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Zehn Uhr ...
Der Kutter ankert in freiem Wasser im Schutze einer himmelhohen Inselwand, die den Wind abfängt. Den Wind, nicht die Wellenberge, die hier bereits dem Kundigen verraten, daß der Torstensen jene gefürchteten Gewässer erreicht hat, wo die Ungleichheit der Gezeiten zweier Weltmeere sich fühlbar macht, nie zu berechnende Strömungen erzeugt und noch weiter südlich Schiffe spurlos verschwinden läßt. Es ist die von allen Seefahrern am liebsten gemiedene Gegend, es ist das Ende der Welt, wo Satan sein Spiel mit hochbordigen, schnellen Dampfern treibt. Hier ging der Hapagdampfer Acilia verloren, hier verschwanden Vermessungsschiffe, Salpeterfahrer, Segler, Jachten.
Die Archipeln der Magelhaens-Straße sind ein riesiger Friedhof. Die Schiffsversicherungsgesellschaften wissen davon ein trübes Lied zu singen. Hier flüchteten klägliche Menschlein aus leckgeschlagenen Schiffen in die Boote und wurden tot, erfroren aufgefunden.
Der Kutter reißt an den Ankerketten, tanzt, bäumt sich, steckt die Nase in die kalte Flut, schüttelt die Nässe wieder ab, torkelt, stöhnt, ächzt ...
Ich, in Ölzeug, habe Wache. Die Jörnsens schlafen. Es ist bitter kalt. Hin und wieder fegt Schnee aus dem fliegenden Gewölk herab. Drüben, jenseits des Kanals, in dem wir hier liegen, eine flachere, große Insel, dicht bewaldet – die immergrünen, faulenden, stinkenden Wälder Feuerlands. Die Musik von Sturm und Wogen und knarrenden Masten und klirrenden, kreischenden Ankerketten wird zuweilen übertönt von dem Sturz gewaltiger Stämme, die andere mit umreißen.
Ich habe einen Becher Kognak im Magen und zwei Wollsweater auf dem Leibe, stampfe auf dem nassen Deck umher – hin und her – vom Bug zum Heck, vom Heck zum Bug ...
Die Laternen kämpfen einen müßigen Kampf gegen die Finsternis, aus der die weißen Streifen der Wogenkämme heransausen wie flach fliegende Gespenster.
Spritzer fahren in die Luft ... klatschen auf Deck ...
Ich bekomme eine ungefähre Vorstellung von dem, was hier ein Unwetter bedeutet.
Aber ich fühle mich frisch und voller Spannkraft, habe den Seelendruck überwunden.
Gerda – Boche Boche ...
Nicht daran denken! Ich ändere nichts! Armer, braver Kamerad ...! Wo mag seine Leiche von den Haien gefressen worden sein?? In Punta Garras schon – erst später??
Bevor ich um halb zehn diese einsame Wache antrat, hatte der Alte mich noch gewarnt.
»Sei auf der Hut, Abelsen! Bilde dir nicht ein, daß dieser Seegang etwa die hier auf den Nachbarinseln als Fischer und Robbenfänger wohnenden Feuerländer irgendwie stört. Ihre hochbordigen Kähne halten jedem Unwetter stand.«
Diese Ermahnung war wieder so recht unklar gefaßt. Das Fehlende mußte ich mir selbst ergänzen. Jörnsen fürchtete offenbar, daß der Weiße und Gerda sich mit den Eingeborenen, die für blankes Gold zu allem fähig waren, verbünden könnten. Anders war diese Warnung kaum zu verstehen.
Ich hatte daher auch die Repetierbüchse entsichert im linken Arm hängen und in der rechten Tasche meines Ölmantels meine Pistole stecken. Was mich beruhigte, war die sicher nur dem Nichtseemann einleuchtende Unmöglichkeit, daß bei diesem Toben der haushohen Wellen, die unregelmäßig anrollten und sich kaum mehr steigern konnten, ein Kahn neben dem Torstensen anlegen könnte!
Ausgeschlossen war das!
