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Wir drei anderen verhalten uns regungslos. Ich befreie dann auch den Alten von den geteerten Stricken, reibe Frau Jörnsens Handgelenke ...
Kamerad Dorner hebt den Kopf ...
Ein Blick, der uns enttäuscht, gleitet über uns hinweg. Ein umflorter Blick ohne den Frohsinn, den wir drei erwartet haben ...
»Also Gerhard Dorner ...!« meint er leise. »Ja – Gerhard Dorner, es stimmt ... Doch – der Name allein hat mir wenig zurückgegeben. Ich bin Gerhard Dorner, und verschwommen sehe ich Bilder, die in mein früheres Dasein hinübergreifen ... Schiffsheizer ... Fahrt nach Deutschland, um teilzunehmen an dem Existenzkampf meiner Heimat gegen die Übermacht ... Alles so unklar, so, als könnte ich das alles auch nur gelesen haben in lebendigster, eindrucksvollster Schilderung ...«
Er reicht Jörnsen die Hand ...
»Ich danke dir ... Es ist immerhin etwas ... Vielleicht bringt die heilende Zeit mir volles Licht über das Einst ...«
»Ich möchte an Deck. Ich ersticke hier ...«
Und sie verläßt die Kajüte, zieht aber den Schlüssel aus der Tür, und schreitet davon.
Ob diese Szene hier ihr so nahe geht?? Ich hatte bisher nie gemerkt, daß sie übermäßig viel Gefühl besaß.
Dorner beachtet sie nicht, beschäftigt sich nur mit sich selbst ...
Sein Blick ist jetzt wie nach innen gerichtet, ist der eines Menschen, der nach innen lauscht, der aus der Seele feinsten Schwingungen mit Auge und Ohr die Melodie ferner Klänge entwirren will.
Ich lehne an dem schmalen Schrank neben dem Sofa, und das Herz ist mir schwer. Sollte das Schicksal wirklich so unendlich grausam sein und dem Kameraden auch jetzt noch die Pforte zum dunklen Gemach früheren Erlebens halb versperrt halten??
Ich habe wenig Hoffnung, daß die Zeit hier die gütige Erlöserin werden wird. Wenn dieser Augenblick, wo der Name Gerhard Dorner an Boche Boches Ohr doch wie der Posaunenton eines neuen Daseinsabschnitts gedrungen sein muß, die Fesseln nicht gesprengt hat. Was sollte noch stärkere Wirkung erzielen als dies?? Und die Wirkung war im Grunde gleich Null.
Dann sagt mein armer Kamerad wieder:
»Woher kennst du meinen Namen, Holger Jörnsen?«
Der Alte schaut sinnend auf das strahlend helle Deck hinaus ...
»Ich habe euch beiden noch vieles mitzuteilen ... Wir erörtern das besser alles im Zusammenhang ... – Abelsen, vielleicht erzählst du zunächst, wie Erik Jörnsen starb, der hier sein Weib und Kind seit anderthalb Jahren verborgen hielt, weil sie angeblich an Aussatz litten ... Dies hier ist Eriks Jacht »Skansen«, die – angeblich – bei den Falklandinseln gescheitert, gesunken war.« Er sprach merkwürdig zerstreut. Seine Gedanken waren nicht bei der Sache. »Ihr werdet die beiden nachher sehen, die er hier lebend begrub, bis drei patagonische Fischer auf der Seehundsjagd hier in die Wasserhöhle gerieten, und Senta, meine Nichte, ihnen den Brief für Gerda mitgab, den die braven braunen Kerle auch getreulich weiterbeförderten.«
Seine Stimme vibrierte leicht, und seine Augen blieben geradeaus gerichtet ...
Gerda!! Senta!!
Ich sah plötzlich unseren Garten vor mir ...
Die Schaukel ... und auf der Schaukel zwei blonde Mädelchen. Ich selbst hinter dem Schaukelkasten auf dem Rande stehend und uns drei hoch in die Luft schwingend ...
Kindheitstage!!
Jetzt wußte ich: Gerdas jüngere Schwester hatte Senta geheißen, ein stilles Kind, das stets friedlich für sich allein blieb ...
Gerhard reckte die Hand über den Tisch ...
»Jörnsen, Jörnsen, was war mir Gerda?? Jörnsen – ich kenne sie ... Was war sie mir, und wo ist sie??«
Seine Finger umkrallen des Alten Unterarm ...
Und Holger Jörnsen erwidert, während eine leichte Blässe sein Gesicht farblos macht:
»Drehe dich um, Gerhard ...« Die Stimme versagt ihm fast ... »Deine Gerda kommt ... Drehe dich um ...«
Dorner fährt hoch ...
Ich trete einen Schritt vor ...
Gerda kommt ... kommt langsam vom Vorschiff über das Deck ... Gerda in jenen Kleidungsstücken, die Frau Helga in Iquique so sorgfältig auswählte.
Dorner taumelt vorwärts – durch die Tür – Gerda entgegen ...
Zwei jubelnde Schreie ...
Zwei Menschen, die sich in den Armen liegen, die sich umklammert halten ...
