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7.
Chataquée

Die Modeblumen haben ein kurzes Leben, in Paris ist der Ruhm nicht mit Unsterblichkeit verbunden.

Sagen wir nach einem Verlauf von einigen Monaten, wie viel Gegenstände des allgemeinen Gesprächs oder besser Löwen des Tages es giebt.

Eine Nachricht begräbt die andere, und wer heute Götze war, ist morgen das Opfer auf dem Altar eines neuen Götzen.

Also vom 1. April bis zum 5. war der Verfasser von la belle laitière der Modeheld, vom 5. bis zum 8. Lord Burlington, der den Bären spielte und den Jäger niederschlug, vom 9. bis zum 10. Debrys Kammerdiener, dem sein Herr anstatt des halbjährigen Lohnes ein Lotterielos gab, das mit einem Treffer von achtzigtausend Francs herauskam; der Kammerdiener begann sogleich ein gleiches Leben wie sein Herr zu führen, kaufte Kutschen und Pferde, etablierte ein Hotel, nahm eine Loge in der Opéra comique und machte den Balletttänzerinnen den Hof. So konnte er leicht ausrechnen, daß er nach vier Monaten, das ist am 10. August, keinen Sous mehr haben werde, weshalb er seinen ehemaligen Herrn, den Marquis Debry, rechtzeitig bat, er möge statt seiner keinen andern Kammerdiener nehmen, weil er bald wieder zu ihm zurückkehren werde.

Um die Mitte des Monats April war wieder Fürst Ivan Gegenstand des Tagesgesprächs; er hatte nämlich gehört, daß die berühmte Tänzerin Vestris durch seine Güter reisen werde und gab Befehl, daß in jener Stadt, deren Grundherr er ist, von allen Gasthäusern die Schilder abgenommen werden sollten und ein Gasthausschild an seinem Palast angebracht werde; so getäuscht, stieg die berühmte Künstlerin da ab, wo der Fürst als Wirt mit der weißen Schürze und die Kappe unterm Arm sie empfing und bediente. Erst bei ihrer Abreise sagte er, wer sie bedient habe.

Diesem folgte im Weltruhm Mademoiselle Grignon, die, eine junge »Ratte« (das stumme Personal bei der Oper), einen jungen Dandy, der sie betrogen hatte, im Palais royal vor allen Leuten mit einer Reitpeitsche traktierte.

Ihr Ruf wurde wieder von einem mangeur de petits enfants (Kinderfresser) verschlungen, der wegen einiger Mordthaten damals geköpft wurde. Denn auch das genügt, um in die Mode zu kommen.

Der Ruf des Geköpften wurde von dem Hunde Aubrys verdunkelt, der das ganze Publikum in fieberhafte Begeisterung versetzte, dem Hunde folgte Abellino Karpáthi, der ihn für fünfzigtausend Francs niederschoß.

Hierauf folgte der Mainvielle-Catalani-Krieg, von welchem man am meisten sprach, bis zum 10. August. Damals trat, wie er es vorausgesagt hatte, Debrys Kammerdiener wieder in die Dienste seines Herrn, mit dem er vier Monate hindurch im Kavalierleben gewetteifert hatte; alle diese Tagesereignisse wurden aber bald von einem Namen verschlungen, der, wie seltsam er uns schon klingt, dem Franzosen doppelte Pein verursacht, der genötigt ist, seinen Sprachwerkzeugen alle mögliche Gewalt anzuthun, um das Wort Chataquela aussprechen zu können.

Anfangs September sprach schon niemand mehr von etwas anderem, als von der wunderbaren Chataquela und es gab keinen braven Menschen, der nicht irgendein neues Abenteuer von ihr zu erzählen gewußt hätte, ob es nun wahr oder erdichtet war.

Nach dem Klang zu urteilen, könnte ich die Leser lange raten lassen, was das eigentümlich klingende Wort bedeute, ein Nilpferd, einen arabischen Taschenspieler oder einen australischen Vogel; dieses wie Mühlengeklapper klingende Wort konnte alles bedeuten, nur nicht ein vernünftiges Wesen.

Und doch ist's der Name einer der schönsten Frauen, die je unter dem tropischen Himmel gezeugt wurden.

Chataquela war die Tochter eines afghanischen Kriegshäuptlings und geriet im Krieg mit den Engländern schon als Kind in Gefangenschaft. Sie gelangte aber auch bald zur Herrschaft, denn die nach Europa verpflanzte, tropische Pflanze beherrschte da jedes Männerherz.

Sie war eine neue, fremdartige Schönheit, die vom Gewohnten so sehr abwich und mit ungewohnten Reizen ein unbekanntes Entzücken erregte.

Ihr Teint war wie Silber mit Gold vermengt, glänzend, aber nicht unangenehm gelb, durchsichtig, so daß man die Adern sah und aus ihrem Gesichte leuchtete das stumme Spiel der Leidenschaften. Das Weiße ihrer Augen war bläulich, ihre schwarzen Augensterne Quellen strahlenden Feuers, ihr in vier lange Zöpfe geflochtenes Haar war glänzend schwarz, ins Bläuliche hinüberspielend. Ihre Lippen waren so klein, rot und schwellend, wie eine gespaltene Kirsche, ihr Wuchs schlank und kräftig. Aber was sind Gesicht, Wuchs und Augen? Was ist die tote Beschreibung gegen einen ihrer Blicke? Wer könnte das unauslöschliche Feuer dieser Augen schildern, das leuchtet und brennt, peinigt und verzehrt, beglückt und bezaubert? Hätte der Maler mehr Mut, seinen Pinsel, der Dichter die Feder zu ergreifen, wenn er diese Lippen lächeln sähe? Von anderen Reizen nicht zu sprechen. Und wer könnte sie wahrhaft beschreiben, da das wunderbare Weib in jedem Augenblick eine andere Gestalt annimmt; noch nie hatten zwei Männer gleiche Begriffe von ihr, und wenn zehn beisammen sind, so wird sie jedem anders erscheinen, dem einen sanft, dem andern heldenhaft, dem dritten kokett, dem vierten kindisch, hier behutsam, dort unachtsam, heute bis zur Ausgelassenheit lustig, morgen träumerisch und melancholisch und deshalb schwärmen die Männer so sehr für sie.

Übrigens wollen wir mit dem allen gegen Chataquela kein Vorurteil erwecken, sie gehörte nicht zu den Modeschönheiten, zu den Entretenues und anderen leicht zugänglichen Damen; sie war ein Muster der Moral und der strengsten Tugend – nach afghanischen Begriffen.

Wir müssen daher diese kennen lernen.

Im Ehekodex der Afghanen sind für die offiziellen Liebesbündnisse wenig Formen festgesetzt. Das Ganze besteht daraus: wenn einem Mann ein im Zustand der Freiheit befindliches Frauenzimmer gefällt, so schickt er ihr seinen Leibgürtel und wenn sie ihn behält und ihm den ihrigen schickt, so ist die Ehe geknüpft. Wenn nun eine Dame den Gürtel eines Mannes trägt, so weiß man, daß sie dessen Gattin ist; der Mann ist verpflichtet, dem nächsten Bonzen ein Geschenk darzubringen und erhält von diesem dafür einen Segen.

Die Scheidung geht mit eben den einfachen Formalitäten vor sich. Diejenige Partei, welcher die Verbindung nicht mehr gefällt, löst sich den Gürtel vom Leibe und schickt ihn der andern Partei, von welcher sie ihn erhalten – und dann sind beide frei. Beide Parteien können sich aufs neue verheiraten, so oft es ihnen gefällig ist. Aber wehe der Frau, die, so lange sie den Gürtel eines Mannes trägt, ihre Hände von einem anderen Manne berühren ließe; die afghanischen Sitten sind streng! eine solche Frau wird als Ehebrecherin betrachtet und auf dieser Erde vorläufig nur lebendig eingegraben, aber jenseits wird sie von Talihameha mit den großen Zähnen in tausend Stücke zerrissen und jedes Stück muß dieselbe Pein fühlen.

Nach diesen Begriffen der Moral war Chataquela das vollkommenste Weib unter allen denjenigen, die je in den Gebirgen des Dhavalagiri erzogen worden sind.

Ihr erster Mann war ein englischer Oberst gewesen, der sie nach London gebracht hatte; aber hier nahm er die Tochter eines Lords zur Frau und gab der Afghanin nach der oben beschriebenen Formalität den Abschied.

Von da ab erfreute sich Chataquela bei Siov, der Liebesgöttin der Afghanen, der größten Gunst – bei der Göttin, die mit zwölftausend Ohren abgebildet wird, damit sie alle Seufzer hört, die an sie gerichtet werden.

Zwei Jahre hindurch gab es in den Hauptstädten der Welt keinen berühmten Menschen, der sie nicht als legitime Gattin besessen hätte und Chataquela beobachtete gegen alle die pflichtgemäße Treue und weibliche Tugend, bis sie es für gut fand, sich von ihnen zu trennen.

In letzter Zeit war sie einem Manne nach Griechenland gefolgt und focht den Befreiungskrieg mit; bei Gelegenheit eines Kampfes lernte sie den genialen Geistesriesen Byron kennen, beehrte diesen mit ihrem vielgewanderten Gürtel, trennte sich von ihrem bisherigen Mann und kam mit dem Dichter wieder nach London.

Kaum sind ein paar Wochen verflossen, seitdem sie von der britischen Hauptstadt nach Paris gekommen ist und schon spricht jedermann von ihr. Ihre Schönheit übertrifft alles bisher Gesehene, ihre Eigentümlichkeiten sind hinreißend.

Man weiß, welche endlose Liebe in diesem Herzen lebt und wie schwer es ist, diese zu erreichen.

Ihr ist es nicht genug, daß jemand reich sei, Chataquela kann für denjenigen, den sie liebt, leiden, entbehren, sie kann ihm, wenn es sein muß, als Magd dienen; aber den sie liebt, der muß liebenswürdig sein, denn sie hat Liebe niemals geheuchelt.

