Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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»Klotilde!

Ich hülle meine errötenden Wangen in den Leichenschleier. Mein Geheimnis ruht in meinem Herzen verborgen und wird mit ihm unter den Leichenstein gelegt. Aber nach einem Jahre wird es aus dem zerfallenen Herzen dringen – o dann bleib' es ewig in deinem, Klotilde! – und ewig in deinem, Julius! – Julius, war nicht oft eine schweigende Gestalt um dich, die sich deinen Engel nannte? Legte sie nicht einmal, als die Totenglocke ein blühendes Mädchen einläutete, eine weiße Hyazinthe in deine Hand und sagte: ›Engel pflücken solche weiße Blumen‹? Nahm nicht einmal eine stumme Gestalt deine Hand und trocknete sich damit ihre Tränen ab und konnt' es nicht sagen, warum sie weine? Sagte nicht einmal eine leise Stimme: ›Lebe wohl, ich werde dir nicht mehr erscheinen, ich gehe in den Himmel zurück‹? Diese Gestalt war ich, o Julius; denn ich habe dich geliebt und bis in den Tod. Siehe! hier steh' ich am Ufer der zweiten Welt, aber ich schaue nicht hinüber in ihre unendlichen Gefilde, sondern ich kehre mein Angesicht noch sinkend nach dir zurück, nach dir, und mein Auge bricht an deinem Bilde. – Jetzo hab' ich dir alles gesagt. – Nun komm, stillender Tod, drücke langsam die weiße Hyazinthe nieder und teile bald das Herz auseinander, damit Julius darin die verschlossene Liebe sehe. – Ach wirst denn du eine Tote in deine Seele nehmen? Wirst du weinen, wenn du dieses lesen hörest? Ach wenn mein zugedeckter, eingesunkner Staub dich nicht mehr berühren kann, wird mein entfernter Geist von deinem geliebt werden? – Aber ich beschwöre dich, o Unvergeßlicher, geh an dem Tage, wo dir dieses Tränenblatt vorgelesen wird, da gehe, wenn die Sonne untergeht, hinauf zu meinem Grabe und bringe dem bleichen Angesicht darunter, das der alte Hügel schon entzweidrückt, und dem zerronnenen Herzen, das für nichts mehr schlagen kann, da bringe der Armen, die dich so sehr geliebt und die deinetwegen sich unter die Erde gehüllet, dein Totenopfer – bring ihr auf deiner Flöte die Töne meines geliebten Liedes: ›Das Grab ist tief und stille.‹ – Sing es leise nach, Klotilde, und besuch mich auch. – Ach arme Giulia, richte deine Seele auf und erliege jetzt nicht, da du deinen Julius dir an deinem Grabe denkest! – Wenn du da das Totenopfer bringst, so wird zwar mein Geist schon höher stehen; ich werde ein Jahr jenseits der Erde gelebet haben, ich werde die Erde schon vergessen haben – aber doch, aber o Gott, wenn du die Töne über meinem Grabe ins Elysium dringen ließest, dann würd' ich niedersinken und heiße Tränen vergießen und die Arme ausbreiten und rufen: ja! hier in der Ewigkeit lieb' ich ihn noch – es geh' ihm wohl auf der Erde, sein weiches Herz ruhe weich und lange auf dem Leben drunten. – Nein, nicht lange! Komm herauf, Sterblicher, zu den Unsterblichen, damit dein Auge genese und die Freundin erblicke, die für dich gestorben ist!

Giulia.«

»Ich will gehen,« – sagte Julius stockend, aber mit Zuckungen im Gesicht – »wenn auch die Sonne nicht hinab ist: mein Vater soll mich bis zum Untergange trösten, damit mein Herz nicht so heftig an die Brust anschlägt, wenn ich am Grabe stehe und das Totenopfer bringe.« – – Laß mich nichts sagen, Leser, von der Beklemmung, womit ich weitergehe – noch von dieser zu weichen Giulia, die wie eine Morgensonnenuhr vor dem Mittage im Schatten und Kühlen war, die wie eine Taube die Flügel dem Regen und Weinen auseinanderfaltete – noch von ihren Seelen-Schwestern, die im zweiten Lebens-Jahrzehend das Gerippe des Todes ganz mit Blumen überhängen, daß sie seine Glieder nicht sehen können, und die ihren weißen Arm bloß auf einen Myrtenzweig der Liebe stützen wie auf einen Aderlaßstock und ruhig dem Verbluten seiner zerschnittenen Adern zuschauen! –

Ich hätte nicht einmal dieses gesagt, wenn nicht Viktor es gedacht hätte, dessen Herz ein unendlicher Gram und eine unendliche Liebe tödlich auseinanderzogen; denn ach wie weit war nicht seine unersetzliche Klotilde schon auf dem Wege, ihrer Freundin nachzukommen und das ungeliebte Herz in der Erde zu verbergen, wie man im Froste Nelken niederlegt!

