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Ich hatte mich nunmehr in der Schule zurecht gefunden und befand mich wohl in derselben, da das erste Lernen rasch aufeinander folgte und, leicht faßlich, täglich fortschritt. Auch die Einrichtung derselben hatte viel Kurzweiliges, ich ging gern und eifrig hinein, sie bildete mein öffentliches Leben und war mir ungefähr was dem neugierigen Athenienser die Gerichtsstätte und das Theater. Es war keine öffentliche Anstalt, sondern das Werk eines gemeinnützigen wohltätigen Vereins und dazu bestimmt, bei dem damaligen Mangel guter niedriger Volksschulen, den Kindern dürftiger Leute eine bessere Erziehung zu verschaffen, und hieß daher Armenschule. Die Pestalozzische Unterrichtsweise wurde angewendet, und zwar mit einem Eifer und einer Hingebung, welche gewöhnlich nur Eigenschaften von leidenschaftlichen Privatschulmännern zu sein pflegen. Mein Vater hatte bei seinen Lebzeiten für die Einrichtung und für die Ergebnisse dieser Anstalt geschwärmt und oft den Entschluß ausgesprochen, meine ersten Schuljahre in derselben verfließen zu lassen, schon darin eine Erziehungsmaßregel suchend, daß ich mit den ärmsten Kindern der Stadt meine frühsten Jugendjahre zubrächte und aller Kastengeist und Hochmut so im Keime erstickt würden. Diese Absicht war für meine Mutter ein heiliges Vermächtnis und erleichterte ihr die Wahl der ersten Schule für mich. In einem großen Saale wurden etwa hundert Kinder unterrichtet, zur Hälfte Knaben, zur Hälfte Mädchen, vom fünften bis zum zwölften Jahre. Sechs lange Schulbänke standen in der Mitte, von dem einen Geschlechte besetzt, jede bildete eine Altersklasse, und davor stand ein vorgeschrittener Schüler von elf bis zwölf Jahren und unterrichtete die ganze Bank, welche ihm anvertraut war, indessen das andere Geschlecht in Halbkreisen um sechs Pulte herum stand, die längs den Wänden angebracht waren. Inmitten jedes Kreises saß auf einem Stühlchen ebenfalls ein unterrichtender Schüler oder eine Schülerin. Der Hauptlehrer thronte auf einem erhöhten Katheder und übersah das Ganze, zwei Gehilfen, aus ehemaligen Schülern herangezogen, standen ihm bei, machten die Runde durch den ziemlich düstern Saal, hier und dort einschreitend, nachhelfend und die gelehrtesten Dinge selbst beibringend. Jede halbe Stunde wurde mit dem Gegenstande gewechselt, der Oberlehrer gab ein Zeichen mit der Klingel, und nun wurde ein treffliches Manöver ausgeführt, mittelst dessen die hundert Kinder in vorgeschriebener Bewegung und Haltung, immer nach der Klingel, aufstanden, sich kehrten, schwenkten und durch einen wohlberechneten Contre-Marsch in einer Minute die Stellung wechselten, so daß die früher fünfzig Sitzenden nun zu stehen kamen und umgekehrt. Es war immer eine unendlich glückliche Minute, wenn wir, die Hände reglementarisch auf dem Rücken verschränkt, die Knaben bei den Mädchen vorbeimarschierten und unsern soldatischen Schritt gegen ihr Gänsegetrippel hervorzuheben suchten. Ich weiß nicht, war es eine artige herkömmliche Vergessenheit, oder eine Pietät, oder gar eine Absicht, daß es erlaubt war, Blumen mitzubringen und während des Unterrichts in den Händen zu halten, wenigstens habe ich diese hübsche Lizenz in keiner andern Schule mehr gefunden; aber es war immer gut anzusehen während des lustigen Marsches, wie fast jedes Mädchen eine Rose oder eine Nelke in den Fingern auf dem Rücken hielt, während die Buben die Blumen im Munde trugen, wie Tabakspfeifen, oder dieselben burschikos hinter die Ohren steckten. Es waren alles Kinder von Holzhackern, Tagelöhnern, armen Schneidern, Schustern und von almosengenössigen Leuten. Habliche Handwerker durften ihres Ranges und Kredits wegen die Schule nicht benutzen. Daher war ich der best und reinlichst gekleidete unter den Buben und galt für halb vornehm, obgleich ich bald sehr vertraulich war mit den buntscheckig geflickten armen Teufeln, ihren Sitten und Gewohnheiten, insofern sie mir nicht allzu fremd und unfreundlich waren. Denn obgleich die Kinder der Armen nicht schlimmer und etwa boshafter sind als die der Reichen oder sonst Geborgenen, im Gegenteil eher unschuldiger und gutmütiger, so haben sie doch manchmal äußerliche grinsende Derbheiten in ihren Gebärden, welche mich bei einigen Mitschülern abstießen.