Sie hat einen Mann. Das ist nach europäischen Begriffen eine sehr heikelige Sache, denn ein mit einer verheirateten Frau begonnenes Verhältnis kann nicht mit der Ehe endigen; der Liebhaber kann sich bei uns nicht diesen, wohl aber den doppelten Genuß verschaffen, daß er sich selbst Freude und einem andern Ärger bereitet. Aber Chataquela entsagt der Treue gegen ihren Mann nur aus Liebe zu ihrem folgenden Manne; jedem andern ist sie unzugänglich.

Das wäre übrigens auch nicht viel, man könnte sie heiraten und sich binnen gewisser Zeit von ihr wieder trennen; aber es ist nicht leicht, die Afghanin zu besiegen. Die europäische Courtoisie ist zu arm, um ihren Launen zu entsprechen, man muß vor ihr ein Held, tapfer, geistreich, aufopfernd sein; sie stellt die Leute auf die Probe und wer die Probe nicht besteht, den lacht sie aus.

Man muß sich um sie bemühen, um sie kämpfen, aber wie süß ist es, sie zu besitzen.

Das giebt den Leidenschaften den größten Reiz; dieser lockende Genuß, der sich nahe hinstellt und doch fern ist, wie die Blumen, die am Meeresgrunde erscheinen, die man mit den Händen fassen zu können meint und die doch so fern sind.

Sie reizte die ganze elegante Jugend, jeder wollte die Stelle ihres neuen Mannes einnehmen, was aber jetzt schwerer ist, denn der frühere besitzt noch ihre Liebe, nämlich Lord Byron, und der steht so hoch über den Löwen seiner Zeit, daß jeder verzweifeln muß, dem es in den Sinn kommt, das Andeuten des Dichters im Herzen seines Weibes zu verlöschen.

Dennoch hörten die jungen Riesen nicht auf sie zu lieben, jeden Tag bestürmten sie die Säle und das Herz der schönen erotischen Frau; die Säle standen offen, aber ihr Herz war verschlossen. Sie erregte nur Durst, linderte ihn aber nicht. Sie spielt, tändelt, unterhält sich mit ihnen, wie etwa mit dressierten Tieren; im Klub erzählt jeder der jungen Männer, wie weit er schon gekommen sei, aber wenn sie das Resultat untersuchen, so finden sie, daß sie dort stehen, wo sie im Anfang gestanden haben.

*

Eines Abends brach in der Straße Mouffetard Feuer aus.

Damals waren die Feuerlöschanstalten noch nicht so wohl geordnet, wie heutzutage, man mußte viel läuten und trommeln, und so alles, was gesunde Hände und Füße hatte, zusammenrufen.

Die Straße Mouffetard ist ganz geeignet, daß ein in ihr entstandener Brand für die Umgegend gefährlich sei.

Sie ist ein Knäuel von wunderbar gestalteten Häusern, von denen einige älter sind als dreihundert Jahre, unterbrochen durch mehrere enge Gäßchen, wie die St. Medard-, die Arras-, die Oursinegasse, die nur für Fußgänger zu passieren sind. Ein Haus ist ebenerdig, das andere dreistöckig; alle sind alt und verfallen; an über die Gasse gespannten Stricken hängen die Laternen und beleuchten ein Labyrinth, in welchem sich nur die ärmste Volksklasse zurecht findet, und da hier ohnedies niemals eine Equipage oder Postkutsche durchfährt, so sind die Gassen an mancher Stelle so enge, daß die Fußgänger an die Wand gedrückt werden, wenn es sich trifft, daß doch einmal ein Wagen durchfährt.

Zwischen den zerfallenen, mittelalterlichen Häusern erhebt sich ein ungeheures Gebäude mit roten Ziegelwänden und ungeheuren, dicht nebeneinander stehenden Fenstern; das ist die Gobelinfabrik, welche der Bevölkerung der ganzen Straße Arbeit giebt; hier arbeiten diese Leute tags über und nachts gehen sie Lumpen sammeln.

An einem Ende der Straße steht das Hospital la pitié, ein Gebärhaus für die vom Elend oder dem Verbrechen heimgesuchten Frauenzimmer, am andern Ende steht das Spital la bourbe für die sterbend Eingebrachten und das Gefängnis Saint Pelagie für die zum Tode Verurteilten. Für die Bevölkerung dieser Straße ist also gesorgt von der Wiege bis zum Grabe.

Kaum ertönte die Feuerglocke der Saint Medardkirche, als das erschrockene Volk eine ungeheuere schwarze Rauchsäule aufsteigen sah, die später von roten Flammen durchzuckt wurde.

Das Volk eilte sogleich von allen Seiten nach dem in Gefahr befindlichen Stadtteile; die Glocken antworteten einander mit ihren Schrecken erregenden Tönen, welche von der Glocke der Notredamekirche am grauenhaftesten übertönt wurden.

Vom Pantheonplatz konnte man das Feuer am besten sehen, das in dem dichten Häuserknäuel ungehemmt um sich griff; hierher eilte die elegante Welt in prächtigen Equipagen oder zu Pferde, um das Schauspiel anzustaunen; die Damen hielten Flacons bereit, um, wenn es nötig ist, in Ohnmacht zu fallen. Die Herren begossen sich an einem Brunnen ihre Kleider, um dann zu sagen, daß sie löschen geholfen hätten.

Hier konnte man auch die offene Kutsche Chataquelas sehen; sie war von eleganten Reitern umgeben, unter welchen wir Abellino, Fennimore, den Vicegespanssohn und andere bekannte Landsleute sehen; Lord Burlington sitzt auf dem rückwärtigen Kutschbock und übersieht mit einem langen Fernrohr die ganze Aussicht; die übrigen Reiter stiegen wie Adjutanten umher, um der Dame Nachrichten zu bringen, die in einem prächtigen Kaschmirkleide, in die Kissen des Wagens nachlässig zurückgeworfen sitzt; ihren feinen Reisstrohhut hat sie herabgenommen, hält ihn an den Bändern und sieht starr nach dem Schauplatz des Brandes hin.

Die meisten unter jenen, die ihr Nachrichten bringen, sind nicht weiter geritten, als in die nächste Gasse und hielten es für gut, sich dort vor dem Volksgedränge zurückzuziehen; nur Fürst Ivan nahm sich die Mühe, sich mit der Reitpeitsche Bahn zu brechen und durch die fluchende Canaille zu reiten. Nach einer kurzen Weile kehrte er wieder zurück.

– Das Feuer nimmt überhand, sagte er, sich zu Chataquela vorbeugend, binnen kurzem wird es die Medardkirche ergreifen, was ein großartiges Schauspiel sein wird.

– Giebt es hier keine mutigen Männer, die das verhindern könnten? fragte die Dame.

– Was können sie ohne Spritzen thun? Man kann die größeren Spritzen nicht durch die engen Gäßchen bringen. Ich mußte soeben über ein Paar gute Jungen von uns lachen, ich glaube, es waren junge ungarische Magnaten, die sich mit einer Gartenspritze, mit der man die Raupen von den Bäumen spritzt, abgaben; freilich konnten sie damit kaum die Fenster des brennenden Hauses benetzen.

– Und giebt es denn da keine größere Feuerlöschmaschine?

– Im Hofe des Pantheon steht eine, aber es sind keine Pferde da, welche sie hinziehen.

– Da ist leicht zu helfen, sagte Chataquela, und winkte ihrem Kutscher, nach dem Pantheon zu fahren.

Dort angekommen, ließ sie ihre prachtvollen englischen Vollbluthengste ausspannen und an die ungeheure Spritze spannen, die eben eine Schar junger Männer fortschleppen wollte.

Jetzt warf Chataquela ihren Strohhut weg, schürzte ihre gestickten Ärmel auf, sprang auf den Sitz der Spritze und ergriff selbst das Leitseil.

– Ah, riefen ihre Begleiter erstaunt, Sie wollen doch nicht selbst die Spritze hinführen?

– Was soll ich denn thun? Ich kann doch nicht hier in der unbespannten Kutsche sitzen.

Hiermit hieb sie mit der Peitsche auf die Pferde und die schwere Spritze rollte donnernd über das Pflaster nach der Straße Mouffetard. Die elegante Welt schüttelte skandalisiert den Kopf: welch eine Sucht sich auszuzeichnen!

Der begleitende Dandyschwarm blieb nach und nach zurück und war bald durch die nachdrängende Volksmenge von der Spritze abgeschnitten. Der seltsamen Spritzendame wurde mit allgemeinem Hurrah Platz gemacht, die eleganten Reiter aber wurden zurückgedrängt.

Chataquela bemerkte gar nicht, daß sie allein, ohne ihre Anbetersuite auf dem Schauplatz des Brandes angelangt war.

Hierher, hierher, Madame! rief sogleich eine Stimme neben ihr mit edlem Ausdruck, und Chataquela erblickte einen nach der neuesten Mode gekleideten jungen Mann, der aber ganz durchnäßt und eingerußt war, den Pferden in die Zügel fiel und sie nach einer Ecke zu lenken strebte, wo einige andere, ebenfalls elegant gekleidete, junge Männer sich bemühten, mit Hilfe einer schlechten Spritze das gegenüberstehende Haus vor dem um sich greifenden Feuer zu bewahren.

Das war der gefürchtetste Punkt. Wenn das Feuer hierher dringt, dann ist die Medardkirche verloren. Mehrere Arbeiter in Blusen waren unter der Anführung eines jungen Kavaliers auf das Dach des Hauses geklettert, um dieses abzureißen.

