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Fünfte Person??
Und wie gebannt starrte ich nun auf die kleinen, dicken, vergitterten und verhängten Oberlichtfenster der Heckkajüte. Sie waren noch hell. Und es war halb zwei morgens ...
Ich griff nach der Tauschlinge, die am Kompaßbock befestigt war, legte das Ruder fest. Ein paar Minuten würde der Kutter bei diesem ständigen Winde auch ohne mich Kurs halten.
Meine braunen Segeltuchschuhe verrieten mich nicht. Ich lag lang auf dem Deck, suchte nach einer Ritze in den Vorhängen der Oberlichtfenster ...
Nicht zum ersten Male ... Auch mein Kamerad hatte bereits dasselbe probiert – umsonst.
Heute – ein Zufall – rechts auf Backbord ein fingerbreites Stück unbedeckten Glases.
Dort saß Jörnsen vor dem in die Wand eingelassenen Schreibtisch. Die Platte war hinabgeklappt.
Zurückgelehnt saß er, die Pfeife wie immer im Munde, hatte Papier in den Händen, suchte ein Bild heraus, Photographie, Kabinettgröße: ein Männerkopf!
Das Lampenlicht fiel auf das Bild.
Jörnsen starrte es an ...
Und ich, der Spion, fühlte mein Herz rascher hämmern.
Was bedeutete das?
Nur eine Ähnlichkeit?
Wie kam gerade dieses Bild an Bord eines Kutters, dessen schweigsamer Besitzer und Kapitän ein Landsmann von mir, ein Schwede war?
Daß das Ehepaar Jörnsen innige Beziehungen zu Deutschland gehabt hatte, ging freilich schon daraus hervor, daß es die Sprache der Heimatgefilde meiner Mutter so vollkommen beherrschte.
Und doch – dieses Bild?
Ich konnte mich jetzt auch auf meine Augen und auch insbesondere auf meine Fähigkeit, Gesichtszüge selbst nach Jahren noch wiederzuerkennen, wenn ich mir nur deren charakteristische Merkmale eingeprägt hatte, unbedingt verlassen.
Dieses Gesicht, diese eckige, hohe, kluge Stirn, diese Nase, diese Mundpartie – das war die verjüngte Wiedergabe des Antlitzes meines Kameraden Boche Boche.
Bestimmt war er's.
So über jeden Zweifel erhaben war diese verblüffende Feststellung, daß ich darüber meine Pflicht völlig vergaß und erst das Knallen des Außenklüvers, der im Winde bedenklich flatterte, mich rasch zurück ans Ruder rief. Ein Griff in die Radspeichen, ein Blick zum Kompaß, und der Torstensen, der inzwischen beträchtlich abgefallen war, neigte sich wieder unter der Segellast im vollen Winddruck zur bisherigen Schrägung und hüpfte lustig über den nächsten Wogenkamm hinweg. Nur ein einziger Spritzer war über Bord gekommen, nur ein einziges Mal hatte der Klüver verräterisch geknallt. Dennoch tauchte schon des Alten grauer Kopf über dem gewölbten Bleche des Niedergangs auf.
»Eingenickt, Abelsen?«
»Ja, leider ...«
»Werde euch beiden den Rum entziehen, Abelsen ... Für Boche Boche ist der Alkohol schon gar nichts ... – Was war's heute mit Boche Boche?«
Er stand auf der Treppe und hatte die Arme auf die Schiebetür des Daches gestützt.
Vorhin hatte mich ein unbestimmtes Etwas, nennen wir's innere Stimme, dazu veranlaßt, jede Auskunft abzulehnen. Jetzt hatte ich das Bild gesehen. Und daß Jörnsen genau wußte, wen es darstellte, daß er also auch meines Kameraden tote Vergangenheit kannte, war selbstverständlich. Dem Alten einzugestehen, daß ich vor dem Oberlichtfenster spioniert und das Bild in seiner Hand erkannt hatte, erschien mir nicht ratsam. Ich wollte auf Umwegen, durch Diplomatie die Lage klären.
Diplomatie ist zielbewußtes Verbergen der eigenen wahren Gedanken, zielbewußtes Lügen und Heucheln. Also etwas, das mir wenig lag. Hier wurde es zur Notwendigkeit. Die Rätsel, die das Ehepaar Jörnsen umgaben, mehrten sich. Boche Boche hatte damals ganz recht gehabt: Sollten wir als erwachsene Männer noch weiter im dunkeln umhertappen?!
»Die Musik war's«, erwiderte ich auf des Alten Frage.
