alles aus Casaub. exercit. ad Ann. Baron. II. 10. hier abschreibe, weil ich mich gar nicht schäme, etwas Unnützes zu wissen, sobald ein Casaubonus sich desselben nicht schämt und sobald es noch dazu ein gelehrtes ist..

Der, der sich aus Laune Melchior nannte, verbarg unter einer phlegmatischen Eiskruste eine Gleicherglut und war ein Hekla, der erst seine Eisberge spellt, eh' er Flammen ausschüttet; mit kaltem Auge und schlaffer Stimme und welker Stirne sprach er, einsilbig, vielsinnig, gepreßt – er sah die Wahrheit nur in einem Brennspiegel, und seine Dinte war eine wegreißende Wasserhose. – Der zweite Engländer war ein Philosoph und Deutscher auf einmal. Den ältern Kato, der zugleich den Mohrenkönig vorstellte, kennt jeder. Es ist mir so lieb, als wenn ichs selber wäre, daß gerade mein Held durch eine größere heitere Besonnenheit der Denkfreiheit von ihnen allen unterschieden war – ich meine jenes sokratische helle Auge, das frei über und durch den Garten der Bäume des Erkenntnisses umherblickt und das wählet wie ein Mensch, anstatt daß andre vom Instinkt irgendeinem Satze, irgendeinem Apfel dieser Bäume ausschließend zugetrieben werden, wie jedes Insekt seiner Frucht. Die moralische Freiheit wirkt so gut auf unsre Meinungen als auf unsre Taten; und trotz der Entscheidgründe beim Verstande und trotz der Beweggründe beim Willen wählt doch der Mensch sowohl sein System als sein Tun.

Daher wären die Drillinge beinahe noch vor dem Abendessen kalt gegen Sebastian geworden im Lieben, bloß weil ers war im Urteilen. Er war heute mit ihnen zum ersten Male in einem Falle, worein er mit Flamin jeden Tag dreimal geriet: gewisse Menschen verschmerzen lieber uneingeschränkten Widerspruch als eingeschränkten Beifall. Die Sache war die:

Matthieu gab durch seine satirischen Übertreibungen der kleinen Unähnlichkeit zwischen Viktor und ihnen ein immer größeres Hervortreten. Er sagte (nicht um anzuspielen, sondern um es zu scheinen), die Fürsten, von denen die Untertanen wie vom sinesischen König die Witterung des Staats erbäten, hälfen sich wie jener Rektor, der den Kalender selber verfaßte und seinen Schülern (hier den Günstlingen der Fürsten) zuließ, das Wetter dazu zu machen. Auch sagt' er, die Dichter könnten wohl für die Freiheit singen, aber nicht sprechen, sondern sie machten in furchtsamer Verfassung unter der Larve der Tragödienhelden die Stimme der Helden nach, so wie er einen ähnlichen Spaß oft an einem gebratnen Kalbskopfe gesehen, der der ganzen table zu brüllen geschienen wie ein lebendes Kalb, indes nichts als ein lebender Laubfrosch darin gesteckt wäre, der sich bloß mit seinem Quaken daraus hören lassen. »Aber eine noch größere Feigheit wär's,« sagte Viktor, »nicht einmal zu singen; allein ich weiß, die Menschen sind jetzo weder barbarisch noch gebildet genug, um die Dichter zu genießen und zu befolgen; die Dichter, die Religion, die Leidenschaften und die Weiber sind vier Dinge, die drei Zeiten erleben, wovon wir erst in der mittlern sind, sie zu verachten; die vergangne war, sie zu vergöttern, die künftige ist, sie zu verehren.« Die erzürnten Drillinge glaubten besonders, die Religion und die Weiber wären bloß für den Staat. Viktors republikanische Gesinnungen waren ihnen ohnehin schon wegen seiner aristokratischen Verhältnisse zweideutig. Da er nun gar dazusetzte: die Staatenfreiheit habe mit den kleinern Abgaben, mit größerer Sicherheit des Eigentums, mit besserem Wohlleben, kurz mit der Steigerung des sinnlichen Glücks gar nichts zu schaffen, alles dies wohne oft noch reichlicher in Monarchien, und das, wofür man Eigentum und Leben opfere, müsse doch etwas Höheres sein als Eigentum und Leben – da er ferner sagte: ein jeder Mensch von Bildung und Tugend lebe in einer republikanischen Regierform trotz den Verhältnissen seines Leibes, so wie ja Gefangne in Demokratien doch die Rechte der Freiheit genießen – und da er gar nicht sowohl für den Minister und das Oberhaus als für das englische Volk der Waffenträger und Kontradiktor wurde, weil die Grundsätze von den ersten beiden von jeher des letzten seine bekriegt und doch nicht bestimmt hätten; weil die jetzige Klage so alt wäre wie die (englische) Revolution; weil der Grundriß der letzten nur in einer förmlichen Gegenrevolution zerschlitzet werden könnte; weil alle Ungerechtigkeiten nach dem Schein der Gesetze begangen würden, welches besser wäre als eine Gerechtigkeit wider den Schein der Gesetze; und weil das Sprachgitter, das man jetzt um die englische PreßfreiheitÜberall ist von den Jahren 1792, 1793 die Rede. gemacht, nicht schlimmer sei als die athenischen Verbote, zu philosophieren, sondern besser als die Erlaubnisse der römischen Kaiser, auf sie zu pasquillieren – –

... Die Engländer lieben lange Röcke und Reden. Da er mit » da« anfing: so muß in seinem wie in meinem Perioden » so« darauf kommen....

So wars keinem Teufel recht, und Kato der Ältere sagte: »wenn er diese Prinzipien im Oberhause vortrüge, so entstünde der größte Lärm darüber, aber aus Beifall, und jeder Hörer schriee noch: hear him!« Viktor sagte mit der Bescheidenheit eines Weltmanns: »er sei ein so warmer Republikaner und Altbrite wie sie alle, nur heute sei er zu unfähig, um aus diesen Grundsätzen zu erweisen, daß er ihnen gleiche; – vielleicht im nächsten Klub!« – »Und der kann« (sagte der Hofkaplan) »an meinem Geburttage gehalten werden, in wenig Wochen.« – Wenn wirs erleben, ich und die Leser, so wird man uns hoffentlich als Altgevattern mit dazu einladen; wir waren das erstemal (am 6ten Hundposttage) bekanntlich auch dabei.

Mein Held foderte den Menschen (zumal da er sich nicht Mühe gab) zu wenig Achtung ab. Er arbeitete zwar um diesen Arbeitlohn; wenn sie ihm aber nichts gaben: so wußt' er tausend Entschuldigungen für die Menschen und zog seinen Münzstempel heraus und schlug sich selber eine Ehrenmedaille, indem er dabei schwur: »Ich will verdammt sein, wenn ich mich nicht das nächstemal stolzer aufführe und minder nachsichtig und überhaupt ernsthafter, um eine gewisse Ehrfurcht zu erregen.« Das nächstemal soll noch kommen. Er vergab daher den Drillingen so schön, daß sie endlich den Menschenfreund mit leidenschaftlichen Armen auf immer an ihre Seele schlossen.


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