Chataquela kannte hier niemanden; diese jungen Männer mögen zu der vornehmsten Welt gehört haben, aber sie war ihnen niemals begegnet; doch jene kannten das schöne Weib wohl und einer von ihnen rief sie beim Namen und dankte ihr ohne Kompliment für den Dienst; derselbe sprang, nachdem die Spritze in die Ecke gebracht worden war, hinauf, ergriff den Schlauch und richtete den Wasserstrahl mit großer Geschicklichkeit auf das über ihnen brennende Dach.

Die Wirkung wurde sogleich wahrgenommen; die Flammen begannen hier abzunehmen, aber um so mehr Funken zu sprühen. Ungefähr zwölf nebeneinander stehende Häuser brannten zugleich.

Plötzlich wurde mitten unter dem Lärm der Menge lautes Wehklagen gehört.

Aus der Gobelinfabrik kam ein Schwarm von Weibern, die Hände ringend und mit dem Ausdruck der größten Verzweiflung; den umstehenden Männern gelang es mit schwerer Mühe, sie zurück zu halten, daß sie nicht ins Feuer rannten.

– Was fehlt diesen Weibern? fragte Chataquela einen Arbeiter, der sich ihr eben näherte.

– Die Armen pflegen, wenn sie in die Fabrik zur Arbeit gehen, gewöhnlich ihre Kinder in einen Hof zu bringen, wo ein altes Weib dieselben bewacht. Jetzt hat sich das alte Weib gewiß entfernt und unterdes die Kinder eingesperrt, die jetzt alle verbrennen.

– Man muß sie retten!

– Man kann zu dem Hof nicht hingelangen, weil alle Häuser ringsherum brennen; ausgenommen es ginge jemand über das Dach der brennenden Häuser, die Gäßchen, die hinführen, sind mit brennendem Schutt verrammelt.

Es schien wirklich, als ob man mitten in dem Lärm und der Verwirrung das Weinen der Kinder hörte.

– Meine Herren, das ist schrecklich! rief Chataquela den Umstehenden zu, hören Sie nicht das Weinen? Giebt es kein Mittel, die Kinder zu retten?

– Es giebt eins, sprach kalten Blutes jener junge Mann, der das schöne Weib zuerst angesprochen hatte; wir müssen an das vor uns stehende Haus eine Leiter lehnen, unter dem fortwährenden Spielen der Spritze auf das Dach dringen, dort läßt ein Mann den andern an einem Strick hinunter in den Hof und an demselben Strick werden die Kinder eins nach dem andern heraufgezogen und dann von Hand zu Hand in Sicherheit gebracht.

– Gut, sprach der Arbeiter, aber wer wird es wagen, auf das Dach des brennenden Hauses zu klettern?

– Ich! rief der Kavalier, ohne seine Züge zu verändern.

– Aber wer wird der andere sein, der sich von dort hinabläßt in die Gefahr, wo er zu Grunde geht, wenn Sie ihn verlassen? wer wird sich Ihnen anvertrauen?

– Ich, ich! rief Chataquela eifrig. Bringt schnell eine Leiter und einen Strick! Und ohne sich lange zu besinnen, schnallte sie die Agraffe auf, die ihr Kleid vorn zusammenhielt und legte das Kaschmiroberkleid ab, ohne zu bedenken, daß sie unter den Umstehenden ein größeres Feuer anschürte, als das, welches auf den Häusern lohte. Ihr prächtiger Wuchs wurde durch nichts verhüllt, als durch ein an den Schultern ausgeschnittenes feines Hemd und durch weite türkische Beinkleider aus Seide, die nach indischer Sitte nur bis zu den Knieen reichten, dort an die Beine gebunden und mit breiten Spitzen umsäumt waren.

Die Umstehenden vergaßen einen Augenblick das Löschen.

Chataquela nahm die gefährliche Wirkung nicht wahr, die sie hervorbrachte und rief mit starker, schallender Stimme: Vorwärts, meine Herren! bringt die Leiter, die Mütter weinen um ihre Kinder, eilt!

Meiner Treu, dieses Weib hat das Herz am rechten Fleck, brummte der Arbeiter forteilend und brachte bald mit seinen Kameraden eine lange Leiter und einen Strick zurück. Die Leiter wurde an das Haus gelehnt, den Strick nahm die schöne Frau um den Leib und winkte dem jungen Manne voranzugehen.

Das Hurrahgeschrei der Menge begleitete die beiden Kühnen. Die Weiber knieten vor dem gegenüberstehenden Hause nieder und warteten betend den Erfolg ab.

Die beiden gingen ohne zu zögern hinauf. Der junge Mann war schon bis zum brennenden Dach gelangt. Er winkt der Dame mit der Hand, sie möge ein wenig zurückbleiben. Er mußte erst unter einem brennenden Tragbalken durchkriechen. Jetzt erreicht ein gut gezielter Wasserstrahl den Balken und dem jungen Manne gelingt es, den schnell gelöschten Teil zu ergreifen und den Balken aus dem Wege zu räumen. Hierauf reicht er der Dame hinter ihm die Hand und diese springt kühn auf die glühende Mauer. Dieses Weib ist entweder mit den guten oder den bösen Geistern im Bunde.

Derselbe Wasserstrahl, von dem untenstehenden jungen Kavalier geleitet, folgt den beiden durch das Feuer Schreitenden, indem er ihnen teils Bahn bricht, teils den Rücken frei hält, Ah, es gelang ihnen, bis zur Feuermauer vorzudringen. Der junge Mann sucht einen Platz, mit den Füßen an die Mauer stampfend, um zu sehen, ob sie nicht schon morsch sei. Den unten Stehenden winkt er mit der Hand beruhigend, daß die Kinder sich im Hofe befinden. Jetzt windet sich Chataquela den Strick vom Leib, bindet ihn mit Hilfe des jungen Mannes an einen hinausragenden Tragbalken, mit dem andern Ende um ihren Leib und wird von dem jungen Mann langsam hinabgelassen; wenn dieser nur einen Augenblick feig ist, so ist das Weib verloren – und dieses alles geschieht mitten unter einem Regen glühender Kohlen und mitten in dichtem Rauch. Die Menschen da unten verstummen in gespannter Erwartung und Staunen. Der junge Mann hat sich auf ein Knie niedergelassen und muß den Strick mit beiden Händen halten, um seine Last nicht zu rasch hinabsinken zu lassen; in diesem Augenblick beginnt ein über seinem Haupte brennender Balken sich langsam zu ihm hinabzuneigen, der junge Mann sieht es wohl, daß der Balken auf ihn fallen müsse. Unten bricht ein Schrei des Entsetzens aus, gleich wird der Retter zerschmettert sein. Der junge Mann kann seine Hand nicht vorhalten, noch kann er auf die Seite treten, denn er muß den Strick halten; er sieht nur ruhig zu, wie sich der brennende Balken gegen ihn neigt. Durch sein Beispiel ermutigt, eilen mehrere die Leiter hinan, aber zu spät! Der Balken ist niedergestürzt, doch der junge Mann hat sich geschickt zur Seite geneigt und der Balken fiel zu seinen Füßen nieder, kaum ein Haar breit entfernt.

Mittlerweile waren schon mehrere mutige Männer aufs Dach gelangt. In diesem Augenblick gelangte Chataquela in den Hof hinab. Die Kinder hatten sich alle unter einem großen Akazienbaum versammelt, der sie mit seinem Laub bisher gegen den Feuerregen geschützt hatte. Es waren ihrer ungefähr vierundzwanzig.

Chataquela band schnell einen kurzen Knüttel an das Ende des Strickes, setzte zwei Kinder darauf, schärfte ihnen ein, sich an den Strick festzuhalten und winkte dem oben stehenden jungen Manne.

Dieser zog die beiden Kinder hinauf, welche dann von den übrigen Arbeitern von Hand zu Hand die Leiter hinab gereicht wurden.

Seht nur die Freude jener Mütter, die ihre Kinder zuerst erhalten haben, seht ihr Entzücken; wie sie sie an die Brust drücken, wie sie weinen und sich vor Freude zur Erde werfen; die übrigen beten tiefatmend, Gott möge den Rettern beistehen.

Der junge Mann zog wieder zwei Kinder herauf; nach und nach konnte jede Mutter ihr Kind umarmen. Schon sind die letzten zwei in den Händen der Männer. Aber ach, ein Kind fehlt noch. Es ist das letzte, das kleinste, ein in den Windeln liegender Säugling, der gewiß in der Stube vergessen wurde; es ist das Kind eines jungen, neunzehnjährigen Weibes, dessen Mann erst in diesem Jahre gestorben ist und das jetzt am Boden liegt, sich aus Verzweiflung die Haare ausraufend. Der junge Mann winkt schon den auf dem Dach stehenden Männern, daß sie sich entfernen und scheint jetzt beim Heraufziehen des Strickes eine größere Kraft zu verwenden, als bisher. Es scheint, daß er diesmal kein Kind heraufzieht. Das junge Weib blickt mit brechendem Herzen gen Himmel, als wollte sie dort ihr Kind suchen, als rings um sie ein ungeheures Freudengeschrei erdröhnt; die schöne Frau war auf die Feuermauer gelangt, das vermißte Kind im Arme.

Nach einigen Augenblicken kamen die beiden kühnen Retter die Leiter herab; nun brannte schon jedes Stockwerk des Hauses, aus allen Fenstern kamen Flammen.

Unten angelangt, legte Chataquela den Säugling an die Brust der jungen Witwe, hängte demselben den Diamantenfetisch um den Hals, den sie am Busen getragen hatte und eilte schnell fort, um ihr Überkleid anzulegen.

Wie schön war sie! Wie strahlten ihre Augen, wie heiter und selig war ihr Gesicht! Wie wird man sie in den Hütten der Armen segnen! wie wird man sie in den Salons wegen ihrer Seiltänzerei-Bravour verspotten!

In diesem Augenblick stürzte die Hälfte des Hauses mit großem Gekrach zusammen. Wenn das zehn Minuten vorher geschah, so waren beide Retter begraben.