Die Sonne stieg tiefer – der Mond stieg höher – Viktor sah Klotilden wie eine Heilige, wie einen ätherisch verkörperten Engel in einer gegen Abend geöffneten Nische ruhen – das kleine, gestern genannte Mädchen spielte auf ihrem Schoß mit einer neuen Puppe – ihm war, als seh' er sie gen Himmel schweben – und als sie ihre großen Augenlider aus den Tränen für die geschiedne Freundin, deren Geheimnis sie längst erraten und verborgen hatte, gegen den aufhob, der sie heute durch seinen Abschied vermehrte; und als sie auch sein Angesicht in Rührung zerschmolzen sah: so erdrückten die gleichen Trauergedanken in beiden sogar die ersten Laute des Empfangs, und beide wandten ihr Gesicht ab, weil sie über die Trennung weinten. – – »Haben Sie« (sagte Klotilde, wenigstens mit einer gefaßten Stimme) »eben mit Julius gesprochen?« – Viktor antwortete nicht, aber seine Augen sagten Ja, indem sie bloß heftiger strömten und sie unverwandt anschaueten. Sie schlug sie tief nieder, mit einem kleinen Erröten für Giulia. Das kleine Kind hielt die über die großen Tropfen herüberfallenden Augenlider für schläfrig und zog der Puppe das schmale, mit Heu gepolsterte Kopfkissen weg, breitete es Klotilden hin und sagte unschuldig: »Da leg dich drauf und schlaf ein!« Es schauerte ihren Freund, da sie antwortete: »Heute nicht, Liebe, auf Kissen mit Heu schlafen nur die Toten.« Es schauerte ihn, da er auf ihrem bewegten Herzen eine schneeweiße Federnelke, in deren Mitte ein großer dunkelroter Punkt wie ein blutiger Tropfen ist, erzittern sah. Die fürchterliche Nelke schien ihm die Lilie zu sein, die der Aberglaube sonst im Chorstuhle des Priesters antraf, dessen Sterben prophezeiet werden sollte.

Sie heftete schmerzlich ihren Blick auf die tiefe Sonne und den Gottesacker, hinter dem diese in den Maitagen wie ein Mensch unterging. »Verlassen Sie diese Aussicht, Teuerste,« (sagt' er, wiewohl ohne Hoffnung des Gehorsams) – »eine zarte Hülle wird von einer zarten Seele am leichtesten zerstört. – Ihre Tränen tun Ihnen zu wehe.« Aber sie erwiderte: »Schon lange nicht mehr – nur in frühern Jahren brannten mir davon die Augenhöhlen, und der Kopf wurde betäubt.« – Plötzlich als der Gedanke an die bewölkte Perspektive ihrer verweinten Tage ihm das Herz aus dem Busen wand, erstarb das Sonnenlicht auf ihren Wangen – Tränenströme brachen gewaltsam aus ihren Augen – er wandte sich um – drüben auf dem Gottesacker sank der Verhüllte auf dem Hügel der Verhüllten nieder – die Sonne war schon unter die Erde, aber die Flöte hatte noch keine Stimme, der Schmerz hatte nur Seufzer und keine Töne.... Endlich richtete der schöne Blinde sich unter zuckenden Schmerzen empor zum Totenopfer, und die Flötenklagen stiegen von dem festen Grabe auf in das Abendrot – drei Herzen zergingen wie die Töne, wie das vierte eingesunkne. Aber Klotilde riß sich gewaltsam aus dem stummen Jammer auf und sang zu dem Totenopfer leise das himmlische Lied, um das die Verstorbne sie gebeten hatte und das ich mit unaussprechlicher Rührung gebe:

Das Grab ist tief und stille
Und schauderhaft sein Rand;
Es deckt mit schwarzer Hülle
Ein unbekanntes Land.

Das Lied der Nachtigallen
Tönt nicht in seinen Schoß;
Der Freundschaft Rosen fallen
Nur auf des Hügels Moos.

Verlaßne Bräute ringen
Umsonst die Hände wund;
Der Waisen Klagen dringen
Nicht in der Tiefe Grund.

Doch sonst an keinem Orte
Wohnt die ersehnte Ruh';
Nur durch die dunkle Pforte
Geht man der Heimat zu.

O Salis! in diesem Doch sind alle unsere verwehten Seufzer, alle unsere vertrockneten Tränen und heben das steigende Herz aus seinen Wurzeln und Adern, und es will sterben!