Neben mir sagt Holger Jörnsen leise:
»Sein Weib, Abelsen ... seine Frau ...! Nicht Gerda Arnstör, sondern Gerda Dorner, freiwillige Krankenpflegerin an der deutschen Westfront, seine Pflegerin nach seiner ersten schweren Gasvergiftung, dann sein Weib, dann er wieder zur Front, verschollen ... Bis jener Tag in der Ostsee ihn zu uns auf den Torstensen führte mit dir zugleich, Abelsen ... zu uns, die wir dem Fährschiff gefolgt waren, nach dir suchten, Abelsen. Du wirst das nachher alles noch besser begreifen. Du bist in eine seltene Tragödie mit hineingezogen worden ...«
In mir erstirbt etwas für ewig.
Ich, der Ausgestoßene, habe wieder geliebt, und diese Liebe zerfällt in Asche ...
»Gerda war Helga, angeblich meine Frau, Abelsen ... Wir hatten unsere Gründe dafür, Gerda unkenntlich zu machen, als wir Trelleborg kurz nach der ›Drottning Viktoria‹ verließen, denn unsere Absicht war schon damals, hier dieses Versteck der Jacht ›Skansen‹ aufzusuchen ...«
Ich höre alles nur halb ...
Die beiden dort an Deck standen nun Hand in Hand, und Gerhard Dorners Gesicht war wie von einem Rausch von tiefster Seligkeit durchglüht.
Meine Liebe war Asche ...
Ich armer Tor, Tramp des Erdenrunds – – sollte mein verpfuschtes Dasein denn in die Alltagsbahn ruhigen Glücks wieder einlenken??
Und Hand in Hand kamen sie nun zu uns ...
Mein Kamerad ein völlig anderer ... Gerda mir lächelnd zunickend, noch Tränenspuren in den Augen.
»Die Pforte ist offen!« rief Dorner mit dem seligen Übermut dessen, der alles Böse, Tragische überwunden hat ... »Gerda hat den Riegel gesprengt ... Jetzt bin ich Gerhard Dorner, jetzt bin ich's wirklich!«
Ich bin kein Dichter, will kein Dichter sein. Dichter besingen den Alltag. Mein Lied klingt anders. Mein Lied ist Erleben abseits der Heerstraße der Glücklichen, Satten, Zufriedenen.
Wir saßen um den Tisch der Kajüte herum, und die Vorräte des Torstensen hatten ein wahres Festmahl gespendet.
Sechs saßen um einen Tisch, und drei hockten an Deck: die drei Patagonier!
Frau Senta Jörnsens blonder Junge, blaß und still, Frau Senta selbst, früh gealtert, bleich, in den Augen das große Leid ihrer Ehe, diese beiden paßten nicht in die Stimmung hinein, die selbst mir förmlich anflog, wenn ich das strahlende, wieder vereinte Ehepaar neidlos beobachtete.
Nachher war ich mit Holger Jörnsen allein ...
Ich will mich genau so knapp fassen, wie er es tat, als er mir nun die noch offenen Fragen mit kurzen Sätzen ausfüllte. Er war Junggeselle. Sein Zwillingsbruder, reich gewordener Fischer in Trelleborg, hatte ursprünglich den Kutter für sich bauen lassen ...
»Als Gerda dann den Brief ihrer Schwester erhalten hatte, lieber Abelsen – den Brief, den Erik ihr in jener Nacht abtrotzen wollte, als du dazwischen tratst, da wandte sie sich an mich, den alten, unruhigen Käpten, der trotz seiner fünfundsechzig Jahre noch immer die Meere befuhr ... Die Eltern meiner Nichten waren schon ein Jahrzehnt tot, mein Bruder in Trelleborg aber nicht der Mann danach, Erik Jörnsens ungeheuerliches Verbrechen an Weib und Kind vor aller Welt zu verheimlichen und die beiden Bedauernswerten dennoch zu befreien. – Abelsen, du bist ein Mensch, dem man nicht mit kleinsten Einzelheiten die Zusammenhänge dieser traurigen Geschehnisse zu erklären braucht. Du kannst dir vieles selbst ergänzen. Erik hatte eben seine Jacht heimlich hier in die Wassergrotte gesteuert, hatte die Besatzung, acht Mann, für alle Zeit stumm gemacht, hatte seiner Frau eingeredet, sie leide an Lepra genau wie ihr Kind ... Ein harmloser Ausschlag im Gesicht, den er natürlich auch irgendwie bei beiden hervorgerufen, half ihm, seinen scheußlichen Plan zu vollenden. Er zerstörte die Boote der Jacht bis auf eins, ließ die Seinen hier allein, landete nachher schwimmend auf den Falkland-Inseln, spielte den Schiffbrüchigen, kehrte nach Stockholm zurück, hatte Frau und Kind sehr hoch versichert, es kam zum Prozeß mit der Gesellschaft, die die Zahlung verweigerte. Auch uns gegenüber spielte er den untröstlichen Gatten und Vater. Aber ich traute ihm nicht. Er hatte mich stets wie ein kriecherischer Köter umschmeichelt. Er