Indes war das Feuer auf dieser Seite erstickt und wurde auf der andern Seite energisch gelöscht.

Jetzt war Chataquela mit ihrem Gespann zu ihrer Kutsche zurückgelangt und ihre Diener sprangen hinzu, um ihr in den Wagen zu helfen.

Sie blickte um sich, als ob sie jemanden suchte; aber ihr Gefährte und die beiden andern mutigen jungen Männer waren nirgends zu sehen; sie waren in demselben Augenblick, in welchem die schöne Frau den geretteten Säugling seiner Mutter zurückgab, unter der Volksmenge verschwunden, wahrscheinlich, um den Danksagungen zu entgehen.

Chataquela erkundigte sich vergebens nach ihnen bei den Umstehenden, niemand kannte sie; aber wie gern hätte sie gewußt, wer jener junge Mann sei, dem sie so leichtsinnig ihr Leben anvertraute und der es mit so starker Seele behütete.

Einige behaupteten, sein Jäger, der mit war, habe ihn als Grafen tituliert.

So muß sie doch irgendwo mit ihm zusammentreffen, ausgenommen er ist ein Ascet oder ein Puritaner, der die Kreise, in welchem sie sich bewegt, geflissentlich meidet.

Wie gern möchte sie mit ihm noch einmal zusammentreffen, vielleicht bloß, um ihm zu sagen: »Sie sind ein wackerer Mann!«

Wie wir bereits angedeutet haben, wird man in den besseren Kreisen über diese akrobatische Produktion genug Witze machen. Im Klub der jungen Riesen ist der der glücklichste, welcher auf diesen Vorfall den besten Witz zu machen weiß. Wären sie auch dabei gewesen, so wäre das Werk eine Heldenthat, so aber ist sie eine Badinage, über die man lachen muß.

Chataquelas That wurde mit hunderterlei Zusätzen und Veränderungen erzählt, nur konnte man nicht angeben, wer der unbekannte Held gewesen sei, der ihr dabei geholfen. Also ist denn jener Mensch so gar nicht eitel, daß er sich nicht beeilt, sich irgendeinem Zeitungsschreiber zu entdecken? oder wenn er aus den besseren Kreisen ist, daß er sich da seiner That nicht rühmt? Wenn er ein gemeiner Mensch ist, warum eilt er nicht, sich von der Regierung seinen Lohn zu holen – und von Chataquela, wenn er ein Aristokrat ist?

Der Unbekannte wurde nicht entdeckt.

Eines Mittags war man eben im besten Scherzen über diesen Gegenstand; Abellino führte im Erkerzimmer das Wort, anwesend waren die bekannten Habitués: Lord Burlington, Rudolf, Fürst Ivan, Marquis Debry, Fennimore u.s.w.

– Wir sind ihm auf der Spur, meine Herren, sagte Abellino. Ich habe psychologische Daten, daß der Unbekannte aus den adeligen Kreisen sei.

– Laß hören! riefen mehrere.

– Also, als Chataquela demjenigen tausend Dukaten anbot, der ihr ins Feuer folgen werde, da rührte sich niemand, aber als sie rief: »Einen Kuß dem Manne, der mit mir kommt!« fand sich gleich ein Unternehmer. Beweist das nicht, daß es einer von uns ist?

– Hihihi! lachte der Vicegespanssohn, der die gute Gewohnheit hatte, über die schlechten Witze anderer zu lachen. Nun hat er den Kuß erhalten?

– Lassen Sie mich sprechen, Monsieur, sprach Abellino verächtlich, der wohl wußte, daß man in Ungarn die Vicegespane nicht mit Eure Excellenz tituliere und den es daher sehr verletzte, daß der Sohn eines solchen ihm in die Rede fiel.

– Der Sage nach, fuhr er dann fort, hat unsere Heldin dem unbekannten Manne zu besserer Beglaubigung angesichts des ganzen Volkes den versprochenen Kuß gegeben.

Allgemeines Gelächter, an welchem Rudolf nicht teilnimmt; er las unterdessen ein englisches Journal.

– Dieses Frauenzimmer mag große Lust haben, im Feuer zu küssen, bemerkte Fürst Ivan.

– Wie denn nicht! sprach der unverbesserliche Vicegespanssohn, der glaubte, er sage dem Fürsten Ivan hiermit etwas Neues, die indischen Weiber lassen sich doch mit den Leichen ihrer Männer verbrennen, das ist ihnen nur ein Spaß.

– Ich glaube kaum, daß Chataquela einem ihrer gewesenen oder künftigen Männer diese Ehre erweisen werde, erwiderte Abellino lachend, worauf die andern ebenfalls lachten.

Auf diese Bemerkung stand Rudolf von seinem Sitz auf und näherte sich der Gesellschaft.

In seinen schönen, bleichen Zügen drückten sich jetzt Lebensüberdruß, Ärger, Menschenhaß und Verachtung so lebhaft aus, daß diejenigen, die ihn anschauten, unwillkürlich zu lachen aufhörten. Sein Blick war besonders gegen Karpáthi gewendet.

Kaum könnte man eine bizarrere Gruppe malen, als diese beiden Gesichter, die sich jetzt gegenseitig anblickten. Einerseits ein leichtsinniges, unverständig hochmütiges, lachendes Gesicht, andererseits das starre, scharfblickende Gesicht mit seinem kalten, bittern Lächeln, das jenen zurückzuweisen scheint. In den Gesichtern dieser beiden Männer könnte ein Physiognom lesen, daß diese beiden einst erbitterte Feinde sein werden.

– Wetten wir, mein Herr, daß das, was Sie gesagt haben, nicht wahr ist, sprach Rudolf, zu Karpáthi gewendet.

– Wie! fragten mehrere, über Rudolfs seltsames Benehmen erstaunt.

– Wetten Sie, sprach Rudolf, Karpáthi starr ins Gesicht sehend, daß die Dame, von der wir sprechen, fähig ist, sich im Todesfalle ihres Mannes zu töten.

– Ah ça, das ist eine seltsame Wette. Sprechen Sie sich deutlicher aus. Die Zeit macht hier einen großen Unterschied, denn die Hauptfrage ist, daß Chataquela um jene Zeit noch jung sei.

– Mein Antrag ist kurz und bald auszuführen. Ich heirate dieses Weib; das ist das erst. Dann werde ich sorgen, daß ich bald sterbe, das ist das zweite. Chataquela wird nach mir sterben, das ist das dritte; und dann sind Sie verpflichtet, sich auf eine Ihnen beliebige Weise ums Leben zu bringen. Das ist das vierte.

– Ah, das ist eine Thorheit! rief Ivan; ihr sprecht so leichtfertig von dem Leben zweier edlen Menschen, als ob man zwei Kegel umwerfen wollte.

– Das ist ein prächtiger Spaß! behauptete der Lord. Ich bedaure sehr, daß er nicht von mir herrührt, oder daß Rudolf kein Engländer ist. Übrigens glaube ich, daß er sein Wort halten wird.

Abellino lachte nach Art derjenigen, die unter dem Lachen ihre Angst zu verbergen suchen.

– Mein Herr, Sie müssen mir glauben oder mit mir wetten; sprach Rudolf kalt, ihm die Hand hinstreckend.

– Was soll ich glauben?

– Daß Chataquela nach ihrem Manne sterben könnte, oder Sie müssen wetten – Leben um Leben!

– Die Wette steht! rief Abellino lachend und ergriff die ihm dargebotene Hand.

– Auf das Wort eines Edelmannes, sprach Rudolf.

– Auf mein Wort als Edelmann! bekräftigte Abellino lachend.

– Sie haben es gehört, sagte Rudolf zu den Umstehenden; wenn ich mein Versprechen nicht halte, so halten Sie mich für feig, wenn jenes Weib ihrer Pflicht nicht treu ist, so lachen Sie mich aus; wenn aber beides geschieht, so werden Sie gewiß sehen, daß Bela Karpáthi sein Wort nicht halten wird. Bis dahin ist es eine Ehrensache, das Geheimnis zu bewahren.

Hiermit nahm er seinen Hut und entfernte sich.

Abellino machte bei diesen letzten Worten ein langes Gesicht und fing an, sich darüber zu ärgern, daß die jungen Riesen diese Wette für einen guten Spaß hielten. Indes war er einmal darin und gezwungen, die Großmut anzunehmen.

Diese Wette war eine prächtige Sache, nur war es für die Anwesenden traurig, daß sie nicht plaudern durften. Rudolf machte es zu einer Ehrensache und so war es natürlich, daß die betreffende Dame von der Sache nichts erfahren konnte.

Es wird viele geben, die diese Wette für eine Übertreibung halten, aber wir versichern, daß in den höheren Kreisen das Leben wohlfeil ist; ein Wort, ein Blick ist genug, um zu töten und zu sterben. Arme Leute können für ihr Leben Sorge tragen, aber für große Herren schickt sich das nicht, für moderne, blasierte Gemüter ist es gar ein Verbrechen. Ein armer Mensch ist für sein Leben seiner Familie, seinem Vaterlande und seinem Gott verantwortlich; große Herren leben der Meinung, daß sie das nicht zu thun verpflichtet sind.

Doch halt! hier giebt es doch eine Ausnahme! Monsieur Karpáthi ist für sein Leben doch jemandem verantwortlich, seinem Gläubiger.

Mr. Griffard erfuhr die Wette, denn er muß doch alles wissen, sei auch das Geheimnis hinter Schloß und Riegel, unter einem diplomatischen Siegel, im Sanktuarium oder durch ein Ehrenwort bewahrt. Indes bleibt es doch geheim, denn er plaudert es nicht weiter.

