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Aufopferung – Valetreden an die Erde – Memento-mori – Spaziergang – Herz von Wachs
Es gibt einen Schmerz, der sich mit einem großen Saugestachel ans Herz legt und Tränen durstig zieht – das ganze Herz rinnt und quillt und drückt zuckend die innersten Fasern zusammen, um zu einem Tränenstrom zu werden, und fühlt den Zug des Schmerzens nicht unter der tödlich-süßen Ergießung... So tödlich-süß schmerzte unsern Viktor Klotildens Brief.
Aber tödlich-bitter war der des Lords. »O dieser müd-gequälte Geist« – rief er aus – »sehnte sich ja schon auf der Insel der Vereinigung nach Toten-Ruhe – ach er ist gewiß schon aus der schwülen Erde geflohen, die ihm so klein und drückend vorkam.« War das: so waren alle Schwüre, an deren Erlassung Flamins Leben hing, ewig gemacht und dieser verloren. Wars nicht, so war wenigstens keine Zurückkehr zu hoffen, da Emanuels Tod und Geständnis, Flamins Gefangenschaft und alle bisherigen Zufälle, die der Lord alle erfahren konnte, seinen ganzen schön liniierten Plan ausgestrichen hatte. Jetzo riefs laut in Viktors Seele: »Rette den Bruder deiner Geliebten!« – Ja, es war ein Mittel dazu da; – aber der Meineid wars. Wenn er nämlich den beging, daß er dem Fürsten entdeckte, wer Flamin sei: so war er erlöset. Aber sein Gewissen sagte: Nein! – »Der Untergang einer Tugend ist ein größeres Übel als der Untergang eines Menschen – nur Sterben, aber nicht Sündigen muß sein – soll es mich noch mehr kosten, mein Wort zu brechen, als mich bisher kostete, es zu halten?«
Bekanntlich war am Tage der heurigen Tag- und Nachtgleiche, wo er die zwei Londner Blätter empfangen hatte, ein kalter schneidender regnender Sturm, aus dem nachher der Sommer gleichsam zum zweitenmal aufblühte. – Viktor grübelte weiter nach. Er zog jenen großen Tag auf der Insel der Vereinigung noch einmal mit allen Minuten vor sich und fand, daß er dem Lord durchaus geschworen hatte, immer zu schweigen, ausgenommen eine Stunde vor seinem eigenen Tode. Wir werden noch wissen, daß er sich diesen besondern Artikel damals ausbedungen, weil er einmal Flamin zugeschworen hatte, sich mit ihm von der Warte zu stürzen, wenn sie sich feindlich trennen müßten, und weil er jetzt, da ihm Klotildens Verschwisterung berichtet wurde, voraus befürchtete, es könne zu jenem Trennen und Stürzen kommen. Dann wollte er sich wenigstens die Freiheit vorbehalten, nur eine Stunde vor dem Sterben seinem Freunde zu sagen, daß er unschuldig und die Geliebte Flamins nur eine – Schwester sei.
»Also eine Stunde vor meinem Tode darf ich alles offenbaren? – O Gott! – Ja! – – Ja! – ich will sterben, damit ich reden kann!« rief er entzündet, pochend, aufgeweht, über das Leben gehoben. – Der Sturmwind schlug die Gießbäche des Himmels und die zerstäubten Eisfelder an die Fenster, und der Tag sank dunkel unter in der zusammenschlagenden Flut..... »O!« (sagte unser Freund) »wie sehn' ich mich aus diesem schwarzen Sturm des Lebens hinaus – in den stillen lichten Äther – an die feste unbewegliche Brust des Todes, die den Schlaf nicht stört....«
Wenn er dem Fürsten es entdeckte, daß Flamin sein eigner Sohn sei: so war dieser errettet, und er brauchte nur eine Stunde darauf sich – umzubringen.