Leider war sein Gesicht im Schatten, und das meine im Widerschein der Kompaßlampe. Dennoch: Jörnsen hatte eine Kopfbewegung gemacht – aber keine, die etwa Überraschung angedeutet hätte. Nein – mehr ein halb unbewußtes Nicken ...
»So, die Musik also ...«, sagte er bedächtig ... »Die Musik ... Was äußerte er denn dazu?«
»Sie schien in ihm irgendwelche unklaren Erinnerungen zu wecken ...«
Jörnsen sog an seiner unvermeidlichen Pfeife und qualmte dicke, schnell zerflatternde Wölkchen. Mir kam es vor, als ob er, an den kaum eine Erregung heranreichte, geradezu nervös war. Seine Finger trommelten auf dem mit Zinkblech benagelten Dach, dessen grüner Ölfarbenanstrich erst letztens erneuert war und doch infolge der Hitze bereits wieder abblätterte.
Ich wartete voller Spannung auf seine nächste Äußerung. Inzwischen war er jedoch wohl selbst zu der Einsicht gelangt, daß er sein Verhalten anders einrichten müsse, wollte er mich nicht argwöhnisch machen. Er zuckte in übertriebener Weise die Achseln und meinte:
»Wenn meine Frau aus Langeweile mal auf der Gitarre klimpert – wie sollte das den armen Boche Boche beeinflussen?!«
Er wollte mir also ausweichen. Mein anfänglich nur schwacher Verdacht hatte nun ganz bestimmte Formen angenommen.
»So, Käpten?! So??« Meine Stimme klang ungewollt drohend und scharf. »Vielleicht hat deine Frau auch absichtlich die Gitarre hervorgeholt ... Vielleicht wißt ihr beide weit mehr über meinen bedauernswerten Kameraden, als ihr zugeben wollt ...!«
Narr ich!!
Das sollte Diplomatie sein??
Jörnsen hatte plötzlich die rechte Hand in der Tasche seiner blauen Jacke verschwinden lassen ...
Das schwarze Mündungsloch seiner Pistole war keine drei Meter von meinem Kopfe entfernt ...
»Abelsen«, sagte er mit unheimlicher Entschlossenheit, »du hast gelogen ... Der Klüver knallte ... Ein Spritzer kam über Bord. Du hast durch das Oberlicht geschaut. Ich hatte gerade das Bild in der Hand. Wenn du mir jetzt nicht sofort dein Ehrenwort gibst, dieses Bild und diese Unterhaltung aus deinem Gedächtnis zu streichen, schieße ich dich nieder und werfe dich über Bord. Hier geht es um Dinge, die durch deine Einmischung eine ungünstige Wendung nehmen könnten, hier ist dein Leben ... ein Dreck, Abelsen, den man mit dem Fuße in die Gosse scharrt ... Du kennst mich, Abelsen. Also ...!«
Sein Arm reckte sich noch weiter vor ...
Er zielte auf meine Stirn ...
Sein Gesicht war bleich. Das sah ich. Und in diesem Gesicht leuchteten die jungen Augen in demselben Glanze wie damals, als er Boche Boche die Pistole aus der Hand schlug.
Daß er mich tatsächlich niederknallen würde, wußte ich. Hätte es Sinn gehabt, mein Leben hier lediglich deshalb wegzuwerfen, um nicht feige zu erscheinen, um Jörnsen zu beweisen, daß dieses Leben mir nichts wert war??
»Ich gebe mein Wort, Käpten ...« erklärte ich fest. »Aber diese Szene hat auch den zwischen uns geschlossenen Kontrakt aufgehoben ... Ich werde mit Boche Boche in Punta Garras den Kutter verlassen.«
Er schien zu überlegen ...
Die Waffe behielt dieselbe Richtung bei. Ich beobachtete den Zeigefinger, der am Abzug der Pistole lag. Dieser Finger krümmte sich mehr und mehr. Wie hypnotisiert starrte ich in das schwarze Mündungsloch, aus dem jede Sekunde der kleine Feuerstrahl hervorschießen konnte.
So dicht wie damals hatte Gevatter Tod doch noch nicht neben mir gestanden.
Ein kühles Rieseln lief mir über den Rücken.
Wenn er doch nur Schluß machen wollte! dachte ich ...
Mein Blick flog zum Sternenhimmel empor. Ich nahm Abschied von den blinkenden Lämpchen Gottes ...
Jörnsens Stimme drang wie aus endloser Ferne an mein Ohr ...
