Arthur Kahane
Willkommen und Abschied
Arthur Kahane

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6.

Florentin und Sibyl hatten den Garten verlassen. Vor der Gartentür, an derselben Stelle, an der er sie gestern früh zum erstenmal erblickt hatte, blieb er stehen und warf einen Blick auf den See, der spiegelblank in der warmen Vormittagsonne vor ihnen lag. »Komm, Onkel«, drängte sie; es war ihr, als müßte sie ihm eine peinliche Erinnerung ersparen. Sie lief auf dem schmalen Uferweg voraus; er folgte ihr und umfing die schlanke, schnellfüßige Figur mit den Augen: unwillkürlich suchte sein Blick die Wassernixe von gestern in dem frischen, hellgekleideten Ding vor sich und freute sich, wie gut ihr auch diese Verwandlung stand.

Sie drehte sich um. »Jetzt geht es gleich rechts hinauf,« erklärte sie, »und wir sind im Wald.« Er erinnerte sich genau. »Ich weiß. Glaubst du, ich habe alles vergessen? Jeden Fußsteig kenne ich noch.« »Und nicht einen Menschen werden wir treffen. Du wirst es sehen. Hier geht nie jemand.« »Um so besser. Ich mag die Leute nicht.« »Ich auch nicht«, sagte sie mit dem überzeugten Menschenhaß ihrer sechzehn Jahre.

Nach einigen Schritten verließen sie den Uferweg und bogen in einen Seitenpfad ein, der wenige Minuten lang zwischen zwei Gärten bergauf führte. Und dann begann die eigentliche Steigung in langen, schmalen Serpentinen den ziemlich steilen Berg hinan, so daß sie bald hoch über dem westlichen Ende des Sees standen. Sie gingen hintereinander, beide schnell und kräftig ausschreitend, ganz still, ohne ein Wort zu reden, des Waldes und 86 des Steigens froh. Jetzt erst wandten sie sich um und übersahen, in seiner ganzen Ausdehnung, den See, auf dessen dunkelgrüner Fläche die blitzenden Sonnenflecken perlten.

Sie sagten kein Wort, sahen es nur einander an den glänzenden Augen an, wie tief sie beide die düstere, einsame Schönheit des Bildes ergriff. Dann stiegen sie weiter. Der Weg wurde immer steiler und schmäler, manchmal nicht breiter, als ein Gemssteig, die Luft merklich dünner und schärfer. Florentin hätte jauchzen mögen, so fröhlich und befreit fühlte er sich.

»Du, das ist das Richtige«, sagte er. »Beim Bergsteigen nicht zu sprechen. Es wäre ja auch sonst schöner, aber auf die Berge gehört es nun einmal am wenigsten.« »Das ist merkwürdig,« erwiderte sie, »daß du auch so bist!« »Wie bin ich denn?« »Daß man mit dir nicht zu sprechen braucht. Und was das Schöne daran ist: nicht nur, daß man schweigen kann, wenn man will, man hat auch nicht das unangenehme Gefühl, daß das Sprechen fehlt, daß man eigentlich sprechen müßte. Bei den anderen Leuten denkt man, der hält dich jetzt für dumm, wenn du nicht den Mund aufmachst. Und wenn man sich auch noch so wenig daraus macht, man schämt sich doch vor sich selbst. Vor dir schäme ich mich gar nicht: ich weiß, du verstehst mich auch so. Wozu braucht man da das Reden! Weißt du, Onkel Florentin, du selbst schweigst so natürlich. Es ist so selbstverständlich bei dir. Und das macht einem Mut. Und ich habe das Gefühl, du denkst dir genau dasselbe wie ich. Das Gefühl habe ich sonst nur noch bei Mutter. Sonst bei keinem anderen Menschen.« »Wirklich, Billy, glaubst du das?« »Ja. Gestern schon den ganzen Tag. Und während du erzählt hast. Denk' dir, ich habe mir unterdessen immerfort gedacht, was du eigentlich für schweigsamer, stiller Mensch bist, wenn du auch noch soviel erzählst. Und weißt du, was ich mir noch gedacht habe?«

Sie gingen jetzt, so schmal der Weg war, nebeneinander her.

