Arthur Kahane
Willkommen und Abschied
Arthur Kahane

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18.

Sibyl erwachte und fand das besorgte Auge der Mutter über ihrem Gesicht.

»Mutter!« sagte sie leise, in tiefer Scham.

»Kind, mein liebes Kind!«

»Wo ist er, Mutter?«

»Später, mein Kind!«

»Muß ich sterben, Mutter?«

»Nein, Kind, du wirst leben und glücklich sein. Florentin hat dich zum Leben gerettet.«

»Wo ist er, Mutter?« Ihre Stimme wurde ängstlicher und dringlicher.

»Ich weiß es nicht, Kind. Er wird kommen. Später. Ganz sicher kommt er wieder.«

»Und muß ich ganz bestimmt nicht sterben? Ich habe solche Angst, Mutter.«

»Nein, Kind. Glaube mir! Säße ich sonst so ruhig bei dir?«

»Ach, Mutter, ich will noch nicht sterben. Ich möchte so gerne leben und glücklich sein. Glaubst du, Mutter, werde ich je wieder glücklich sein? Nach dem? Werde ich das je vergessen können? Werde ich mich nicht immer vor dir, vor ihm schämen müssen?«

»Nein, Kind, vergessen wirst du nicht und sollst du auch nicht. Aber nicht unglücklich wird es dich machen, sondern reich. Und du brauchst dich deines Leides nicht zu schämen. Nichts ist 209 schöner als Leid in der Erinnerung. Mein eigenes Leben, Billy, hat mich das gelehrt. Und ich will dir von mir erzählen. Jetzt bist du erwachsen, Billy, und kannst alles verstehen. Und ich will dir alles sagen, auch das Geheimste, denn ich will nie wieder einen anderen Vertrauten haben als dich.«

Sie zog die Vorhänge auf. Es war hell geworden und die Sonne zeigte sich schüchtern hinter den sich verziehenden Wolken.

»Steh auf, Billy, und ziehe dich an! Komm mit mir an den See hinunter. Das Gewitter hat sich verzogen, die Sonne ist wieder da und wird dir gut tun.«

Sie half ihr, und in einigen Minuten standen sie unten am See. Sibyl lehnte, noch immer schwach, an der Schulter der Mutter.

»Mutter, ist er fort?«

Frau Blanche nickte.

»Auf immer?«

»Auf immer.«

»Weil er mich nicht mehr liebt?«

»Nein.«

»Ich weiß es, Mutter. Ich fühle es. Ich habe es immer gefühlt. Mutter, sage mir alles! Weil er mich nicht mehr liebt. Weil er eine andere liebt.«

»Weil er dich zu sehr liebt. Weil eine andere ihn liebt.«

»Mutter!«

»Weil ich ihn liebe. Kind, was ich dir jetzt beichten muß, hat noch nie eine Mutter, die ihr Kind liebt, ihrem Kinde gestehen müssen. Aber ich sage es dir, weil ich dich lieb habe und ein grenzenloses Vertrauen zu meinem Kinde, und weil ich weiß, wie du mich liebst. Und darum sage ich dir, nur dir, das Geheimnis meines Lebens, das nie ein anderer von mir wissen darf. Ich bin es, die dein Liebesglück zerstört hat und deinen Liebsten vertrieben. Ich liebe ihn, und er wußte es und ging fort, weil seine große Seele es nicht vertrug, zwischen mir und dir zu stehen, 210 und er dich zu sehr liebte, um dich vor die furchtbare Wahl zwischen Mutter und Geliebten zu stellen, und lieber selbst unglücklich wurde, um uns die schmerzlichste Tragödie zu ersparen. Um meiner Liebe willen nahm er Flucht und Opfer auf sich, brachte sich selbst, sein Lebensglück und deines zum Opfer. Wirst du mir das je verzeihen?«

»Ich dir verzeihen?! Aber Muttchen, liebes, armes Muttchen!«

Sie umschlang sie mit beiden Armen. Und auf einmal fühlte sie sich als die Stärkere, und ein freudiger Stolz leuchtete um ihre Augen, daß sie es war, die ihrer Mutter ihr junges Liebesglück hatte zum Opfer bringen dürfen; und schwor sich in ihrem Innern, von nun an vor der Mutter das eigene Leid zu verstecken und sie den verlorenen Geliebten durch unermüdliche Zärtlichkeit und Heiterkeit vergessen zu machen. Und dank der neuen Lebensaufgabe hatte sie die zärtlich Geliebte jetzt lieber als je vorher.

So gingen die beiden Frauen Hand in Hand, in der jungen Sonne des erwachten Tages, den Seeuferweg entlang. Und immer mußte Frau Blanche erzählen, wie Florentin von ihr Abschied genommen, und was er gesagt, und wie er Billy hatte grüßen lassen, und wie sie beide den Aufschrei gehört, und wie Florentin ins Wasser gesprungen und sie herausgeholt und sie gerettet habe, und wie er sie ins Zimmer getragen und sich um sie bemüht und an ihrem Bett gesessen und nicht früher geruht habe, als bis er sie zum Leben erweckt hatte. Und wie er dann noch einmal Lebewohl gesagt habe und gegangen sei, ruhig, still, traurig, aber gefaßt und entschlossen wie ein Mann. Und die beiden Frauen sahen mit zärtlich winkenden, sehnsüchtig suchenden Augen über den noch im Nebel liegenden See, als wäre er ein Weltmeer, jenseits dessen der von beiden geliebte Mann sein neues Leben beginnen wird.

»Verrückt«, sagte Herr Otto Moser, als er einige Stunden später beim Frühstück von Florentins Flucht erfuhr, die man ihm 211 mit Dank und Grüßen und der Angabe eines gleichgültigen Vorwandes mitteilte. »Verrückt! Ohne Grund, ohne Abschied, ohne Brief, ohne jede Erklärung! Aber es sieht ihm gleich. Es ist ja nicht das erstemal. Schade! Mir tut's ja nur um das Mädel leid. Aber glaube mir, Billy, es ist besser so für dich. Habe ich es nicht immer gesagt, Blanche, daß er nicht für die Ehe taugt? Schade! Ich hätte einen Mann aus ihm machen können. Aber er hat ja nicht wollen. Da liegt der eigentliche Grund. Der wahre Grund ist Neid. Neid auf mich, auf mein Glück, auf meine gesicherte Lebensstellung, die hat er nicht vertragen. Das habe ich doch immer gewußt, daß es ihm bei seinen Puyfourcats eigentlich besser gefällt als bei uns. Weil er, nämlich, kein soziales Taktgefühl hat. Kein soziales, und daher auch kein brüderliches. Lehrt mich doch nicht meinen Bruder kennen! Glaubt mir, der einzige, der ihn wirklich kennt, bin ich. Ich sehe tiefer. Ich habe eben Augen im Kopf. Ihr Frauen bildet euch am Ende ein, das sehe ich euch ja an, ihr meint natürlich, daß eine Liebesgeschichte dahinter stecken muß. Der und lieben! Da kenne ich ihn besser. Aber Frauen wissen ja nie . . .!«

 

Ende.

 


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