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IV.

Mir sind auf meinen Reisen, die mich nicht nur bis Trelleborg geführt hatten, wirklich schon seltsame Exemplare aus dem menschlichen zoologischen Garten begegnet.

Einer meiner Kollegen vom Jungfrau-Tunnelbau, ein Belgier, hieß bei uns der Einsiedler. Er hatte sich ein Felsloch als Behausung eingerichtet, das er nur mit Hilfe eines zwanzig Meter langen Taus erreichen oder verlassen konnte. Niemals gestattete er einem von uns, dies Eremitenheim zu betreten, das freilich mit allen Schikanen eingerichtet war: Ofen, elektrischer Beleuchtung, Bad, Radio, Telephon und so weiter. Der Mann war jung, verschlossen und doch heiterer Natur, hielt sich von uns fern und war in seinem Bestreben, seine Höhle vor jedem Fremden zu versperren, geradezu unhöflich. Erst nach fünf Monaten kam sein Geheimnis an den Tag: Er war jung verheiratet, hatte eine bildschöne Frau, die ihn dann in der Grotte mit einem prächtigen Knäblein beschenkte. Und die ganzen Monate über hatte er sein Weib dort in der Höhle vor uns versteckt gehalten, bis er eben einen Arzt, einen Geburtshelfer brauchte. Übrigens verblieb die Frau noch weitere zwei Monate in dieser Eremitage, von der sie nachher strahlend behauptete, sie habe dort die glücklichsten Stunden ihres Lebens verbracht.

In Sydney in Australien wieder war ich beim Bau des neuen Hauptbahnhofes mit beschäftigt. Einer unserer europäischen Arbeiter fiel mir sehr bald durch sein Benehmen und seine tadellosen Umgangsformen auf. Nachher brachte ein Zufall an den Tag, daß der Betreffende der jüngste Sohn des englischen Herzogs von G. war, der infolge einer Wette den schlichten Nieter spielte. Seine Nieten »rissen« nie. Er verstand seine Sache. Den erarbeiteten Lohn verteilte er unter seine Kollegen, denn er selbst wurde auf etwa eine halbe Million Pfund Jahreseinkommen geschätzt.

Und schließlich: Beim Lachsfang an der isländischen Küste stießen wir mal in einem entlegenen, schwer zugänglichen Fjord auf eine bisher keinem Menschen bekannte Niederlassung von drei Familien, die in sauberen, praktischen Steinhäusern wohnten. Die Leute, insgesamt etwa zwanzig Personen, verweigerten über ihre Herkunft und Nationalität jede Angabe, und auch später konnte nicht festgestellt werden, wer sie waren. Es schienen Holländer zu sein. Sie bewahrten ihr Geheimnis aufs strengste, und ihr Ältester, ihr Oberhaupt, war uns gegenüber von einer verblüffenden und durch nichts begründeten Grobheit, gestattete nicht mal, daß wir die Häuser betraten. Und doch war er bestimmt ein gebildeter Mann, wenn er auch wie alle anderen in Seehundsfelle gekleidet ging.

Nun, die drei Personen, mit denen mich jetzt das Schicksal hier auf dem Hochseekutter Torstensen zusammengeführt hatte, gehörten genau so zu den Raritäten aus dem bunten Lebensladen wie die oben Genannten. Und im Grunde paßte ich ganz gut zu ihnen, denn auch ich hatte ja allerhand zu verheimlichen und gab mich anders, wie ich war.

Zunächst mein Kamerad, der angeblich seinen Namen vergessen hatte. Bei dieser Behauptung blieb er. Er habe im Weltkriege an der Westfront beim Sturmangriff einen Kopfschuß erhalten, sei in feindlichen Lazaretten und Gefangenenlagern gewesen und stets nur unter dem Namen »Boche Boche« in den Listen geführt worden. Seine Erkennungsmarke, seine Papiere, sein Waffenrock – alles war bei seiner Gefangennahme verlorengegangen.

Dies erzählte er mir in der gut geheizten Heckkajüte des Kutters, während wir mit wahrer Gier den heißen Kaffee tranken und dick gestrichene Brotschnitten vertilgten und unsere nassen Sachen neben dem heißen Ofen trockneten.

Wir waren allein, denn der alte Jörnsen und sein Weib – das war der »Mann« am Steuer gewesen, der Mann im Ölzeug – hatten ja oben an Deck zu tun, und wir hatten mit ihnen bisher nur ein paar Worte gewechselt. Aber auch die hatten genügt, bei mir den Eindruck zu hinterlassen, daß dies Ehepaar Jörnsen genau wie ich mit geschlossenem Visier durch diese schlechte Welt zu wandern wünschte.