Als Jörnsen schlafen ging, war es noch nicht halb so schlimm hier draußen. Überhaupt – daß das Ehepaar bei diesem Tanz des Kutters in den Kojen blieb!! Mitunter erklangen die überanstrengten Ankerketten so hell, daß dieser singende, metallische Ton mir der Vorbote des Reißens der Kettenglieder zu sein schien. Aber noch hielten sie ...
Ein Wunder, fürwahr!
Der eisige Wind fuhr mir bis auf die Haut. Ich fror. Und des öfteren befragte ich die Aluminiumbuddel in der linken Manteltasche, wer stärker sei: guter Kognak oder ein eisiger Wind unweit Kap Horns. Der Kognak redete mir ein, daß er siegen würde.
Allmählich kam ich immer mehr in Stimmung. Ich fühlte mich als Gott in meiner halben Trunkenheit und im Bewußtsein meiner zähen, unverbrauchten Kräfte. Was mir acht Monate Staatshotel seelisch und körperlich geraubt hatten, hatte mir der Torstensen zurückgegeben. Ich liebte den Kutter, von dem ich jeden Fußbreit kannte. Ich betrachtete ihn als meine neue Heimat, und das Meer als das unendliche Sanatorium all derer, die nicht mit der Nachtmütze über den Ohren durchs Leben schleichen.
Kognak ...!
Und dieser Kognak hier an Bord war kein stinkender Fusel. Ich war bisher nie Alkoholiker gewesen. Mein Vater hatte mir das Hochgefühl eines leichten Schwipses gründlich ausgebläut. Und doch hatte ich ihn einmal so betrunken gesehen, daß ich ihn nicht nur haßte, sondern verachtete: am Todestage meiner Mutter!! Später begriff ich ihn. Er hatte sich betäuben wollen ...
Und letzten Endes wollte ich dasselbe heute ebenfalls. Auch ich hatte Tote zu beklagen, die meinem Dasein wieder Inhalt gegeben: Gerda und Boche Boche!
So stampfte ich denn weiter meine Runde, hielt mich an der Reling fest, starrte in die Finsternis, ließ die Sturzseen über mich hinweggleiten, spürte das beißende Salz des Ozeans in den Augen und im Munde den faden Geschmack allzu reichlichen Kognaks ...
Hin und wieder, wenn der Torstensen wie ein armseliges Korkstückchen von den Wogen umhergeworfen wurde, und die Ankerketten noch schriller sangen, taumelte ich wohl auch gegen den Mast, den Kombüsenaufbau, das Oberlichtfenster oder unser Rettungsboot, das mittschiffs, Kiel nach oben, auf den festgeschraubten Stützen ruhte, bedeckt mit einer Ölplane. Ein tadelloses Eichenboot mit kleinem Motor, Luftkasten, vorn gedeckt. Es konnte bequem acht Mann fassen.
Zuweilen drohte ich auch auf den schlüpfrigen Deckplanken auszugleiten. Und ich triefte von oben bis unten vor Nässe ... Meine Büchse triefte, meine Taschen waren halb voll Wasser, meine Hände aber innen zerschunden, denn so manche Sturzsee wollte mich allzu gern mitnehmen, hinein in die nasse Finsternis und den sicheren Tod. Da half nur Anklammern am ersten besten Gegenstand, und dabei gingen Hautfetzen mit ...
Ich fühlte es kaum ...
Ich war Gott in all meiner Verlassenheit und im Toben der Elemente, war Olaf Karl Abelsen von einst, der in Bombay im Chinesenviertel eines Nachts fünf gelbe Schufte niedergeboxt und dabei nur einen einzigen Stich in die Schulter bekommen hatte ...
Und drei von den Straßenbanditen wurden am nächsten Tage verscharrt. So hatte ich es ihnen gezeigt ...
Hallo – jetzt hätte mich's doch um ein Haar erhascht! Das kommt davon, wenn man sich in diesem Schneesturm an Bombays heiße Tage und Chinesenpüppchen mit Katzenleibern und moschusduftendem Haar erinnert ...! War das eine Sturzsee gewesen! Verdammt ... das Boot hatte sie an der Heckseite aus der Stütze geschwemmt. Kam noch solch Ungetüm, schlug das Boot gegen den Mast und ging zum Teufel.