Und das wollt' er gern; denn was hatt' er auf der Erde noch als – Erinnerungen? O der Erinnerungen zu viel, der Hoffnungen zu wenig! – Wen kümmert sein Fall? – die Geliebte, die ihn doch entbehret, oder ihren Bruder, den er rettet und fliehet, oder seinen guten Lord, der vielleicht schon im Erdball ruht, oder seinen Emanuel, dessen liebende Arme schon zerfallen? – »Ja bloß diesen geht mein Sterben an,« (sagt' er:) »denn er wird sich sehnen nach seinem treuen Schüler, er wird in einer Sonne die Arme öffnen und auf den Weg zur Erde niederschauen, und ich werde heraufkommen mit einer großen Wunde auf der Brust, und mein strömendes Herz wird nackt auf der Wunde liegen – o Emanuel, verschmäh mich nicht, werd' ich schreien, ich war ja unglücklich, seit du gestorben bist, nimm mich an und heile die Wunde!«
– »Siehst du meinen Vater?« sagte der blinde Julius, und sein Angesicht nahte sich einer lächelnden Entzückung. Viktor erschrak und sagte: »Ich rede mit ihm, aber ich sehe ihn nicht!« – Aber dies hemmte sein Erheben. Er war bisher der Paraklet und Krankenwärter des armen Blinden gewesen; er konnt' ihn nicht verlassen, er mußte den Retraiteschuß des Lebens verschieben auf Klotildens Ankunft, damit diese den Hülflosen beschirme. Ach der gute Nachtwandler und Nachtsitzer (im eigentlichen Sinn) hatte anfangs jeden Tag seinen Viktor gebeten, ihm ins Auge zu stechen und das Licht wiederzugeben, eh' sein teuerer Vater auseinandergefallen wäre, damit er das schöne, von Würmern noch nicht untergrabene Angesicht nur einmal sähe, nur noch einmal, ja er wollte wenigstens die kalte Larve blind betasten – das hatt' er anfangs gebeten; aber in wenig Wochen hatt' er seine Arme unter dem Toten weggezogen und sie ganz (wie ein wahres Kind) mit aller seiner liebkosenden Liebe um den immer bei ihm zu Hause bleibenden Viktor geschlungen. Auch in der Nacht reichten sie sich aus ihren zwei nahen Betten die warmen Hände zu und gingen, so verknüpft, in die Abendländer der Träume hinein. Den kindlichen Blinden hatte sogar das fortklingende Getöse des Stadtgetümmels, das seinem Dorfe abgegangen war, getröstet....
Viktor erwartete also vorher die Ankunft Klotildens – ach, er hätt' es auch ohne den Blinden getan. – Mußt' er nicht seine gute Mutter noch einmal sehen, seine unvergeßliche Geliebte noch einmal hören? – Ich kann es übrigens nicht verheimlichen, daß ihm nicht bloß die Rettung Flamins, sondern eigentlicher Lebensekel die Hand bei seinem Todesurteil führten. Im Urteil des mörderischen Ekels standen als Entscheidgründe der Sonnenuntergang Emanuels – Viktors geläufige Nachtgedanken über unser Lukubrieren des Lebens – seine gänzliche Umstürzung seiner bürgerlichen Verhältnisse – das ähnliche vergangene oder künftige Muster des Lords – sein Lechzen nach einer Tat voll Stärke – und am meisten die Todeskälte um seine nackt gelassene Brust, die sonst von so vielen warmen Herzen zugedeckt wurde. Man kann Liebe und Freundschaft nur so lange entbehren, als man sie noch nicht genossen hat – aber sie verlieren und ohne Hoffnung verlieren, dies kann man nicht, ohne zu sterben. Seinem Gewissen macht' er den optischen Betrug und Theaterstreich vor, daß er es fragte, ob er nicht seinen Freund aus dem Wasser mit Gefahr des Lebens holen, ob er nicht vom Brette, das nur einen trüge, in die Wellen stürzen dürfe, um den Tod zum Kaufschilling eines andern Lebens zu machen. – Zwei sonderbare Vorstellungen versüßeten ihm seinen Todes-Entschluß am meisten.
Die erste war, daß er am Todestage (nach der Entdeckung beim Fürsten) hingehen könnte ins Gefängnis zu Flamin und seine Hand anfassen und sagen dürfte: »Komm heraus – heute sterb' ich für dich, damit ich dir beweisen kann, daß Klotilde deine Schwester war und ich dein Freund – ich lösche das schwarze Wort, das erst am Todestage vergeben werden kann, mit meinem unschuldigen Blute aus, und der Tod drückt mich wieder in deinen Arm. – O ich tu' es gern, damit ich dich nur noch einmal recht lieben und zu dir sagen kann: mein guter, teuerer, unvergeßlicher Jugendfreund!« – Dann wollt' er ihm mit tausend Tränen um den Hals fallen und ihm alles vergeben: denn neben dem Tode und nach einer großen Tat kann und darf der Mensch dem Menschen alles, alles verzeihen.