87 »Nun, Billy, was?« »Aber lach' mich nicht aus! Ich habe mir gedacht, daß ich, wenn ich ein Mann wäre, genau dasselbe erlebt und genau so gehandelt hätte wie du, und genau so empfände und dächte wie du. Jetzt lachst du mich aus, weil mir das alles doch eigentlich ganz fremd und fern sein muß und weil doch alles so ungewöhnlich und wild und abenteuerlich war. Aber in dem Moment, da du's erzählt hast, war es mir gar nicht mehr fremd, im Gegenteil, es kam mir vor, als gehörte das alles jetzt auch zu uns und zu unserem Leben und kam mir so vor, als hätte ich es miterlebt. Und heute früh, nach der Nacht, habe ich dasselbe Gefühl noch gehabt. Alles, was du gesagt hast, hätte ich auch sagen wollen. Wie bei Mutter. Darum traue ich mich bei euch beiden zu schweigen. Ihr werdet mich schon verstehen. Und weil ich mit euch beiden schweigen kann, kann ich mit euch beiden auch reden. Aber nur mit euch. Aber schau, jetzt hast du mich gerade gelobt, weil ich beim Bergsteigen zu schweigen verstehe, und jetzt tue ich die ganze Zeit nichts anderes als reden.«

»Weißt du, Billy, das ist fast noch netter. Rede nur ruhig weiter!«

»Nein, Onkel, jetzt nicht mehr. Vielleicht später wieder.«

Und lief wieder voraus und sie stiegen, schweigend, weiter, immer höher.

Der Hochwald lichtete sich, wurde dünner; die Bäume, schlanke Kiefern und Fichten, standen spärlicher, wechselten mit niederem Gestrüpp und Gebüsch; der Boden wurde kahl. Der Blick weitete sich, überflog den See, entdeckte andere Seen, umspannte andere Täler, neue Berge. Ganz scharf wehte die Luft, hob die Brust und sauste in den Adern.

Sie stieg wie eine Gemse. Er sah, wie sie die Ferse fest aufsetzte, die Beine kräftig hob; und doch schien sie zu schweben: so leicht, mühelos, und, in ihrer konzentrierten Kraft, zierlich wurde ihr die Bewegung. Ein Schritt war wie der andere, gleichmäßig 88 und ruhig. Er dachte an die Mutter. Das Mädchen kletterte, wie jene sprach. So verschieden sie waren, diese herbe, verschlossene Kraft von jener sprudelnd lebendigen, beweglichen Zartheit und Feinheit, so lag doch in beiden dieselbe schwebende Bestimmtheit, in der Körperlichkeit der einen wie in der Geistigkeit der anderen. Und nun suchte er eifrig die Züge und Linien der Mutter in denen der Tochter: in allem, im Gang und im Schritt, in den Bewegungen der Schulter, in der Haltung des Rückens, in Ansatz, Fall und Farbe der Haare und in der Art, wie Arme und Hände am Körper lagen. Alles war ganz anders: und doch fand er die eine in der anderen wieder. Und dieses Wiederfinden machte ihn fröhlich, glücklich und voll Vertrauen. Fast war es ihm, als wäre die Mutter mit und er hätte die ganze Zeit ihre Stimme gehört, die ihnen beiden über das Schweigen weghalf. So merkte er sein eigenes Schweigen nicht und spürte es erst wieder, als sie die Anhöhe erreicht hatten.

Sie fühlte im Schreiten seinen Blick auf sich und er tat ihr wohl und beruhigte sie; denn eine maßlose Angst hatte sie überkommen, er könnte sich in seiner Einsamkeit, die ihn für ihr Gefühl wie eine Ahnung von Sterben und Todeslust umgab, verlieren. Sie hatte es nicht gewagt, sich umzublicken, als könnte er mit einemmal weg sein; sie hatte zu ihm gesprochen, um ihn mit Worten ans Leben zu binden; aber dann ging es nicht mehr und die Stimme hatte ihr versagt und sie fand die Worte nicht mehr. Und so hatte sie atemlose Furcht immer höher und höher getrieben; aber mit der Bewegung, die alle ihre Muskeln und Nerven spannte, war Bewußtsein ihrer Kraft und Jugend über sie gekommen und sie hatte ihr Leben gespürt; und die Hoffnung war ihr zurückgekehrt, sie brauche sich nur zwischen ihn und seine Einsamkeit zu werfen. Und da hatte sie auf einmal, bis ins Innerste gewiß, seinen warmen, vollen Blick gefühlt und wußte, daß dieser Blick ihn an sie und ans Leben band, und war nun voller Ruhe und Zuversicht.

89 Und nun waren sie oben, wo, zwischen zwei Bergen eingesattelt, die grüne Bergwiese sich dehnte. Eine verschlossene Hütte stand da und vor der Hütte eine Bank. Sonst nichts als er und sie und die beiden Berge, der eine kleiner mit dem vorgelagerten Steinblock, der wie ein trotzig gereckter Daumen in den Himmel drohte, und die riesigen, graukahlen Felswände des anderen, und der unendlich weite Blick über Berge und Seen. Über dem blitzend hellen Grün hing in strahlendem Glanze die Glocke des Himmels. Und wieder überkam beide die grenzenlose Einsamkeit.

Alles schwieg. Kein Vogellaut, keiner Mücke Summen war hörbar. Die beiden setzten sich. Keines von ihnen war eines Wortes mächtig.