»Gut, ihr könnt in Punta Garras an Land ... Aber – vergiß dein Ehrenwort nicht, Olaf Karl Abelsen! Glaube mir, du könntest deinem Freunde keinen schlechteren Dienst erweisen als durch ein unüberlegtes Wort ... Vergiß das nicht ... – Gute Nacht, Abelsen ...«
Er wollte die Treppe hinab. Machte wieder halt. Drehte den Kopf ...
»Wie gedenkst du es Boche Boche zu erklären, daß ihr uns verlaßt?«
»Ich bin heut' hier am Steuer eingeschlafen, Käpten, und du hast mich angeschnauzt ... Das genügt ...«
»Vielleicht!« nickte er und schritt weiter die Treppe hinab. –
Vormittags zehn Uhr beim Frühstück nahm ich Gelegenheit, Boche Boche zu belügen ...
»... Ich lasse mir diese Behandlung nicht länger gefallen ... Und Jörnsen scheint auch nichts mehr daran zu liegen, daß wir hier noch länger Matrosen spielen ... Ich jedenfalls bleibe nicht länger auf dem Torstensen ...«
Wir saßen in unserer Kajüte am Tisch. Mein Kamerad tauchte den dick mit Butter bestrichenen Zwieback in den Kaffeetopf und biß dann ein Stück ab, kaute und blickte mich nachdenklich an. Zuweilen verfiel er bei Tisch in gewisse Unmanieren, die so gar nicht zu ihm paßten. Wo mochte er sich nur dieses scheußliche Eintunken des Zwiebacks angewöhnt haben? Er, der doch sonst in allem eine so zwanglose Sicherheit, soviel Kultur, besaß?!
»Eigentlich schade ...«, meinte er. »Ist es dir denn wirklich so gleichgültig, Olaf, diese abenteuerliche Fahrt aufzugeben?«
Ich lachte ...
»Sind wir unmündige Kinder? Sollen wir uns mit verbundenen Augen irgendwohin schleppen lassen? Ich mache nicht mehr mit ...«
»Und wenn der Alte sich entschuldigt ...?«
»Auch dann nicht!«
Und das war ehrlich. Ich hatte Jörnsen jetzt kennengelernt. Ein Verbrecher war er nicht, aber ein Mann, der auf der messerscharfen Grenze zwischen rücksichtsloser Energie und gewissenlosester Brutalität dahinwandelte. Ich traute ihm alles zu ... Und so, wie mein Kamerad und ich veranlagt waren, mußte es früher oder später auf dem Kutter zum Blutvergießen kommen. Wir drei Männer hier an Bord waren die gleichen Eisenköpfe, waren verwandte Naturen, und mein Kamerad dazu noch völlig unberechenbar.
Nein – ich war entschlossen, diesem Geheimnis Jörnsens auf andere Weise auf den Leib zu rücken. In Trelleborg gedachte ich, mit meinem Nachforschungen zu beginnen. Dann würde sich schon herausstellen, wie der Alte zu dem Bilde gekommen war. Und nach Trelleborg – nun, wir brauchten nur Heuer auf einem Salpetersegler zu nehmen. Wir würden schon wieder irgendwie nach Schweden gelangen.
Boche Boche hatte sich plötzlich erhoben.
»Da!!« brüllte er.
Brüllte ...
Seine Hand deutete auf die Rückwand, wo er schon im Atlantik die beiden Löcher mit einem Stück Blech und unterlegter Leinwand übernagelt und mit Ölfarbe überpinselt hatte.
Das Blech fehlte – fehlte fraglos erst seit heute morgen ...
»Die Drecksau hat wieder gehorcht!« kreischte Boche Boche in jäher Wut ... »Da – jetzt erst wird der Pfropfen in das eine Loch geschoben!«
Blitzschnell griff er nach einer Gabel, stieß zu, traf den Kork, trieb ihn drüben aus dem Loche heraus ...
Dann raste er an Deck ... Mit der Gabel. Ich hinterdrein, um ein Unglück zu verhüten.
Aber die Schiebeluke des Kombüsenniedergangs war verschlossen ...
Ich packte Boche Boche, der mit den Füßen die kleine Flügeltür eintreten wollte ...
Vom Heck Jörnsens metallene Stimme:
»Weg da mit euch – weg da!!«
Boche Boches wilde Augen stierten hin ...
»Warte, Käpten, warte – deine Pistole – warte!«
Er riß sich los ... Stürmte wieder hinab ... Ich ahnte: seine Büchse wollte er holen ...
Und wieder war ich hinter ihm drein ... Er stand vor seinem Wandschrank ...
»Nicht mehr da ... weggenommen ...« murmelte er ...
Es stimmte: unsere Büchsen waren verschwunden.
Boche Boche lachte schrill ...