Weshalb – das würde sich schon noch herausstellen.

Kamerad »Boche Boche« mit seinem eingetrockneten, braunen Mumiengesicht füllte sich den Blechnapf von neuem mit Kaffee und starrte gedankenverloren vor sich hin.

»Ja, ja«, meinte er dann, »es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man so keine – keine Ahnung mehr hat, wer man eigentlich ist. Kamerad, ich komme mir wie ein zehnjähriges Kind vor, denn meine Erinnerung hört von dem Augenblick auf, wo ich den Kopfschuß erhielt. Hier ist der Einschuß ...« – er tippte auf eine Stelle der Wange links von seiner kühnen Nase – »und hier am Hinterkopf der Ausschuß. Ein Wunder, daß ich überhaupt noch lebe ... Was man so leben nennt, Kamerad ... Denn glaube mir, das Dasein ist mir eine Last ... Was du begreifen wirst. Nach dem Kriegsende reiste ich in Deutschland umher, um vielleicht durch dieses oder jenes Städtebild mein Gedächtnis wieder aufzufrischen. Gutherzige Menschen hatten mir das nötige Geld zur Verfügung gestellt. Aber es war alles umsonst. Berlin, Hamburg, Dresden – – na, wozu soll ich all die Städte aufzählen. Und dann verloren auch meine bisherigen Helfer so allmählich das Interesse an mir. Gewiß, Behörden und Ärzte kümmerten sich weiter um mich, und ich wäre ungerecht, wollte ich behaupten, man hätte nicht weitgehendstes Mitleid mit mir gehabt. Doch was nützte das mir, Kamerad? Ich war ein Fremder unter Fremden, ich war Deutscher und war's auch wieder nicht. Vielleicht – vielleicht bin ich einer von denen, die nach Kriegsausbruch aus allen Ecken der Welt das alte Vaterland zu erreichen suchten. Vielleicht habe ich zuletzt irgendwo im Auslande gewohnt – – irgendwo ...« Er machte eine hilflose Handbewegung. »Ich weiß es nicht ... Ich weiß es nicht ... Und weil ich ein Heimatloser, ein Namenloser geworden, folgte ich schließlich dem unruhigen Drängen einer geheimen Stimme meines Innern und begann als Seemann, als Steward, Schiffskoch oder Matrose die Welt zu durchreisen. Es ist da etwas in meiner Seele, Kamerad, das mich von Hafen zu Hafen treibt – wie Ahasver, den ewigen Juden, der auch zu ziellosem Wandern bis ans Ende der Dinge verurteilt ist ...«

Ich hatte ihn, während er mir dies alles anvertraute, heimlich beobachtet. Eins wußte ich jetzt: Er log nicht! Er war kein Abenteurer, der sich irgendwie interessant machen wollte oder der wie ich Grund hatte, seine Persönlichkeit in Dunkel zu hüllen. Und noch etwas war mir gewiß: Dieser Unglückliche war ein gebildeter Mann! Schon seine letzte Bemerkung über Ahasver bewies dies, ebenso seine Ausdrucksweise und sein Benehmen. In seinen Handbewegungen, mit denen er Messer und Gabel bediente, den Blechnapf zum Munde führte und die Brotschnitten zerteilte, lag das Abgerundet-Sichere eines Mannes von tadelloser Kinderstube. Hinzu kam noch eine abgeklärte, halb träumerische Ruhe, und mitunter flackerte auch in dem stillen, in sich gekehrten Blick ein hartes Leuchten auf, das unfehlbar auf einen außerordentlich energischen, zielbewußten Charakter hinwies, der jetzt nur noch gleichsam in Fesseln lag – noch! Denn daß auch für diesen Ärmsten die Stunde kommen würde, wo sein totes Gedächtnis wieder auflebte und die Vergangenheit sich ihm wie ein bis dahin verschlossenes Paradies öffnete, daran zweifelte ich nicht. Es bedurfte vielleicht nur eines ganz geringfügigen, aber eben des rechten Anstoßes, um den Riegel von der versperrten Pforte des weiten Reiches früherer Erlebnisse wegzuschieben. Hatte man doch gerade bei solchen Kranken, die an derartigem Gedächtnisschwund infolge einer Kopfverletzung litten, die eigenartigsten Erfahrungen gemacht.