Herr Griffard also erfuhr, der Spaß sei so ernst geworden, daß, wenn Rudolf die Bedingnisse der Wette erfüllt, Karpáthi genötigt sei, sich den Folgen zu unterziehen, sonst habe jeder der Anwesenden das Recht, ihn, wo er ihn findet, niederzuschießen; und Lord Burlington hatte ihn schon im voraus damit getröstet, daß, wenn er, Karpáthi nämlich, nicht den Mut habe, sich das Leben zu nehmen, er, der Lord, ihm mit seinem Mut dienen wolle – und der Lord trifft mit der Pistole einen Thaler in einer Entfernung von fünfzig Schritten.

Also diese Wette gefiel dem Bankier durchaus nicht. Er suchte Karpáthi persönlich auf und warf ihm vor, daß er ihren Vertrag schon gebrochen habe, indem er sich in ein lebensgefährliches Abenteuer einließ.

– Pah! hier ist die Lebensgefahr so fern, wie der Mond, sprach Abellino. Zuerst muß Rudolf die Chataquela heiraten, nach afghanischer Ceremonie; aber können Sie glauben, daß ihm dieses gelingen werde? Dieses eigensinnige Weib wollte den britischen Dichter nicht für mich vergessen, noch für andere, die alle reiche, generöse, elegante Kavaliere sind; wird sie für Rudolf es thun, der ein melancholischer, spleenbehafteter Sonderling mit Yankeemanieren ist? Das ist kaum wahrscheinlich; aber vorausgesetzt, es geschieht, kann man von diesem verständigen Menschen voraussetzen, daß er sich umbringen werde, bloß um die Wette zu gewinnen? das ist von Rudolf nur Prahlerei, die sich fügen wird, wenn es zur That kommt. Endlich das auch noch zugegeben, bleibt die Unmöglichkeit, daß Chataquela sich umbringe, weil dies in Indien so Sitte ist. Das ist ein psychologisches Absurdum. Ein Weib, das schon fünfzig Männer gehabt hat, von welchen doch einige gestorben sind.

– Aber Sie müssen bedenken, daß sie sich von ihnen noch bei deren Lebzeiten getrennt hat und so hatte sie die religiöse Verpflichtung nicht.

– Ei, lassen Sie mich in Ruhe!

Hiermit wandte er dem Bankier den Rücken und pfiff.

Das ist eine sehr gute Antwort wenn man nichts mehr zu sagen weiß.

*

Das indische Weib suchte indes mit der Glut der Leidenschaft ihren unbekannten Ritter allenthalben, sie wütete und verzweifelte, als sie ihn nirgends fand.

Des Tags fuhr sie fortwährend in den Straßen von Paris herum, dinierte in öffentlichen Speisesälen, nahm ihr Eis in den besuchtesten Kiosks, abends ging sie ins Theater und belorgnettierte jedes Männergesicht; vergebens! nirgends war der, den sie suchte. Das ist zum Verzweifeln, unter einer so unendlichen Volksmenge eine Gestalt zu suchen, die man nur einmal gesehen hat und die dann spurlos verschwunden ist. Wer kann er sein? Welchen Grund hat er, sich vor ihr zu verbergen? Giebt es denn niemand, der ihn kennt? warum spricht doch niemand von ihm? Er stand ihr schon so nahe, drückte ihr die Hand, er warf sein Leben hin, um ihres zu erhalten, und sie vergaß, nur ein Wort mit ihm zu sprechen, ihn zu fragen: wie heißen Sie mein Herr? Wann werde ich Sie wieder sehen? Wie glücklich wäre sie jetzt, wenn sie die Antwort auf diese Fragen hätte!

Ganze Nächte durchwachte sie. Ihre alte Amme, die Zauberin Hyurmala unterhält sie mit indischen Zaubereien, durch welche prophezeit werden soll, wer der Jüngling gewesen sei und ob sie ihn wieder sehen werde.

Die alte Duenna stellt auf das niedrige Tischchen die indische Flasche. Es ist das ein bauchiges Glasgefäß mit einem engen, langen Halse, voll von einer dicken, aber krystallhellen Flüssigkeit. Dann gießt die Zauberin durch die enge Mündung eine helle, goldgelbe Flüssigkeit; der Inhalt der Flasche verdunkelt sich sogleich, als ob sie mit Wolken gefüllt wäre, die sich auf den Grund der Flasche drängen, immer dunkler, immer schwärzer. Sobald der wolkenartige Knäuel den Grund erreicht hat, beginnt sich das Innere der Flasche wunderbar zu beleben, Gestalten kommen und gehen, sie ändern die Gestalt, werden kleiner, stoßen einander weg und erscheinen der erhitzten Phantasie als bekannte Gesichter, Häuser, Städte. Die dunkeln Gegenstände werden plötzlich von allen Farben des Regenbogens durchzogen, das Grün der Wiesen und der Purpur der Morgendämmerung spielen miteinander, die beweglichen Gestalten erhalten eine zauberhafte Beleuchtung, bald wird ihre Bewegung langsamer, die Gegenstände verschwimmen ineinander, die schönen Farben erbleichen, die Wunder verschwinden und die Flasche wird von einer undurchsichtigen, fahlen Flüssigkeit erfüllt.

Die alte Hyurmala, deren Gesicht durch die Zeit völlig vergilbt ist, beeilt sich, aus dem rätselhaften Chaos, das wir in der Flasche gesehen, zusammenhängende Geschichten herauszulesen. Sie erzählt ihrer Herrin, wo sich der unbekannte Jüngling jetzt befindet. Jetzt spaziert er auf blumigen Wiesen, wohin er tritt, da wird die Gegend grün und rot und verläßt er sie, so wird sie blau und lila. Wer sind die braunen Gestalten hinter ihm? Das sind gedungene Mörder, die ihn töten wollen. Aber der Wald schützt ihn, Gebüsche mit dunkelgrünem Laub bilden sich hinter ihm und niemand kann ihn verletzen. Dort geht eine blaßgelbe Gestalt, die sich durch die dunkeln Erscheinungen Bahn bricht, als ob sie jemanden suchte. Sie weichen sich immer aus. Kleine Kinderköpfe auf der Erde, kriechende Schlangen in der Luft ziehen ihm nach. Segen und Verleumdung. Jetzt nähern sie sich einander, die gelbe Gestalt bleibt stehen, die Kinderköpfe verwandeln sich in Rosen und bilden eine Laube rings um sie, die Schlangen werden Kugeln, die ihm um den Kopf fliegen. Sieh, sieh, jetzt drehen sie sich schnell umeinander, ach, jetzt werden sie bald zusammenkommen. Jetzt haben sie sich, sie fließen ineinander und wunderbare Erscheinung! Die ganze Flasche wird von Rosenschimmer erfüllt! Herrin, den du erwartest, der wird kommen und dich lieben. – Jetzt setzen sich die Gestalten, die Flüssigkeit erbleicht und wird dann wieder dunkel. – Und dann wirst du niemanden weiter lieben.

Chataquela hatte in derselben Nacht süße Träume, aber als sie des Morgens erwachte, fand sie die mit einem Elixir gefüllte Schale unberührt, also kommen die Träume von anderswo her.

Sie ließ sich ankleiden, ihr abenteuerliches Gemüt hatte sich eine eigene phantastische Mode ersonnen, ein Gemisch der Hindu- und der europäischen Tracht. Ihr niederfließendes Haar wurde durch ein weißes Stirnband zusammengehalten, ihr langes Kleid aus blaßgelber Seide ließ die Arme unbedeckt, die mit glatten, goldenen Armbändern geschmückt waren; die vorn offenen Volants ließen den wunderschönen, buntbewebten indischen Rock sehen; nur in den orientalischen Geweben sieht man ein so kühnes Gemisch der abstechendsten Farben, die dann doch zusammen ein harmonisches Ganzes bilden. In ihrer Brust wird das Kleid von einer dreifachen Spange zusammengehalten, um ihre Taille, die bis zur Hüfte reicht, hat sie einen mit Gold und Silber durchwirkten, roten Shawl gewunden, was von der damaligen Mode mit den kurzen Taillen geschmackvoll abwich.

Auf ihr Klingeln kommt Hyurmala herein und überreicht ihr, während ihr die Stubenmädchen das Haar flechten, die Karten der gestrigen Besucher, die damals nicht zu Chataquela gelangen konnten, weil sie krank war, vielleicht aber nur aus Laune.

Die Dame sieht die Karten der Reihe nach an. Lauter bekannte Personen, deren sie überdrüssig war. Doch eine ist darunter, mit einem Namen, den sie noch nirgends gehört hat. Der Familienname steht zuerst da und dann der Taufname, eine ihr völlig unbekannte Art. Die andern alle schreiben ja ihre Namen umgekehrt: Vicomte Abellino de Karpáthi, Comte Fennimore de l'ile de Szigetvar, Chevalier Charles de Calacci (nämlich Kalácsi). Warum ist dieser ein Sonderling und schreibt den Titel zuletzt: »Szentirmay Rudolf Báró?«

Die andern Karten fielen ihr alle aus der Hand, nur diese eine steckte sie in den Busen.

Wenn gerade der es wäre, den sie erwartet. Die Zauberflasche hat Gutes verkündet und das muß in Erfüllung gehen.

Arme Indierin! sie kannte nicht den Segen, daß man um das, was man wünscht, auch beten kann, sie wußte nicht, daß nur zauberischer Trug und vergängliche Träume ihre Seele beschäftigten.

– Laßt niemanden herein zu mir, sagte sie zu Hyurmala, nur den, der Herr dieser Karte ist. Hat er versprochen, wieder zu kommen?

Niemand erinnerte sich.

– Wie sah er aus? fragte die Dame mit schmachtender Neugierde.

Niemand konnte es sagen; sie hatten ihn nicht beachtet und beschrieben jetzt für ihn andere, die Chataquela gut kannte.

Der Mittag verging unter ruhelosem Sehnen; Kutschen, Kabriolets blieben von Zeit zu Zeit vor dem Hotel stehen, man hörte die Glocke des Portiers; dann fuhren die Kutschen wieder von dannen. Der Erwartete kam nicht.