Die weichere Seele errät leicht die zweite Versüßung seines Todes. – Diese, daß er noch einmal zur Geliebten hingehen und es vor ihr denken, obwohl nicht sagen konnte: ich falle für dich. Denn er fühlte es jetzo doch, daß die beschlossene Scheidung durch das Leben zu schwer sei und nur eine durch Sterben leicht – o recht leicht und süß, empfand er, ists, vor der Geliebten das nasse Auge zu schließen, dann nichts mehr weiter anzusehen auf der Erde, sondern mit den hohen Flammen des Herzens und mit dem an die Brust gedrückten teuren Bilde, wie die eingesargte Mutter mit dem toten Liebling, blind an den Rand dieser Welt zu treten und sich hinabzustürzen ins stille, tiefe, dunkle, kalte Totenmeer... »Du bist«, sagt' er oft, »in mein Ich gemalt, und nichts macht dein Bild von meinem Herzen los; beide müssen, wie in Italien Mauer und Gemälde darauf, miteinander versetzet werden.« – Und da er jetzo nichts mehr nach seinem Körper zu fragen brauchte: so durft' er die Tränen, die ihn zerrütteten, absichtlich vorreizen – er wollte ordentlich etwas von seinem Leben Klotilden bringen – daher macht' er einige Tage hintereinander die Proberolle der blutigsten Abschiedszene bis zur Erschöpfung und zeichnete seinen Schmerz mit Dinte ab und sagte zu sich, wenn ihn darüber Kopfschmerzen und Herzklopfen befielen: »So kann ich doch etwas für sie leiden, wenn sie es auch nicht weiß.« –
Hier ist ein solches Trauerblatt:
»O du Engel! Tät' es dir nur nicht zu wehe, so ging' ich zu dir und füllete vor deinen Augen mein Herz so lange mit Tränen an, mit Bildern der schönern Zeit, mit den bittersten Schmerzen, bis es zersprengt wäre und sänke – oder ich erlegte mich in deiner Gegenwart, ach es wäre süß, wenn ich mein Herz mit Blei zerschlitzte, indem es an deinem Busen lehnte, und wenn ich mein Blut und Leben an deiner Brust abrinnen ließe. – Aber o Gott! nein, nein! Sondern, Gute, lächelnd will ich zu dir gehen, wenn du wiederkömmst – lächelnd will ich vor dir weinen, als wär' es bloß vor Freude über deine Wiederkehr – nur die Federnelke mit dem roten Tropfen werd' ich von dir bitten, damit mein geschmücktes Herz unter der letzten Blume des Lebens verwese. – Ich werde wohl so nah vor dir bluten, himmlische Mörderin, wie die Leiche vor der Mörderin, aber doch nur innerlich, und jeder Bluttropfe wird bloß von einem Gedanken auf den andern fallen. – Dann endlich werd' ich lange verstummen und gehen und auf immer und nur sagen und mehr nicht: ›Denk' an mich, Geliebte, aber sei glücklicher als bisher.‹ – – Wo werd' ich dann gehen nach einer Stunde? Ich werde gehen auf dem öden stummen Wege zum giftigen Buo-Upas-BaumDieser Giftbaum steht in einer kahlen Wüste, weil er alles um sich tötet, und der Missetäter reiset einsam zu seinem Gift, aber kehret selten zurück. , zum einsam stehenden Tode, und dort ganz allein sterben, ganz allein. – – Die Toten sind Stumme, sie haben Glocken, und ein Stummer wird im Blauen schweben und die Totenglocke läuten... O Klotilde, Klotilde, dann ist unsere Liebe auf der Erde vorüber!«
*
Kennst du, Leser, noch die Stimme, die in seinem Innern allzeit unter dem Weinen der Musik im Tonfall der Verse erklang? Hier klingt sie wieder. – Aber sein Orkan des Entschlusses machte bald sanfteren Taten und Stunden Platz, so wie der Herbststurm der Tag- und Nachtgleiche sich in stille Nachsommertage auflösete. Der Gedanke: »In einigen Wochen flüchtest du unter die Erde« machte ihn zum Freigebornen und zum Engel. Er verzieh jedem, sogar dem Evangelisten. Er füllte seine kleine Sphäre mit einem Lebens-Nachflor von Tugenden; und widmete seine kurzen Stunden nicht süßen Phantasien, sondern dürftigen Kranken. Er untersagte sich jeden Aufwand, um seinem Julius das väterliche Vermögen ungeschmälert zu lassen. Er war weder eitel noch stolz. Er sprach freimütig über und gegen den Staat; – denn was ist so nahe neben dem Sturm- und Wetterdache des Sargdeckels wohl zu fürchten? – Aber eben weil er bloß die Liebe zum Guten und keine Leidenschaften und keine Feigheit in seinem Innern spürte: so widerstand er sanft und ruhig; denn sobald nur der Mensch für sich selber überführt ist, daß er Mut für den Notfall verwahre: so sucht er nicht mehr ihn vor andern auszukramen. Der Gedanke des Todes machte ihn sonst zu humoristischen Torheiten geneigt; jetzo aber nur zu guten Handlungen. Ihm war so wohl, ihm erschienen die Menschen und die Szenen um ihn in dem milden stillenden Abendlichte, worin er beide allemal in den Krankheiten seiner Kindheit erblickte. Es schien, als wollt' er (und es gelang ihm) durch diese Frömmigkeit sein Gewissen zur leserlichen Unterschrift seines eigenhändigen Todesurteils bestechen. Wie dem verewigten Emanuel kamen ihm die Menschen wie Kinder vor, das Erdenlicht wie Abendlicht, alles sanfter, alles ein wenig kleiner, er hatte keine Angst und Gier; die Erde war sein Mond: jetzt erriet er erst die Seele seines Dahore....