wußte, daß ich mir Millionen verschaffen konnte. Ich leugne es nicht, Abelsen: Ich habe eine Goldader gefunden, doch nie ausgebeutet! Hierüber kein Wort mehr ... Du kennst meine Ansichten über das Gold. – Dann sandte mir Gerda einen Brief. Sie war damals Gast unserer berühmten Landsmännin. Sie schrieb mir, daß Senta und der Junge auf einer Insel der Ines-Gruppe lebten – als Aussätzige. Ich bestellte Erik zu einer Rücksprache in die Villa der Schriftstellerin. Inzwischen traf ich meine Vorbereitungen für die Fahrt nach Südamerika. Erik schöpfte Argwohn, drang am Abend vor unserer Verabredung in Gerdas Schlafzimmer ein und forderte von ihr den Brief Sentas. Du, Abelsen, warfst ihn hinaus ... Das war die Einleitung. – Gerda brachte dich nach Trelleborg, kam dann sofort zu meinem Bruder, wo ich wohnte. Wir wollten dich mit nach Santa Ines nehmen, denn wir brauchten einen Mann wie dich. Wir wollten Eriks schändliches Verbrechen der Welt verheimlichen! Wir fanden dich und Dorner auf dem Floße treibend ... Und erkannten Dorner, Gerdas Gatten. Die Furcht, daß sein Verstand sich völlig verwirren würde, wenn wir ihm unvermittelt den Blick in die Vergangenheit wieder freigaben, zwang uns zu jener Komödie, die dir so viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Ganz allmählich wollten wir sein Gedächtnis wieder aufleben lassen. Es gelang uns ... Damals in Punta Garras wurde nur ich allein von Erik und den Meuterern überrascht. Gerda-Helga und du – ihr wart in Sicherheit. Der Abschluß jener drei Tage eurer Haft, die Massenvernichtung der Farbigen, war mein Werk. Es gelang mir mit Gerdas Hilfe, in jener Nacht in die Kombüse zu schleichen und das Zyankali in die Kaffeemühle zu tun. Ich bereue nichts, Abelsen ... nichts. Und doch entkam Erik – ein bloßer Zufall. Er sah seine Verbündeten hinsterben, schwamm an Land. Vergessen wir das Grauenvolle. Aber – Erik kam schneller hier nach der Insel. Überraschte die drei Patagonier, die uns vorausgeeilt waren, überraschte Gerda und mich, wußte noch immer nicht, daß es Gerda war ... Dann solltet ihr daran glauben, Boche Boche und du. Ihr habt es ihm heimgezahlt. Er ist tot ... Mag die Welt nun die Wahrheit wissen. Er ist tot.«
Meine Zigarre war mir längst ausgegangen. Jetzt hatte ich auch die Erklärung dafür, weshalb Doktor Jörnsen so plötzlich den Tod nicht mehr gescheut hatte: Ich hatte ihm verraten, wer allein die angebliche Frau Helga Jörnsen sein könnte: Gerda! Und da hatte er Gerda, die er als die Urheberin seiner Niederlage betrachtete, zusammen mit den anderen Gefangenen hier auf der Jacht den Hungertod sterben lassen wollen! –
Genug hiervon ...
Der Käpten hatte recht: Vergessen wir das Grauenvolle! Eine Bestie in Menschengestalt war unschädlich gemacht. Was dunkel gewesen, war nicht mehr unlösbares Rätsel.
Ich bin kein Dichter. Bin nach wie vor ruheloser Wanderer durch Einsamkeit und pfadlose Wildnis ...
Was ich schreibe, schreibe ich in armseligen Hütten, an Bord stinkender Fischkutter, in Kneipen aller Häfen der Welt ...
Am anderen Morgen sprach Holger Jörnsen davon, daß er für mich daheim in Schweden das Wiederaufnahmeverfahren meines Prozesses betreiben würde.
Ich winkte dankend ab.
Und mittags kam die Trennung von denen, die ich lieb gewonnen. Neue Kameraden hatte ich gefunden: die drei Patagonier. Bei denen wollte ich bleiben – vorläufig ...
Dorners Bitten, mein Dasein anders aufzubauen, fanden taube Ohren. Ich wollte dem Alltag aus dem Wege gehen. Ich war Abenteurer geworden, wollte es bleiben.
Es war ein herrlicher, windstiller Tag, als der Torstensen, die Jacht Skansen im Schlepp, die heute so friedliche Magelhaens-Straße erreichte und ostwärts steuerte ...
Ich stand im Kahn der Feuerländer, hinter mir saßen die drei braunen Söhne Patagoniens. Ich winkte den Freunden nach, sie winkten ein letztes Lebewohl.
Dann setzte ich mich ans Steuer ...
»Zurück nach Santa Ines!« befahl ich.
Die Ruder tauchten ein. Ich blickte nicht mehr zurück ...
Später las ich, daß der Kutter und die Jacht glücklich den Hafen von Punto Garras erreicht hatten.
Nach Santa Ines! Ich hatte meine Gründe dafür ...