Einmal läßt sich das Klingeln des Portiers wieder vernehmen und das scharfe Gehör der Indierin vernahm Männertritte auf der Treppe.

Ihr Herz fing an schneller zu schlagen.

Das ist er!

Sie setzte sich in die Ecke des Diwans, die Arme an die Brust gedrückt; sie wagte es nicht aufzublicken.

Sie hatte Angst und zitterte wie ein junges Mädchen, das den Bräutigam erwartet.

Die Fußteppiche knisterten, jemand schritt darüber herein.

Er war es! sie blickte nicht auf und doch wußte sie, daß er es sei.

Sie hatte ja schon oft so geträumt, der mutige Jüngling komme zu ihr; sein Gesicht, das während der Gefahr so kalt war, blickte zaubervoll auf sie, seine dem Tode trotzenden Augen leuchteten von Liebe, er setzte sich zu ihr, auch jetzt fürchtete sie, das alles sei nur ein Traum.

Aber er saß wirklich neben ihr, er, den sie gesucht und erwartet hatte und das war kein Traum mehr, der Atem des Jünglings berührte ihre Schultern.

Chataquela sprach flüsternd zu ihm, wie man es mit Traumbildern thut, damit sie nicht erschreckt verschwinden.

– Also Rudolf heißen Sie? wie quälte es mich, daß ich mir Sie nicht nennen konnte, ich sah nur immer Ihr Gesicht vor mir und konnte es nicht ansprechen.

– Ich habe auch viel an Sie gedacht, erwiderte Rudolf, in dessen Zügen wir auch jetzt nichts anderes, als die gewohnte Kälte sehen, den Zauber, die strahlenden Augen sah nur Chataquela mit den Augen der Liebe an ihm. Ein solches kaltes, bleiches Gesicht ist den Frauen sehr gefährlich. Die Männer wissen das nicht, aber die Frauen, welche lieben, wissen, daß so ein Gesicht zum Wahnsinn bringt.

– Wissen Sie, was ich damals dachte, als Sie mir in jener Gefahr Ihr Leben anvertrauten?

– Haben Sie an mich gedacht?

– Ich dachte, wenn die Kinder gerettet sein würden und nur Sie noch unten wären, anstatt Sie herauf zu ziehen, den Strick hinab zu werfen und mich nachzustürzen, damit wir unten zusammen im Feuer umkämen.

– Warum thaten Sie es nicht?, fragte die Frau mit unsäglich schmachtendem Ausdruck.

– Als die beiden letzten Kinder gerettet waren, riet es Ihnen Ihr Schutzgeist, in das brennende Haus zu gehen, und nachzuschauen, ob nicht noch jemand drin sei.

– Ja, mir war's, als ob mich jemand hineinzöge.

– Sie gingen hinein, brachten einen Säugling heraus und nahmen ihn mit herauf; da konnte ich meinen Vorsatz nicht mehr ausführen.

– Und das wäre mir eine große Freude gewesen. Die im Feuer sterben, die kommen gleich in die Sonne, die in der Erde sterben, müssen hingegen lange warten, so lange bis sie zu so kleinen Stäubchen aufgelöst sind, wie wir sie hier am Fenster tanzen sehen, welche die Sonne nach und nach zu sich heraufzieht; der schönste Tod ist im Feuer und in der Liebe, der Tod, welchen bei mir zu Hause die Frauen zu sterben pflegen.

Rudolf ergriff langsam die Hand des wundersamen Weibes.

– Chataquela, sei mein Weib.

Sie zitterte und vermochte nicht zu antworten.

– Geh zu deinem Mann zurück und scheide dich sogleich von ihm. Ich werde dir nachreisen, dich zum Weibe nehmen und dich lieben bis zu meinem Tode.

Sie erbleichte, ihre Lippen wurden weiß, fieberhaft zitternd sank sie zu den Füßen des jungen Mannes nieder, der, ihren schlanken Leib mit den Armen umschlingend, sie aufhob. Sie kam nicht eher zu sich, als bis sie an ihrem Nacken den Kuß seiner heißen Lippen fühlte. Dann sprang sie auf und hielt ihre Hände wie abwehrend vor sich hin.

– Was hast du gethan! rief sie mit dem Blick des Schreckens. Du hast mich geküßt, während ich nicht dein bin, ehe ich von meinem Manne geschieden war! die zürnenden Geister werden mich dafür strafen.

Nach einer Stunde war Chataquela auf der Reise nach Calais.

Rudolf versprach, ihr in zwei Tagen zu folgen.

Und hier ist es am Ort zu fragen: ob das Scherz oder Ernst sei und wenn es Ernst ist, worauf dieser beruhe.

Woher dieser Lebensüberdruß bei einem dreißigjährigen jungen Manne, diese Bizarrerie, diese Verachtung der Welt, diese excentrische Denkweise? Wir wollen diese Fragen beantworten.

Das ist nicht die Krankheit der Leber, sondern der Seele und zwar meistens großer Seelen, denn kleine Seelen finden sich in der Welt bald zurecht. Das ist der Fluch der Unthätigkeit, der auf allen ruht, denen das Geschick große Geisteskraft gegeben hat; aber sie mieden und suchten nicht den Wirkungskreis, der ihnen zugewiesen war und zur Strafe wurde ihnen ihre Geisteskraft zur Geißel, denn sie sahen die Welt für leer und was sie enthält für nutzlos an, sie hielten nichts für der Mühe, der Liebe, des Nachdenkens wert. Hätten sie es aber gesucht, so hätten sie gefunden, daß es etwas giebt, was der Mühe ihrer Arme, des Ringens ihres Geistes und der tiefsten Liebe ihres Herzens wert ist – und das ist – das Vaterland.

Zehn Tage waren seit Chataquelas Abreise verflossen und Rudolf wartete noch immer vergebens auf einen Brief von ihr, trotzdem sie ihm versprochen hatte, gleich nach ihrer Ankunft in London zu schreiben.

Endlich entschloß er sich, ihr nach London nachzureisen.

War es bloße Unruhe, war es wirklich Liebe, oder nichts weiter als einer jener Wünsche, die man in sich erst erweckte, weil man über den betreffenden Gegenstand lange nachgedacht hat?

Am Abend vor jenem Tag, an welchem er abreisen sollte, ging er ins Theater und bemerkte, daß er sich noch nie so gelangweilt habe, wie jetzt. Die ganze Welt kam ihm außerordentlich häßlich und dumm vor. Mademoiselle Mars hatte niemals so schlecht deklamiert, die Claque nie eine so ungeschickte Impertinenz entwickelt, die jungen Damen in den Logen hatten sich nie so kokett benommen und die jungen Riesen nie so viel Abgeschmacktheiten gesprochen, wie heute, er fühlte Ärger und Pein, wohin er immer sah, endlich sah er nirgends mehr hin, zog sich in den Hintergrund der Loge zurück und war vollkommen bereit mit dem ersten Besten, der zu ihm in die Loge trat, Streit zu beginnen.

Wirklich öffnete sich die Thüre, Rudolf blickte murrend zur Seite und sah den Grafen Stephan eintreten.

Jetzt ärgerte er sich noch mehr, daß er mit diesem nicht streiten konnte, denn er hatte Respekt vor ihm.

Der junge Graf blieb in der Thüre stehen und sagte: Ich bitte dich nur auf ein Wort, Eßékis sind hier, sie sind eben aus London gekommen, haben erfahren, daß du hier bist und die alte Frau möchte gern mit dir sprechen.

Rudolf machte zu dieser erfreulichen Nachricht ein unaussprechlich saures Gesicht; er stand so schwer auf von seinem Sitz, wie wenn eine große Last bewegt wird, hängte sich verdrießlich an Stephans Arm und ließ sich von ihm führen, wohin es diesen beliebte.

Graf Stephan öffnete vor ihm eine Parterreloge.

Die fragliche Familie war eine der vornehmsten Ungarns und zwei Mitglieder derselben befanden sich in der Loge; die Großmutter, die gemütliche Gräfin Eßéki, und deren siebzehnjährige Enkelin, mit welcher sie einen Winter in London zugebracht hatte.

Die alte Frau behielt noch immer die Mode aus der Zeit des Empires, das große gepuderte Dupé, das übrigens gesunden Matronengesichtern gut steht, die spitze Taille mit dem gestickten blumigen Gürtel, das enge Kleid mit den kurzen Ärmeln, den wie ein Pfauenschweif großen gemalten Fächer und die bis zu den Ellenbogen reichenden hirschledernen Handschuhe.

Sie nimmt den Ehrensitz ein, der Bühne gegenüber. Ihr gegenüber sitzt ihre Enkelin Flora; ein Gesicht voll hinreißender Schönheit und eines gewissen heitern Ernstes. Die Ruhe ihres Blickes, die schönen Züge ihres blassen, ovalen Gesichtes, das, wenn man lange darauf sieht, sich mit einem Glorienschein zu umgeben scheint, ihre schmalen Augenbrauen, ihre sanften Augen, ihre feingeschnittenen Lippen bilden ein harmonisches Ganzes voll so rührender Unschuld, daß bei dessen Anblick selbst der größte Zweifler wieder an weibliche Tugend glauben muß. Es ist eines der Gesichter, die, obwohl schön, doch keine Leidenschaften erwecken.

Die Bühne nimmt ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch und wie die beiden jungen Männer eintreten, grüßt sie dieselben mit leichtem Kopfnicken, und mit höflicher Aufmerksamkeit entzieht sie der Bühne ihre Blicke, ohne sie aber völlig den beiden Ankömmlingen zu widmen.