Abermals betrachtete ich nun verstohlen sein mageres, faltiges Gesicht. Das noch feuchte, braune Haar, in dem sich nur an den Schläfen einige Silberfäden zeigten, hatte er glatt zurückgestrichen. Die hohe, etwas eckige, kluge Stirn lag frei. Und unter dieser Stirn die grauen Augen – wohl das seltsamste an diesem früh gealterten Antlitz mit den zahllosen Fältchen und dem verbitterten, vergrämten Zug um den ein wenig breiten Mund, dessen dünne Oberlippe in ihrer besonderen Linienführung der Kenner noch eine weitere Seite des Charakters dieses Namenlosen mit einiger Gewißheit andeutete: ein wenig Hochmut – aber der Hochmut eines Mannes, der frühzeitig an Befehlen gewöhnt gewesen und der zugleich auch einer großen Verantwortung für Menschen, die ihm blindlings ergeben, sich bewußt war.

So saß denn nun hier in der nach Teer, Benzin, Kaffee und schlechtem Tabak duftenden Kajüte dieses lebende Rätsel mir in des alten Holger Jörnsen fleckigen, blauen Büxen und in einem vielfach gestopften Wollsweater gegenüber und ahnte nicht, wie unendlich nahe mir sein trauriges Geschick ging. Entsetzlich mußte der Gedanke für ihn sein, daß er vielleicht irgendwo in Deutschland oder sonstwo in der Welt als tot betrauert wurde und doch lebte – als Boche Boche – noch heute, denn – so hatte er mir vorhin erklärt, er hatte an diesem Namen, der nichts als eine Beschimpfung war, mit Zähigkeit festgehalten ...

»Es ist doch immerhin ein Name, Kamerad ... Es ist etwas Positives von mir, da meine Entlassungspapiere aus der Gefangenschaft genau so lauteten: Boche Boche ...! Was tut es mir, daß es »Schwein Schwein« bedeutet?! Über derartiges ist unsereiner erhaben.«

Holger Jörnsen, der Besitzer des Kutters, hatte uns vorhin auch eine halbe Kiste Zigarren und ein Päckchen Zigaretten auf das Tischchen gestellt.

Mein Gefährte blickte mich an.

»Du gestattest wohl, daß ich rauche ...« und seine schmale, sehnige Hand, die schmutzig und ungepflegt wie die eines einfachen Matrosen war, nahm zierlich eine der Zigaretten.

Ich nahm eine Zigarre.

Höflich rieb er ein Zündholz an ...

»Bitte ...«

»Nach dir ...«

Er nickte, zündete seine Zigarette an und reichte mir das Zündholz ...

Dieses leichte Kopfnicken war abermals eine Bestätigung dessen, was mir seine dünne, gekrümmte Oberlippe verraten hatte: Er war's gewöhnt, seine Person als bevorzugt behandelt zu sehen!

Ich hatte ja ihm und Jörnsen nur erklärt, ich sei Chauffeur und durch einen unglücklichen Zufall von der »Drottning Viktoria« in die See gestürzt. Ob sie mir's geglaubt hatten, erschien mir vorläufig ohne Belang.

Polternde Schritte über uns, und dann kam Holger Jörnsen in seinen schweren Seestiefeln die schmale Treppe hinabgestampft. Jörnsen mit seinem grauen Kinnbart und der von Wind und Wetter gegerbten, faltigen Gesichtshaut, ein echter Jan Maat alten Schlages. Breitbeinig pflanzte er sich vor dem Tischchen auf. In Rücksicht auf Boche Boche, der des Sehwedischen nicht mächtig war, fragte er in seinem holperigen Deutsch:

»Na – satt jetzt, die Herren? – Und nun?«

Unter seinen dicken Augenbrauen, die ihm bis auf die Oberlider hinabhingen, blitzten ein Paar junge Augen, deren nadelscharfer Blick jetzt auf mir haften blieb.

»Und nun, Herr Gunnar Aalfström? – Nicht viel Worte, denke ich ... Ehrlich Spiel! Als ich heute früh Trelleborg mit meinem Kutter verließ, schnüffelte ein Polizeiboot nach einem gewissen Ingenieur Olaf Karl Abelsen ... Der war nachts aus dem Zuchthaus M... entflohen ... – Geht mich nichts an, die Sache, zumal der Herr Abelsen die zwei Jahre Zuchthaus nicht verdient haben soll ...«

Sein Blick ruhte unverwandt auf mir ...

»... Und einer, der von dem Trajekt ins Wasser fällt, hat nicht Zeit, zwei Korkwesten mitzunehmen ... Auch das geht mich nichts an.«

Da lachte Boche Boche leise auf ...

