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Eine Charakterskizze.
Auf der unermeßlichen, von den heißen Sonnenstrahlen versengten Pußta bietet sich dem Auge des Wanderers nirgends ein Ruhepunkt dar. So weit das Auge reicht, kein Haus, kein Baum, kein Strauch, nichts als Weidetriften, bedeckt von eigentümlichem, bräunlichgrünem Grase. Nirgends Bewegung, kein Ton wird laut, weit und breit tiefe, geheimnisvolle, überwältigende Stille. Müde, suchend irrt das Auge umher – plötzlich leuchtet es freudig auf. In unmittelbarer Anschaulichkeit erblickt es eine Stadt voll prunkender Paläste, hochragender Türme und schlanker Minarets inmitten üppiger, märchenhaft schöner Gärten; zwischen den Palastreihen wälzt ein silberglänzender Fluß seine erfrischenden Wellen und über demselben lustwandeln auf hochgewölbten, luftigen Brücken schöne, festlich geputzte Menschen. Der erschöpfte Wanderer beschleunigt seine Schritte und eilt in fliegender Hast dem erquickenden Bilde zu; allein je mehr er eilt, desto mehr scheint es sich zu entfernen, bis es endlich am Horizonte ganz zerrinnt. Es war die déli-báb, die neckische Fee der Pußta, die Fata Morgana, die ihr Spiel mit ihm getrieben.
Eine solche déli-báb ist die Jókaische Muse. Aus dem nervenzerrüttenden Leben führt sie uns hinaus in das wundersame Land der Phantasie, wo uns die berauschenden Düfte seltener Blumen umwehen, der Anblick nie geahnter Pracht und Herrlichkeit erquickt und der erfrischende Hauch eines urwüchsigen und kräftig pulsierenden Lebens stärkend wie ein Stahlbad durchströmt. Dabei trägt diese Muse echt magyarisches Gepräge; denn was Jókai erzählt, ist von ungarischem Geiste durchtränkt; seine Gedanken, seine Anschauungen, seine Sprache sind spezifisch ungarisch, sind aus der Tiefe der Volksseele hervorgeholt. Und in diesem Umstande liegt der Grund seiner so großartigen Volkstümlichkeit, wie sie in gleicherweise wohl keinem Schriftsteller der Welt zu teil wurde. Von der Hütte des armen Bauers bis hinauf zu dem Palaste des reichen, mächtigen Magnaten ist er überall heimisch, jedem einzelnen teuer als die Verkörperung des ungarischen Volksgeistes.
In nimmer müder, rastloser Thätigkeit schrieb Jókai in einem nun schon siebenundvierzig Jahre umfassenden Zeitraume mehr als dreihundert Bände Romane und außerdem mehrere Bände Gedichte, Theaterstücke und Geschichtswerke. So fabelhaft dies klingt, erscheint es noch unbegreiflicher, wenn man bedenkt, wieviel Zeit ihm seine Stellung als Abgeordneter (er ist einer der bestrickendsten Redner), als Chefredakteur des »Nemzet«, einer großen, zweimal täglich erscheinenden politischen Zeitung, als Redakteur der ungarischen Ausgabe der »Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild« und noch zahlreiche andere Ämter und Würden rauben. Dabei gebietet Jókai über eine so verblüffende Fülle des Stoffes, daß er, um diesen aufzuarbeiten, nach seinen eigenen Worten, noch weitere vierzig Jahre brauchte; und seine schier unerschöpfliche Phantasie scheint nach jedem neugeschaffenen Werke, gleich Antäus, so oft er die Erde berührte, doppelte Kraft zu gewinnen.
Es ist wahr, er hat auch einen Mitarbeiter: nämlich das Publikum selbst. Denn was nur an charakteristischen Daten und Einfällen im Laufe der Tagesgeschichte sich ergiebt, das senden ihm von allen Seiten unbekannte Freunde und Verehrer zu. Wo immer er im Lande hinkommt, bringt man ihm die Sagen und Geschichten entgegen, die sich an die Gegend knüpfen. Altertumsforscher, Historiker machen ihn auf romantische Episoden aufmerksam, welche mit geschichtlichen Ereignissen verknüpft sind und führen ihn auf die Spur rätselhafter, geheimnisvoller Gestalten; so daß er sagen kann: die ganze Nation arbeite mit ihm. Wohl ist es wahr, daß sich diese Mitarbeiterschaft nur auf die Anregung reduziert; da erhält der Dichter einen Accord, eine Endkatastrophe, und muß nun dazu den vorhergegangenen Roman erfinden; allein sie illustriert am besten seine Volkstümlichkeit und sein tiefes Wurzeln im Nationalcharakter.