»Der Schuft – der Schuft!!«
Dann kam bei ihm wieder der Rückschlag ... Er sank auf einen Schemel ... Mit zitternder Hand goß er seinen Kaffee hinab ...
»Olaf, in Punta Garras – ja ... fort von hier!! Ich kann für mich nicht mehr einstehen.«
»Dann sind wir einig, Kamerad ...«
Wir verloren über die Sache kein Wort mehr.
Als wir eine halbe Stunde später an Deck kamen, lehnte das zottelige, schmierige Weib im Kombüsenniedergang. Sie hatte jetzt einen Ledergurt über die fleckige Männerjacke geschnallt, und an dem Gurt hingen die Lederfutterale zweier Repetierpistolen ...
Ihre bebrillten Augen blickten uns kühl entgegen.
Nachlässig holte sie die eine Pistole hervor und schob die Sicherung zurück ...
Daß sie schießen und treffen konnte, wußten wir.
Wir kehrten ihr den Rücken und setzten uns auf die Vorderluke.
Fortan bekamen wir keinen Tropfen Rum mehr, brauchten nichts mehr zu tun, durften uns achtern nicht sehen lassen, brauchten keine Wache mehr zu übernehmen, wurden selbst überwacht.
Wir waren wie wilde Tiere im Käfig.
In der folgenden Nacht gegen zwölf Uhr tauchten die hellen Sanddünen auf, die den kläglichen Hintergrund dieses gottverlassenen Hafennestes Punta Garras bilden. Wir hatten mit dem Ehepaar kein Wort mehr gewechselt.
Jetzt, als wir kaum die Hafeneinfahrt passiert hatten, kam die alte Vettel mit ihren schlurfenden Schritten nach vorn und keifte uns an ...
»Buganker bereit! Los!!«
Boche Boche faßte überhöflich an den Mützenrand.
»Mit Vergnügen, meine Gnädigste ... Denn je früher wir diesen famosen Kutter verlassen können, desto besser für uns!«
Gleich darauf klatschte der Anker ins Wasser. Der Motor schwieg, und der Torstensen schwenkte mit der ausströmenden Ebbe herum und wandte seinen Bug dem offenen Meere zu. Jörnsen ließ auch den Heckanker fallen, und der Kutter lag abseits der hier ankernden Schiffe – es waren nur fünf – ohne jede Bewegung fest.
Der Alte kam nach vorn.
»Wenn morgens die Hafenpolizei hier gewesen ist, könnt ihr an Land«, sagte er unfreundlich. »Ich werde jedem von euch tausend Kronen zahlen. Von eurem Anstandsgefühl erwarte ich, daß ihr mir keine Schwierigkeiten macht. Wir wissen gegenseitig voneinander so mancherlei, was besser verschwiegen bleibt ... Besonders du verstehst mich wohl, Abelsen. Nun geht schlafen. Ich wünsche, euch nicht mehr an Deck zu sehen ...«
Boche Boche nahm stramme Haltung an und schnarrte ironisch:
»Zu Befehl, Herr Kapitän ... Wir werden in dieser Nacht in der frohen Hoffnung, Ihrer Visage nicht mehr zu begegnen und der ... Drecksau erst recht nicht, besonders gut schlafen ... Ihre tausend Kronen können Sie getrost behalten. Wer so vornehm ist, meinem Freunde Olaf in so versteckter Weise zu drohen, ist ein Lump ... – Gute Nacht ...«
Boche Boche schlief denn auch sehr bald ein, obwohl's in der engen Kajüte stickend heiß war. Ich wälzte mich ruhelos auf meinem Lager hin und her. Es war seltsam: jetzt, wo der Abschied von Holger Jörnsen so dicht bevorstand, sträubte sich irgend etwas in meinem Innern gegen diese Art des Auseinandergehens – irgend etwas, das ich selbst nicht klar ergründen konnte. Zweifel kamen mir, ob ich die Dinge meinerseits nicht allzu sehr auf die Spitze getrieben hätte, Zweifel auch darüber, ob Jörnsen wirklich in der verflossenen Nacht mich niedergeknallt haben würde, ob er nicht vielleicht mich gar geblufft haben könnte. Ich wurde aus seinem Verhalten nicht klug. Es erschien mir widerspruchsvoll und dunkel wie seine ganze Persönlichkeit, zu der mich trotz allem etwas wie Sympathie hinzog.
Ich erhob mich leise, schlüpfte nur in die Leinenbeinkleider und schlich an Deck ...
Es war leer ... Der Himmel wolkenbedeckt. Die Luft dick und schwer, übersättigt mit Elektrizität ... Die Lichter des Städtchens und der ankernden Schiffe schimmerten wie durch feinen Nebel hindurch. Still lag der Kutter. Selten knarrten oder klirrten die Ankerketten ...