»Hast recht, Holger Jörnsen: ehrlich Spiel!! Besonders wenn einem der blonde Kopf so kurz geschoren ist wie dir, Kamerad! Und die zwei Korkwesten, stimmt, die passen nicht recht in deine Geschichte hinein, das merkte ich gleich. Du hast mir das Leben gerettet, Kamerad ... Und das ist ein Kitt zwischen zwei Menschen, fester als Bande des Blutes. – Was soll in deinem Interesse geschehen?«

»Bringt mich bei Nacht in die Nähe von Saßnitz auf Rügen, und – dann helfe ich mir schon weiter«, erwiderte ich.

»Wird gemacht ...« – und Jörnsen begab sich wieder an Deck.

Der Namenlose fragte nach einer Weile:

»Weshalb??«

Ich verstand ihn.

»Weil meine Braut hinter meinem Rücken ein Liebesverhältnis mit einem englischen Kollegen unterhielt, den ich dann in ihrer Gegenwart mit der Faust niederschlug. Der Bursche hatte leider eine sehr dünne Hirnschale. Und meine Braut sagte nachher aus, ich hätte ohne vorherigen Wortwechsel die kantige Krücke meiner dicken Weinrebe als Waffe benutzt. Es war mein Pech, daß meine Faust zu hart ist ...«

»Ich glaube dir ... – – Wie denkst du über Jörnsen und sein Weib?«

Diese Frage überraschte mich.

»Jörnsen ist niemals das, wofür er gelten will«, fügte Boche Boche leiser hinzu. »Er behauptet, Fischer zu sein ... Sahst du seine Hände? Es sind die Hände eines Gelehrten. Und – bitte, dort das Wandbrett mit den Büchern ... Hast du die Titel gelesen? – Schließlich noch: Jörnsen spricht perfekt deutsch wie du und ich. Sein scheinbares Suchen nach dem passenden deutschen Ausdruck ist beabsichtigt.«

Ich war aufgestanden und hatte mich umgewandt. Auf dem Bücherbrett fand ich: »Professor Dr. Mieke, Künstliches Gold«. – »Oskar Branden, Die Goldlager Klondykes«. – »Dr. James Garder, Der Goldgehalt der Ozeane«. – »Professor Jörn Hebecly, Edelmetalle und Wünschelrute«. – »Major a. D. v. Blocknitz, Als Rutengänger in Südwest«. – »Edler Freiherr von Graewe, Die Wünschelrute und ihre Erfolge«. – »Samuel Gelling, Professor, Die Strahlung der Edelmetalle«. Und als letztes ein uralter in Schweinsleder gebundener Schmöker aus dem fünfzehnten Jahrhundert: »Von der wunderbaren Hysterie des Gottlieb Scharffer, Kapitän des Dreimasters Britannia, und von der Insel Arbusa, allwo die Reichtümer im Innern ruhen.«

Dieses Buch hatte ich aufgeschlagen, um mir über den Titel Aufschluß zu verschaffen. Hinter dem Titelblatt ragte ein Stück Papier fingerbreit hervor, das ich sofort als feinstes Büttenpapier erkannte. Neugierig zog ich den Zettel heraus. Er war mit lila Schriftzügen, einer sehr schmucklosen, energischen Schrift, auf der einen Seite bedeckt. Ich las – deutsche Worte, deutsche Sätze, las nochmals ...

Dann reichte ich Boche Boche den Zettel.

Der überflog ihn ...

Meines Gefährten Gesicht war genau so grenzenlos erstaunt wie das meine.

»Rufe Jörnsen!« meinte er und gab mir den Zettel zurück.

Ich stellte die alte Scharteke an ihren Platz auf das Wandbrett zurück. Der Zettel lag wieder zwischen den ersten Seiten.

Ich hatte es am nächsten zur Treppe, schob oben den Türdeckel zurück.

Vor mir stand der alte Schiffer.

»Gilt das Papier in dem alten Buche Boche Boche und mir?« fragte ich kurz.

»Fragen sind verboten, Herr Abelsen. Das wissen Sie. – Wollen Sie?«

»Ich – ja!!«

»Und Boche Boche?«

»Ohne Zweifel auch ...«

»Dann ist alles in Ordnung, Herr Abelsen ...«

Und er brüllte seinem Weibe zu:

»Helga – wenden!! Die Sache ist abgemacht!«

Um mich kümmerte er sich nicht mehr. Er hatte mit den Segeln zu tun.

Ich kehrte zu meinem neuen Freunde zurück.

»Nun?« fragte er gespannt.

»Es stimmt schon ... Nur ... Fragenstellen dürfen wir nicht – auch das stimmt!«

Er lächelte fast freudig.

»Schadet nichts! Ich habe doch wohl einen starken Schuß Abenteuerblut in den Adern ... Diese Sache reizt mich.«


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