Ich legte die Büchse weg, stemmte mich gegen das Heck, suchte das Boot wieder in die Einschnitte zurück zu drücken ...
Es gelang ...
Polternd lag es fest, und noch hastiger zog ich die Leinen straffer, damit dieser üble Scherz sich nicht wiederholte. Ich keuchte vor Anstrengung, denn die nassen Leinen waren widerspenstig wie Drahtseile. Den Kopf drückte ich an die von der Ölplane geschützten Planken, arbeitete japsend, mit zitternden, klammen Händen.
Kopf an den Planken ... zusammengeduckt ... Duschen gehen über mich hinweg ...
Plötzlich ein Straffen aller Sinne ...
Was war das?!
Bei Gott – – ein tiefes, lautes Stöhnen ...
Im Boot ...
Im Boot – – ein Mensch ...
Hoffnung – – vielleicht der Kamerad ...
Ich krieche unter das Boot, löse die Schnüre der geteerten Persenninge, bis ich hineinkriechen kann.
Taschenlampe heraus ...
Und ich sehe aus dem offenen Türchen des gedeckten Bugteiles zwei Beine herausragen ...
Boche Boche – wirklich – der Kamerad!
Ich zerre ihn hervor ... einen Halbtoten ...
Die Augen mit Eiter und Blut verklebt, gerade über der Nase eine entsetzliche Wunde mit zackigen Rändern ... Das Gesicht, soweit es nicht mit Blut beschmiert ist, wachsbleich – ein grausiger Totenkopf ... Der Unterkiefer herabgesunken, die blau verfärbte Zunge dick wie ein Ball ... Das Atmen nur noch ein Röcheln, Gurgeln – zuweilen anschwellend zu gräßlichem Stöhnen – – wie im letzten Kampf der letzten Kräfte gegen den Sensenmann.
Eine Wolke Gestank umgibt den Ärmsten ...
Gestank von Unrat ...
Ich fühle, wie ich selbst erbleiche ...
Es ist ja kein Fremder, der hier vor mir liegt, nein, es ist der Freund – der einzige, den ich habe ...
Hier gibt es kein langes Überlegen ...
Handeln, helfen, retten, was noch zu retten ist. Und ich bringe es wirklich fertig, mit dem Kameraden im Arm die Back zu erreichen ...
Spritzer umrauschen uns ...
Ich stolpere ... gleite. Ich spanne meine Muskeln bis aufs äußerste an.
Nun ruht Boche Boche in seiner Koje ...
Her mit der Kognakflasche ... Her mit einem Löffel ...
Aber er schluckte nicht mehr ... Die Zunge behindert mich. Ich kann den Löffel nicht tief genug in den Mund einführen. Ich brauche Hilfe. Jörnsen weiß in diesem Falle auch besser Bescheid als ich. Jörnsen muß geweckt werden ...
Ich eile an Deck ...
Der Kutter bäumt sich auf. Eine riesenhafte Woge überflutet das Heck ... Die Ankerketten kreischen in den Klüsen, schrillen wie Stahlsaiten. Der Wasserberg packt mich ... Im letzten Moment greife ich nach der Reling ... Die Woge zerrt meine Beine hoch ... Ich stehe mitten im gurgelnden Gischt wie ein Turner im Handstand ... Habe das Gefühl, daß mir jeden Augenblick die Arme ausgerissen werden müssen ... Dann reißt mich die jagende Wassermasse nach außen ... Meine Beine schlagen gegen die Bordwand ... Blitzartig das Empfinden des schwindenden Bewußtseins ... Und doch noch die Energie, die obere Relingstange nicht fahren zu lassen ... – des Freundes wegen ...
Ich hänge außenbords ... pendele hin und her, muß die eine Hand lösen, um das Gesicht der Reling wieder zuzukehren ...