Ich hatte mich auf die kleine Ankerwinde gesetzt. Ich war enttäuscht. Wenn Jörnsen an Deck gewesen wäre, würde ich zu ihm gegangen sein und hätte ein offenes Wort mit ihm gesprochen. Er war doch ein gebildeter Mensch wie ich ... Sollte es denn wirklich zwischen uns keinen Weg der Verständigung geben?!
Verständigung ...
Es wäre ein alltäglicher Weg gewesen. Und das Schicksal hatte mich nun einmal aus der Alltagsbahn gedrängt – immer mehr ...
Es war so.
Ich blickte von meinem erhöhten Sitz über die Reling hinweg auf die dunkle Flut. Kein Lüftchen wehte. Das Hafenbecken war wie ein stiller Binnensee.
Ich blickte ohne Ziel und Zweck ...
Und der Weg abseits vom Alltag war die finstere Wassermasse, in deren Tiefen Leuchtquallen von Eimergröße wie Glühkäfer sich träge bewegten. Über das Wasser glitt ein hellerer Fleck ... Der Kopf eines Schwimmers ... Blondes Haar erkannte ich, zu hohem Schopf aufgesteckt ...
Ein Weib ... Es kam aus der Richtung des großen Fünfmasters drüben, auf dem so viel Laternen brannten, daß es wie eine Illumination aussah.
Ich beobachtete die Schwimmerin ...
Nun war sie dicht heran, hob den nackten Arm, winkte ...
Ich lehnte mich weit über die Reling ...
»Werfen Sie mir ein Tau herab, Herr Abelsen ...!« – halblaut nur. Und doch: diese Stimme kannte ich!
Ich war so überrascht, so fassungslos, daß ich mich zunächst überhaupt nicht rührte ...
»Ich bin's!« erklang die Stimme abermals.
Und sie tönte so übermütig-schalkhaft, daß ich rasch ein Tau ergriff und meiner Retterin an Bord half.
Sie trug einen dunklen Badeanzug ... Sie stand triefend vor mir mit ihrem wundervollen, knospenden Körper ... Streckte mir die nasse Hand hin ...
»Unverhofftes Wiedersehen, Herr Abelsen ...«
Sie sprach sehr leise, sehr hastig ... »Auf der Chaussee von Trelleborg trennten wir uns ... Hier treffen wir uns, und hier komme ich als Bittende zu Ihnen ... Fragen Sie nichts ... Ich muß sofort wieder zurück ... daß Sie hier an Bord, war mir bekannt ...«
Ich hielt ihre kühle Hand noch immer in der meinen ...
Oh – dieses Mädchen war schön ...
»... Eine Bitte, Herr Abelsen ... Bleiben Sie an Bord des Kutters ... Bleiben Sie, mag auch noch so Arges geschehen ... Und gehen Sie mit Jörnsen nicht allzu schwer ins Gericht. Was er ist – vielleicht lüftet er einmal die Maske. Bleiben Sie in meinem Interesse, Herr Abelsen. Es handelt sich für mich um Dinge von außerordentlicher Wichtigkeit ... Ich möchte einen Verbündeten hier an Bord haben ... Wir sehen uns wieder – später ... Und halten Sie die Augen gut offen ... – Wollen Sie ...?«
Noch immer ruhten ihre Finger in meiner Hand ...
»Ich will!« – da hatte sie mir auch schon ein kleines Päckchen in die Hand gedrückt – wie damals ... war schon über die Reling gestiegen, glitt ins Wasser ... schwamm davon – in langen, kräftigen Stößen ...
Ihr blondes Haar wurde immer undeutlicher ... Der helle Fleck zerrann ...
Es war wie ein Traum gewesen ...
Aber in der Hand hielt ich das feuchte Päckchen ... Es war eine fest zugebundene Gummiblase. Ich fühlte darin etwas Hartes. Die Neugier trieb mich in die Kajüte zurück ... Hier öffnete ich die wasserdichte Umhüllung ...
Was lag darin, in Seidenpapier gewickelt?
Ein kleiner, ovaler Bilderrahmen aus Bronze, umgeben von einem Kranz Bernsteinperlen ... In dem Rahmen die Photographie eines etwa neunjährigen Knaben im Matrosenanzug ...
Der Knabe war mir fremd ...
Und als ich den Rahmen hinten öffnete und das Bild herausnahm, sah ich, daß auf der Rückseite die Firma des Photographen und noch etwas ausgekratzt war – vielleicht eine Widmung ...