Die Stimme der edeln Sängerin unterlag der Wehmut, aber sie sang doch die letzte der Strophen dieses Sphären-Liedes, obwohl leiser in der schmerzhaften Überwältigung:

Das arme Herz, hienieden
Von manchem Sturm bewegt,
Erlangt den wahren Frieden
Nur, wo es nicht mehr schlägt.

Ihre Stimme brach, wie ein Auge bricht oder ein Herz.... Ihr Freund hüllte sein Haupt in die Blätter der Laube – das ganze Erdenleben zog wie eine Klage vorüber. – Klotildens schwere Vergangenheit, Klotildens düstere Zukunft rückten zusammen vor seinem Auge und warfen im Dunkeln den Leichenschleier über diesen Engel und zogen sie verhüllet in das Grab zur Schwester.... Er hatte sogar den Abschied vergessen... er hatte nicht den Mut, die große Szene um sich anzuschauen und die Gebeugte neben sich....

Er hörte die Kleine gehen und sagen: »Ich hole dir ein größeres Kissen unter den Kopf.«

Klotilde stand auf und faßte seine Hand – er kehrte sich wieder um in die Erde – und sie schauete ihn an mit einem verweinten, aber zärtlichen Auge, dessen Tropfen zu rein waren für diese schmutzige Welt; aber in diesem großen Auge stand etwas gleichsam wie die fürchterliche Frage: »Lieben wir uns nicht vergeblich für diese Welt?« – Und ihr schlagendes Herz erschütterte die blutige Nelke. – Der Mond und der Abendstern glimmten einsam wie eine Vergangenheit im Himmel. – Julius ruhte stumm und niedergedrückt mit umschließenden Armen auf dem eingesunknen Hügel, der auf den Staub seines zersplitterten Paradieses gewälzet war. –

Die Töne der Nachtigall schlugen jetzo gleich hohen Wellen an die Nacht – da ermannte er sich, um ihr Lebewohl zu sagen....

Leser! erhebe deinen Geist zu keiner Entzückung, denn sie wird bald in einem Krampf erstarren – aber ich erhebe meine Seele dazu, weil sogar das tödliche Niederstürzen an der Pforte des Paradieses schön ist unter dem Weggehen daraus!

Dem ersten Rufe der vertrauten Nachtigall antwortete plötzlich noch höher eine neue hergeflatterte, von dicken Blüten gedämpfte Nachtigall, die immer unter dem Singen flog und jetzt aus der Blütenhöhle ihr melodisches Schmachten ziehen ließ. Die beiden Menschen, die das Scheiden verschoben und fürchteten, irrten betäubt der gehenden Nachtigall nach und waren auf dem Wege zur seligen Blütenhöhle; sie wußten nicht, daß sie allein waren; denn in ihrem Herzen war Gott; vor ihrem Auge schimmerte die ganze zweite Welt voll auferstandner Seelen. Endlich erholte sich Klotilde, kehrte um vor der Nachtigall und gab das traurige Zeichen der Trennung. – Viktor stand am Ufer seiner bisherigen glückseligen Insel – alles, alles war nun vorüber – er blieb stehen, nahm ihre zwei Hände, konnte sie noch nicht anschauen vor Schmerz, bog sich mit Tränen nieder, richtete sich auf, als er leise reden konnte: »Lebe wohl – mehr kann mein schweres Herz nicht – recht wohl lebe, viel besser als ich – weine nicht so oft wie sonst, damit du mich nicht etwan verlassen mußt. – Denn ich ginge dann auch.« – Lauter und feierlicher fuhr er fort: »Denn wir können nicht mehr geschieden werden – hier unter der Ewigkeit reich' ich dir mein Herz – und wenn es dich vergisset: so zerquetsch' es ein Schmerz, der über die zwei Welten reicht«... (Leiser und zärtlicher) »Weine morgen nicht, Engel – und die Vorsehung gebe dir Ruhe.« – Wie ein Verklärter an eine Verklärte neigte er sich zurückgezogen an ihren heiligen Mund und nahm in einem leisen andächtigen Kusse, in dem die schwebenden Seelen nur von ferne mit aufgeschlagnen Flügeln zitternd einander entgegenwehen, mit leiser Berührung von den zerflossenen weichenden Lippen die Versieglung ihrer reinen Liebe, die Wiederholung seines bisherigen Edens und ihr Herz und sein Alles – – –

– Aber hier wende die sanftere Seele, die die Donnerschläge des Schicksals zu sehr erschüttern, ihr Auge von dem gelben großen Blitze weg, der plötzlich durch das stille Eden fährt! –

*


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