Ich ziehe mich empor, falle nach vorn auf die Deckplanken, liege da wie ein totgetretener Frosch, alle Viere von mir gestreckt ... Und krieche vorwärts ... Meine Beine schleppen nach wie Bleistücke ... Krieche die Treppe der Heckkajüte abwärts, Kopf nach vorn ... Drei Stufen ...
Eine neue See, ein neuer Berg dunklen Glases, das donnernd über dem Kutter zerschellt.
Und durch die von mir geöffnete Tür des Niedergangs spült mich ein reißender Bach nach unten ...
Mein Schädel rammt die Kajütentür. Die obere Füllung fliegt heraus ...
Der Stoß hat mich erledigt ...
Ein Brillantfeuerwerk täuscht mir mein verdröhntes Hirn vor. Dann erlischt mein Bewußtsein. Aber im Unterbewußtsein, in dem die Sorge um Boche Boche weiterlebt und mich peinigt, ersteht mir der Wille zum Bezwingen auch dieses verhängnisvollen Zwischenfalls. Vielleicht ist es auch das kühle Wasser, in dem ich hier wie in einer eckigen Badewanne liege. Als Jörnsen, durch den Knall der herausbrechenden Füllung geweckt, mich findet, bin ich schon halb auf den Beinen.
Jörnsen hat hier in der Kajüte geschlafen, und so wie er ist – nur in Unterhosen – läuft er nach meinen ersten gelallten Worten mit dem Apothekenkasten zur Back. Ich taumele hinterdrein, wundere mich, daß meine Beine mir wieder gehorchen, wundere mich, daß der Kutter plötzlich so merkwürdig ruhig liegt, umkralle die Reling und starre in das Dunkel hinein ...
Der Torstensen treibt ... treibt ...
Beide Ankerketten müssen gerissen sein, als die letzte Riesenwoge mich gegen die Tür spülte ...
Treibt mit irgendeiner Strömung – irgendwohin ...
Verschwommen gleiten schwarze Felswände vorüber ...
Knirschend schrammt der Kiel über Riffe ...
Und diese mahnenden Laute, diese Erschütterung, die den Kutter zittern macht, bringt mich zu mir ...
Jeden Augenblick kann der Torstensen gegen eine Klippe rennen ... Dann sind wir erledigt ...
Jörnsen hat abends, als wir Anker warfen, in weiser Voraussicht die Reserveanker klarmachen lassen ...
Ein Sprung nach vorn.
Ich werfe den Buganker über Bord. Bestes Manilaseil läuft durch die Klüse ... ein Ruck ... der Anker hat gefaßt.
Ich jage nach hinten – – Heckanker in die Tiefe ... Leine gekürzt ...
Und ein neuer Ruck ...
Der Kutter liegt in verhältnismäßig ruhigem Wasser – irgendwo in einem anderen Kanal ...
Mein Gesicht glüht ... meine Hände brennen wie Feuer ... meine Beine zittern ... neue Ohnmacht naht.
Aber Olaf Karl Abelsen beißt sich die Unterlippe blutig, reckt den Brustkasten vor, atmet ganz – ganz tief ...
Und siegt!
Am Steuerruder lehne ich. Eine Schneebö peitscht mir das flammende Antlitz ...
Oh – wie wohl das tut!!
Ich reiße die Kiefer auf ... Schneeflocken zerrinnen mir auf der Zunge ...
Wie wohl das tut!!
Als ich in die Back hinabsteige, als mir Jörnsen zuraunt: »Wir werden ihn schon durchbringen!« da nehme ich die Kognakflasche – – saufe ... saufe ... sinke auf einen Schemel ...
Und lache wie ein Verrückter ...
Ja – man lernt selbst das Lachen wieder in den Gewässern der Inseln der Magelhaens-Straße ...
Wie man dort auch das Sterben lernt ...
Aber die, die das durchgemacht, sprechen nicht mehr darüber ...
Das war die Nacht, die mir ein anderes Lied aufspielte, als jene im Hafen von Punta Garras ...
Damals waren es die Menschen, die die Melodie angaben. Hier war es das Meer, der Sturm, die wilde, entfesselte Natur ...