– Sie sind ein böser Mensch, sprach Frau Eßéki zu Rudolf mit scherzhaftem Tadel, wenn ich nicht bewaffnete Macht um Sie geschickt hätte, so könnten wir Sie gewiß nicht sprechen. Wir glauben, daß wir ihn im Theater treffen werden und er zieht sich, anstatt die Logen zu mustern, in die Ecke seines Diwans zurück und schaut nirgends hin; wie können Sie die schickliche Neugierde so sehr vergessen? Sie sind ein böser Mensch, Sie entfernen sich immer aus der Stadt, wenn wir ankommen, als ob Sie uns geflissentlich meiden wollten; aber jetzt haben wir Sie erwischt und Sie aufgesucht.

– Ich wäre schon gekommen, sagte Rudolf, als ihn die gesprächige Dame endlich zu Wort kommen ließ. Ich habe die Verehrung nicht vergessen, die ich Ihnen schuldig bin.

– Nur wäre es Ihnen schwer gewesen, sie zu beweisen, denn morgen reise ich in mein liebes Ungarn.

Über Rudolfs Züge flog ein sarkastisches Lächeln, als ob er sagen wollte: sie muß nach Hause reisen, weil man jetzt Raps einsammelt und die Schafschur hält, zu solcher Zeit muß eine gute Hauswirtin daheim sein.

Anstatt dessen sagte er aber: Euer Gnaden haben England zu früh verlassen, das lustige Leben, die Wettrennen, die Jagden, die Ausflüge zur See, die Belustigungen auf der Insel Jersey beginnen erst jetzt.

– Meine kleine Enkelin ließ mich nicht länger bleiben, im Winter hat sie immer wiederholt, sie möchte gern zu Hause sein.

Rudolf sah erst jetzt der kleinen Enkelin aufmerksam ins Gesicht; er hatte sie schon vor Jahren als kleines ungezogenes Mädchen oft gesehen und konnte jetzt sein Staunen über ihre ernste, jungfräuliche Schönheit nicht verbergen. Das Gesicht eines Kindes, das anfangs gar nichts verspricht, entwickelt sich zuweilen zu einem Ideal.

– Also Fräulein Flora, Sie haben sich in London gelangweilt? fragte er sie, erwartend, daß seine Worte sie in Verlegenheit bringen würden.

Indes hatte die gute Großmutter die liebe Gewohnheit, auf die an ihre Enkelin gerichteten Fragen selber zu antworten, indem sie nicht zugab, daß jemand das Kind in Verlegenheit bringe.

– Ah, mein Herr, wie hätte sie sich langweilen können? sie ist ja noch ein Kind, das an allem Vergnügen findet, sie hat noch weder einen Mann, noch Anbeter, um diese Langeweile zu kennen.

– Dieses Kompliment stecke ich im Namen des ganzen männlichen Geschlechts ein, antwortete Rudolf etwas besser gestimmt, den Frau Eßéki deshalb auszeichnete, weil sie in ihm unter allen ihr bekannten jungen Männern den besten und feinsten Gesellschafter fand.

– Also bloßes Heimweh, fuhr Rudolf fort, sich auf die Lehne eines Fauteuils stützend, ein romantisches Schmachten nach der gelblichen Theiß, ein Sehnen nach dem einförmigen Mühlengeklapper im Schatten der Tißa-Várader Pappeln, nach einem Spaziergang zwischen den Kornfeldern, nach den Zigeunergruppen am Ende des Dorfes, wo sie Maultrommeln schmieden und nach den sonntäglichen Erbauungen des hochwürdigen Herrn.

– Ach, mein Herr, fahren Sie in Ihren Sarkasmen nicht fort, fiel ihm Frau Eßéki ins Wort, wir gehen nicht nach Tißa-Várad, um die Mühlen klappern zu hören, und Sie haben sehr ländliche Begriffe vom Heimweh, wenn Sie glauben, daß man es nur zwischen den Kornblumen stillen könne, wir werden auch in Ungarn in einer großen Stadt leben.

– Um so schöner. Debreczin, Szegedin oder meinetwegen Holdmezövásárhely werden Ihnen die seltensten Genüsse bieten. Zum Beispiel in Debreczin mitten in der Stadt eine große Brücke, die sich durch die ganze Gasse hinzieht und die deshalb eine europäische Seltenheit ist, weil sie über den trockenen Boden führt.

– Sie täuschen sich wieder; wir ehren diese großen, Brot erzeugenden Städte, aber wir werden in Pesth wohnen.

– Ah, ich habe vergessen, daß auch Pesth in Ungarn liegt. Ich glaube, auch Euer Gnaden werden dort vergessen, daß Sie in Ungarn sind. Das ist ja keine ungarische Stadt, sondern eine deutsch-jüdische Kolonie, wo man nur im Köröser und Ketskeméter Hof bei Gelegenheit der Wochenmärkte ein ungarisches Wort hören kann.

– Sei es so, mein Herr. Mit uns werden einige mehr dort sein, von denen man ein ungarisches Wort hören wird. Ich hatte schon längst eine bizarre Idee und wartete nur, bis meine Enkelin aufwachsen würde. Jetzt werde ich in Pesth meinen bleibenden Aufenthalt nehmen. Da Pesth ohnedies wenig Prachtgebäude hat (1822), so lassen wir auf einem der vornehmsten Plätze der Stadt ein großartiges Palais aufführen. Zum Sommeraufenthalt wählen wir die Ofener Gebirge und werden trachten, jede Arbeit durch heimische Künstler und Handwerker ausführen zu lassen; fähigen Dichtern, Künstlern geben wir Gelegenheit, in Pesth leben zu können und wir werden ein großes Haus führen, wo alles Fremde verbannt sein wird; die Modewelt wird auf unseren Tischen ungarische Blätter finden, in unseren Konversationszimmern ungarische Gespräche und in unseren Salons ungarische Musik hören. Oder glauben Sie, daß es uns nicht gelingen werde, einen Kreis zu bilden?

Bei dieser Frage blickte Frau Eßéki stolz auf ihre Enkelin.

– Ganz gewiß, antwortete Rudolf, auch ich wäre der ewige Satellit von Euer Gnaden, wenn ich das Glück hätte, von gleichem Heimweh beseelt zu sein.

– Lieber Rudolf, sprach Frau Eßéki ernst, indem sie seine Hand ergriff, Sie begehen ein Unrecht gegen sich selbst, wenn Sie Ihr heiligstes Gefühl verleugnen. Dieser traurigen Erscheinung begegnet man kaum anderswo, als in unseren Kreisen. Ich übersehe die Reihe der Logen und finde fünf, sechs ungarische Magnaten, die beständig hier wohnen, hier ihr Vermögen und was noch mehr ihre Geisteskraft verschwenden; aber wie viel könnten sie zu Hause nützen! Sehen Sie, ich verstehe keine Politik, ich weiß nicht, ob unsere Magnaten in Ungarn eine Rolle zu spielen haben, aber das weiß ich, daß, wenn ein Volk gerade von denjenigen verlassen wird, welche die Reichsten und Vornehmsten sind, es verarmen und abnehmen muß.

– Andere könnten noch nützen, gnädige Frau, erwiderte Rudolf mit kaltem Lächeln, aber was kann ich thun, ich bin ein unnützer Mensch.

– Nicht so, lieber Rudolf, das weiß ich besser. Ich kenne das Leben, weil ich schon lange lebe. Die Lebensweise unserer Herren ist folgende: Bis zu ihrem sechzehnten Jahr sind sie Kinder, von denen spricht man nicht, da lernen sie Gutes und Schlechtes untereinander; von sechzehn bis zwanzig sind sie träumerisch, dichterisch oder wenigstens schmachtend verliebt; von zwanzig bis fünfundzwanzig stürzen sie sich in alle Freuden der Welt, sie werden wilde Freudenjäger und wenn sie zuletzt glauben, allen Genüssen auf den Grund gekommen zu sein, dann beginnen sie blasiert zu sein, verleugnen ihre Leidenschaften, ihr Herz, selbst die Wärme ihres Blutes, lächeln, oder thun auch das nicht, wenn man vor ihnen von Liebe spricht, möge diese einen Freund, ein Weib oder das Vaterland betreffen, sie spielen mit ihrem Leben, wie mit einem Spielzeug, dessen man überdrüssig ist, das keinen Wert mehr hat, sie werfen ihr Leben weg, wie eine Citronenschale, deren Saft sie bis zum letzten Tropfen ausgepreßt haben; das dauert bis zu ihrem dreißigsten Jahre, dann erst eröffnet sich dem Mann die Welt seines Herzens, dann erst beginnt er wahrhaft zu leben, richtig zu sehen, zu fühlen, dann wird er ein Menschenfreund, ein Patriot, ein guter Mann, kurz ein glücklicher Mensch. Sehen Sie, Rudolf, und Sie sind noch nicht dreißig Jahre alt.

Rudolf wartete mit Ungeduld, bis die Gräfin mit ihrem Text zu Ende war und dann ließ er sich das Wort entschlüpfen:

– Ein neuer Gott müßte entstehen, der mich zu einem neuen Menschen umschaffte.

Man muß es in der That nur seinem außerordentlich aufgeregten Gemüt zuschreiben, daß er so was sagen konnte, da er sonst die Ehrfurcht vor Gott nicht zu verletzen pflegte.

Frau Eßéki nahm an seinen Worten ein ernstliches Ärgernis.

– Lieber Rudolf, es ist mir nicht lieb, von Ihnen ein solches Wort zu hören. Sehen Sie, ich bin keine Frömmlerin, aber ich höre es nicht gern, wenn man den Namen Gottes nicht mit Ehrfurcht ausspricht. Wenn man auch in Paris eine Tänzerin aus dem Ball Mabille auf den Altar gestellt hat, so ist Gott doch allmächtig geblieben und seine Wunder sind nicht bloß in den Elementen zu sehen, sie geschehen auch in den Herzen der Menschen.

Rudolf seufzte tief auf, als wollte er sich fragen: ob es einen Gott geben werde, der ihn bewahre, mit einem kalten, ausgebrannten Herzen zu sterben und der ihn lehren werde zu leben und zu fühlen.