Sie saßen lange, lange schweigend da. Gesenkten Kopfes, wie in sich versunken, fast zitternd, es könnte das Schweigen das Klopfen ihrer Herzen verraten. Ihn erfaßte ein tiefes Mitleid, dessen tiefsten Grund er selbst nicht begriff: das arme Kind! Kaum wage ich es zu ahnen, was dich quält. Und kann dir nicht helfen. Und sie Mitleid und Angst und die Rätselhaftigkeit des Lebens: warum spricht er nicht? Warum kann er es nicht sagen? Und woran denkt er? Sind seine Gedanken bei mir? Oder sind sie weit weg, immer noch in der tollen Unbegreiflichkeit dieses Lebens, das den Ruhelosen über die Erde peitscht und hetzt? Und kann ich ihm nicht helfen?«

Und auf einmal sahen sie beide auf, und er sah in zwei angsterfüllte Augen, aus denen die hellen Tränen liefen, und sie konnte nicht anders, sie packte seine beiden Hände, und die Worte tropften ihr schwer und mühsam von den zitternden Lippen: »Sag' es mir! Sag' es mir doch! Warum du das getan hast? Bitte, sag' es mir!«

Was getan? Was meinte sie? Im ersten Augenblick verstand er sie gar nicht. Und dann erst schoß es ihm auf. Sie dachte nämlich immer noch an den vermeintlichen Selbstmord. Daher 90 ihr Mitleid. Er schämte sich der dummen Lüge. Jetzt mußte er es ihr endlich sagen. Da half nichts. Jetzt mußte er sie aufklären. Heraus mit der Wahrheit, und wenn sie für ihn noch so beschämend war! Aber wie anfangen? Es war unmöglich. Sollte er ihr sagen, daß er sich nur ihretwegen ins Wasser geworfen habe, um ihren jungen Wangen das Erröten zu ersparen? Und wenn sie weiter fragt: weil ich ihren jungen Körper nackt gesehen habe? Er sollte das aussprechen: weil ich dich nackt gesehen habe? Das sollte der Dank für ihr Mitleid, für ihr Vertrauen sein? Der erste Mensch, zu dem sie Vertrauen gefaßt hat, sollte der sein, der ihre Seele vergiftet? Das sollte ihr erster Blick ins Leben sein? Nie wieder würde er ihr, sie nie wieder ihm in die Augen sehen können. Nein, er konnte das nicht.

Er schwieg und sie fuhr fort, dringender und heftiger: »Willst du es mir nicht sagen? Hast du kein Vertrauen zu mir? Ist es so arg, was dich drückt, daß du es nicht einmal sagen kannst? Oder glaubst du, daß ich noch zu jung bin und dich nicht verstehen werde? Glaub' mir, ich werde dich verstehen. Ich bin ja auch so einsam wie du. Aber warum bist du so einsam? Hat dich denn niemand lieb? Hast du denn niemand gefunden, der dich liebhat? Aber du wirst jemand finden. Du sollst nicht einsam sein. Ich will nicht, daß du einsam bist. Ich will es nicht. Lieber, lieber Florentin, hörst du, ich will nicht, daß du einsam bleiben sollst.«

Was war das? Seltsam. Kam wieder die Hand von außen, von oben, die ihm sein Schicksal aus den Händen nahm? Noch hatte er es in der Hand. Noch konnte er mit einem Wort das Band zerreißen, das sich plötzlich um ihn und dieses Kind schlang. Noch konnte er es, und es würde mit einem jähen Aufzucken seiner erschreckten Seele fliehen und ihn auf ewig meiden. Nein, er konnte es nicht mehr. Lieber lügen! Was liegt daran! Lieber sich selbst hinwerfen, dem Schicksal hinwerfen: tu mit mir, 91 Schicksal, was du willst! Was liegt daran? Was liegt daran, was mit einem geschieht? Ist nicht alles Geschehen im Grunde gleichgültig? Was liegt mir an mir! Um dieses Kindes Seelenfrieden handelte es sich jetzt! Nicht um ihn. Und warum sollte er nicht, wie so oft schon, sich von des Lebens Plötzlichkeiten überrumpeln lassen? Wenn es nun doch schon einmal sein Geschick war.

Er sah die beiden brennenden Augen mit tausend Fragen gefüllt ganz nahe vor seinem Gesicht und konnte sich nicht anders helfen, küßte sie, küßte die Tränen von dem jungen Gesicht weg. Sibyl schlug beide Arme um seinen Hals.

Schweigend gingen sie heim. Als sie vor dem Hause standen, sagte Sibyl: »Sprich du mit Papa! Mutter werde ich es sagen.« »Und was soll ich eigentlich dem Papa sagen, Sibyl?« »Daß wir uns verlobt haben, Onkel Florentin.« 92

 


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