Jókai arbeitet fabelhaft schnell. Wenn er sich an den Schreibtisch setzt, hat er den ganzen Roman im Kopfe schon fertig ausgearbeitet, bis auf den geringsten Dialog, und bringt vom selben täglich fast zwei Druckbogen ohne Streichung oder Korrektur zu Papier. Hat ihn die eine Arbeit ermüdet, so nimmt er zur Erholung eine andere vor.
Jókais Stoffgebiet näher zu erörtern, würde den Rahmen einer Skizze weit überschreiten, denn es umfaßt alles und jedes, was das Leben darbietet; allein in den meisten seiner Werke ist ein charakteristisches Merkmal unverkennbar: seine Vorliebe für das Seltsame, Absonderliche, Außerordentliche. Von diesem Hange läßt er sich oft zu dem Fehler verleiten, den Boden des Natürlichen zu verlassen, so daß über das reale Leben in seinen Werken mitunter das phantastische, spukhafte Element die Oberhand gewinnt. Die angeborene Lust des Magyaren am Fabulieren bricht sich dann inmitten des künstlerischen Schaffens des Dichters Bahn und seine Phantasie reißt ihn mit sich fort in das Land der Märchen. Jedoch was wiegt dieser Fehler neben der Summe von glänzenden Eigenschaften, durch die uns der geniale Dichter gefesselt hält!
Nur wenige Romanciers verstehen die Kunst, das Interesse des Lesers aufs äußerste zu spannen in dem Maße wie er. Durch stets neue ungeahnte Verwickelungen wird da der Leser in Atem gehalten, und vermag das Werk nicht früher aus der Hand zu legen, bevor er es nicht bis zur letzten Zeile zu Ende gelesen hat. Und noch eine kostbare Gabe hat Jókai vor den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart voraus: den köstlichen Humor, in welchen er seine Gestalten taucht.
In neuester Zeit indessen ist der Meister unter die Naturalisten gegangen. Seine jüngsten Werke sind Spiegelbilder der Wirklichkeit. Allein obwohl er hier bis in die tiefsten Tiefen der menschlichen Gesellschaft hinabdringt, bleibt seine Sprache dennoch immer vornehm und edel und auch seine lebenswahr geschilderten Gestalten sind nicht wie bei den meisten Anhängern der naturalistischen Schule abstoßend und anwidernd, sondern Menschen, wie sie wirklich leben, mit guten und schlechten Eigenschaften, und unserem Empfinden nahegerückt durch den sonnigen Humor, mit welchem er abstoßende Härten mildert. Wir empfinden ihre Leiden, Kämpfe und Bitternisse mit und ihre Erfolge und Freuden erfüllen auch unser Herz mit einem freudigen Gefühle.
Zu den interessantesten Schöpfungen Jókais gehört der vorliegende Roman: »Die Dame mit den Meeraugen«. Interessant nicht nur durch die geschätzten Vorzüge des Dichters, die in diesem Werke voll zur Geltung gelangen, sondern auch durch den Umstand, daß es der Roman des eigenen Lebens ist, den er hier veröffentlicht.
Jókai, der in der Vollkraft seines Schaffens steht, ist einer der liebenswürdigsten und bescheidensten Menschen. In seinem Benehmen ist er einfach und offen, und liebt auch bei anderen eine gerade, ehrliche Sprache, die ihm als Merkmal der Männlichkeit gilt; was ihn jedoch sehr bald in Harnisch bringen kann, das ist ein ihm gespendetes Lob. Er selbst äußert sich darüber wie folgt:
»Das Lob bringt den selbstbewußten Dichter in Zorn. Er ist kein Student, den man wegen seiner Verse belobt und weiß recht gut, daß er erobern kann; sage es ihm nicht. Bist du eine Frau, so reiche ihm eine Blume, bist du ein Mann, so drücke ihm die Hand, aber sage ihm ja nicht, daß sein Gedicht schön gewesen, denn das verbittert ihn.«
Nun denn, so drücken wir ihm huldigend die Hand.