Indes hielt er es für gut, dem emphatischen Gespräch eine andere Wendung zu geben, wandte sich zu Flora und fragte sie, wie sie sich in London unterhalten habe und von was man dort in der letzten Zeit am meisten spreche.

Das Mädchen erhob ihre großen schwarzen Augen und ihr zauberhaftes Gesicht zu dem Fragenden und antwortete ihm mit dem richtigen Tone, der das Publikum nicht stört und den in der Loge Anwesenden nicht als Flüstern erscheint.

– O jetzt hat sich in London etwas Trauriges zugetragen, die ganze Modewelt trauerte. Eben zwei Tage bevor wir abreisten, hat man dort den berühmtesten Mann und die berühmteste Frau Englands begraben.

– Ah, davon wissen wir noch gar nichts, sagte Rudolf, und dachte: dieses kleine, einfältige Mädchen hält gewiß den Lord Mayor oder einen General für den berühmtesten Mann und ihre berühmte Frau ist gewiß irgendeine Ordensdame.

– Und wer waren jene beiden berühmten Leute? fragte er Flora, wie man die Kinder auszufragen pflegt.

– Der berühmte Mann, sagte das Mädchen mit einiger Exaltation, die ihrem edlen Gesicht gut stand, war der größte Geist seiner Zeit, der unsterbliche Dichter Lord Byron.

Als hatte er einen elektrischen Schlag in allen seinen Gliedern gespürt, so wurde Rudolf bei dieser Nachricht erschüttert, sein Gesicht wurde blaß, an seinen Schläfen und an seiner weißen Stirne war der Puls sichtbar, er war einen Augenblick wie besinnungslos.

– Und wer war die Frau? fragte er mit beengter Stimme, als ihm die Sinne zurückgekehrt waren.

– Diese Frau war die Tochter eines andern Klimas, die den Dichter sehr liebte und ihn vor ihren Göttern zum Mann nahm; und als der Mann starb, starb auch sie nach heimischer Sitte, indem sie ihren Kiosk anzündete. Haben Sie vielleicht den Namen »Chataquela« schon gehört?

Rudolf schwieg.

Vielleicht ist Byron gestorben, ehe sie sich noch von ihm scheiden konnte, und das indische Weib hielt es für ihre Pflicht, nach ihm zu sterben. Sie kam Rudolf zuvor, anstatt ihm in den Tod zu folgen.

Also giebt es doch eine göttliche Macht, die dem lebensüberdrüssigen Menschen die zum Selbstmord bestimmte Waffe aus der Hand windet.

Rudolf fühlte einen heiligen Schauer durch seine Glieder rieseln, als ob er eine Stimme hörte, durch welche Saul zu einem Paul bekehrt wurde.

Wunderbar! Als er wieder zu sich kam, fühlte er sich durch diese Nachricht nicht unangenehm berührt; er fühlte eine Befriedigung, wie einer, der aus einem ängstigenden Traum erwacht und sich freut, daß das, was er gesehen, nur ein Traum gewesen sei.

Zu seinem Glück gewahrten die Anwesenden nicht, was in diesem Augenblick in ihm vorging, denn ein Monolog der Mars nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch.

Wie gut deklamierte heute die Mars.

Und wohin er immer blickte, er sah alles mit anderen Augen, die Menschen waren besser und schöner als je und als seine Blicke auf das Gesicht der vor ihm sitzenden Flora zurückkehrten, schaute er selbstvergessen auf diese schönen, edlen Züge, bis das Mädchen errötete, wie die vom Sonnenstrahl gereifte Frucht.

Plötzlich wandte er sich ohne alle Umstände zu Frau Eßéki, die ihren Gast für zerstreut zu halten begann.

– Wann reisen die Damen nach Ungarn?

– Morgen, zeitlich in der Früh.

– Erlauben Sie mir, Ihr Begleiter zu sein?

Diese Frage war so überraschend, so unerwartet, daß niemand darauf antwortete.

Indes war dieses Schweigen, dieses Staunen Antwort genug, Rudolf nahm plötzlich seinen Hut und verabschiedete sich.

– Ich muß eilen, meine Sachen in Ordnung zu bringen und meinen Wagen zu bestellen, damit ich nicht zurückbleibe.

Und hiermit verneigte er sich mit der Beweglichkeit eines glücklichen Menschen und stürzte fort.

Als er fort war, beugte sich Graf Stephan zu Floras Hand nieder und flüsterte, indem er ihre zarten weißen Finger mit seinen Lippen berührte: Ich danke Ihnen.

Flora fragte erstaunt: Wofür?

– Daß Sie einen wackern Mann seinem Vaterlande zurückgegeben haben.

Die schöne Jungfrau schüttelte den Kopf und bedeutete dem Grafen, daß sie ihn nicht verstehe.

Und das war doch so einfach.

Rudolf eilte indes schnell über die Treppe, stieß an einer Ecke den Marquis Debry fast über den Haufen, der ihm, sobald er ihn erkannte, nacheilte und ihn zum Stehen nötigte.

– Bleiben Sie doch stehen! Das ist eine Wette, die beide gewonnen haben, Haben Sie noch nicht gehört, daß Chataquela gestorben ist? Ja, sie hat sich verbrannt, nachdem ihr Mann gestorben war. Also haben Sie die Wette gewonnen. Aber sie hat sich nicht nach Ihrem Tode verbrannt, darum hat Abellino nicht verloren.

– Ich habe es schon gehört, sagte Rudolf, die Heiterkeit des Marquis vollständig teilend; und sich von ihm befreiend, eilte er sich in seine Kutsche zu werfen und nach Hause zu fahren.

Während er fuhr, wollte er sich noch Vorwürfe machen, daß er über den Tod dieses Weibes nicht die geringste Traurigkeit zu fühlen vermochte, trotzdem ihre liebevolle Selbstaufopferung so groß war. Aber vergebens, die Gefühle lassen sich nicht erzwingen; er hatte ein Gefühl, als ob er eben eine reiche Erbschaft gewonnen hätte; er möchte gern, es schickte sich auch, daß er traurig sei, aber andere, mächtigere Empfindungen verdrängen die Trauer.

Er begann, sich einen herzlosen, feigen Menschen zu schelten, der sich freut, weil er von einer tödlichen Wette durch den Tod eines liebenden Weibes befreit sei, und als er nach Hause kam, nahm er sein Tagebuch vor, um die Eindrücke jener Tage sich wieder vorzuzaubern, die er in Erinnerung an Chataquela verlebt hatte.

Doch ehe er zu diesen Blättern gelangte, mußte er noch andere aufschlagen, in welchen die Erinnerung an längst vergessene und jetzt wiederkehrende Gefühle niedergelegt war: Ein oder das andere Portrait lange nicht gesehener Verwandten, die Zeichnung einer romantischen Gegend an den Ufern der Donau, eine in ihrer Farbe noch wohl erhaltene Blume, die aus den Blättern fällt und die ihn an jene Jugendjahre erinnert, welche er zwischen den Alpen Siebenbürgens verlebt hat, die ersten Ergüsse seiner Phantasie, eine graue Locke seines verstorbenen Vaters, endlich ein zärtlicher Brief seiner Mutter, den sie ihm in die Fremde geschickt hatte, während sie selbst sich von dem Grabe des geliebten Mannes nicht trennen konnte, das sie jetzt mit ihren Thränen benetzt.

An allen diesen Erinnerungen blieb Rudolfs Seele haften, bei manchen verweilte er lange, und als er zu den letzten Blättern kam, die er in einem ungewohnten, außerordentlichen Gefühl, oder besser unter dem Einfluß der Blasiertheit geschrieben, hielt er diese Gedanken für so lächerlich, daß er sich schämte, sie durchzulesen.

Er machte noch einen Versuch in dem Kampf gegen sich selbst, er nahm den Bleistift und versuchte es, Chataquelas Portrait aus dem Gedächtnis zu zeichnen, was ihm bei seiner lebhaften Phantasie und seiner Fertigkeit im Zeichnen sonst zu gelingen pflegte.

Niedergeschlagen nahm er wahr, daß er sich jetzt dieses Gesicht nicht vorstellen konnte. Er rief sich jene Stunde in Erinnerung, in welcher er Chataquela in so glänzendem Licht gesehen hatte, aber das Bild wollte ihm nicht gelingen; das Gesicht war zu lang, die Augen matt, zu wenig offen, die Augenbrauen zu schmal, die Lippen zu ernst, und als er fertig war und es vor sich hinhielt, um zu sehen, ob es getroffen sei, gewahrte er erstaunt, daß er nicht Chataquelas, sondern Floras Bild gezeichnet habe. Rudolf fühlte die Nähe eines erhabenen Geistes, er fühlte, daß er in dieser Einsamkeit nicht allein sei, um sich, über sich, überall fühlte er eine höhere Macht, die nicht bloß in den Elementen ihre Wunder wirkt, sondern auch in den Herzen der Menschen.

Unwillkürlich faltete er die Hände, ein Seufzer entstieg seiner Brust und in seinen Augen glänzte eine Thräne; es war der erste Seufzer, die erste Thräne, seit den abgeschlossenen Tagen der Kindheit.

Dann nahm er den Zeichenstift noch einmal zur Hand, stellte sich das Gesicht der schönen errötenden Flora lebhaft vor, verbesserte einige Züge des Bildes und siehe, es war ein vollkommen ähnliches Portrait, voll Lieblichkeit und mit dem Ausdruck der Liebe.

Rudolf küßte das Bild unwillkürlich. Er fühlte die jugendliche Wärme des Errötens in seinem Gesichte. Neue Gefühle, neue Wünsche belebten ihn, und die Welt erschien ihm in neuen Lichte.

Ruhig und heiteren Gemüts traf er die Vorbereitungen zu seiner Reise nach dem schönen, armen Ungarn.


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