Die erste männliche Kleidung, welche ich erhielt, war grün, da meine Mutter aus der Schützenkleidung des Vaters eine Zwillingstracht für mich schneiden ließ, für den Sonntag einen Anzug und für die Werktage einen. Auch fast alle nachgelassenen bürgerlichen Gewänder waren von grüner Farbe; bis zu meinem zwölften Jahre aber reichte der Nachlaß zur Herstellung von grünen Jacken und Röcklein aus, bei der großen Strenge und Aufmerksamkeit der Mutter für Schonung und Reinhaltung der Kleider, so daß ich von der unveränderlichen Farbe schon früh den Namen »grüner Heinrich« erhielt und in unserm Städtchen bis auf den heutigen Tag trug. Als solcher machte ich in der Schule und auf der Gasse bald eine bekannte Figur und benutzte meine grüne Popularität zur steten Fortsetzung meiner Beobachtungen und chorartigen Teilnahme an allem, was geschah und gehandelt wurde. Die tatkräftigen und stimmführenden Größen der Bubenwelt ließen meine Nähe immer gelten, nahmen mich in Schutz und entdeckten öfter mit wohlwollender Herablassung, daß ich zu mehrerem zu gebrauchen sei als es den Anschein hatte; einzelne schlossen sich an mich an und blieben mir dann längere Zeit getreu in allerlei Bestrebungen. Ich drang mit den verschiedensten Kindern, je nach Bedürfnis und Laune, in die elterlichen Häuser und war als ein vermeintlich stilles gutes Kind gern gesehen, während ich mir genau den Haushalt und die Gebräuche der armen Leute ansah und dann wieder wegblieb, um mich in mein Hauptquartier bei der Frau Margret zurückzuziehen, wo es am Ende immer am meisten zu sehen gab. Sie freute sich, daß ich bald imstande war, nicht nur das Deutsche geläufig vorlesen, sondern auch die in ihren alten Büchern häufigen lateinischen Lettern erklären zu können sowie die arabischen Zahlen, die sie nie verstehen lernte. Ich verfertigte ihr auch allerlei Notizen in Frakturschrift auf Papierzettel, welche sie aufbewahren und bequem lesen konnte, und ward auf diese Weise ihr kleiner Geheimschreiber. Schon sah sie, die mich für ein großes Genie hielt, einen ihrer zukünftigen, klugen Glückmacher in mir und war im voraus meiner glänzenden Laufbahn froh. Wirklich machte mir das Lernen weder Mühe noch Kummer, und ich war, ohne zu wissen wie, zu der Würde herangediehen, die kleineren Genossen unterrichten zu dürfen. Dieses geriet mir zu einer neuen Lust, vorzüglich weil ich, ausgerüstet mit der Macht zu lohnen und zu strafen, kleine Schicksale kombinieren, Lächeln und Tränen, Freund- und Feindschaft hervorzaubern konnte. Sogar die Frauenliebe spielte ihre ersten schwachen Morgenwölkchen dazwischen. Wenn ich in einem Halbkreise von neun bis zehn kleinen Mädchen saß, so war der erste ehrenvollste Platz bald zunächst meiner Seite, bald war es der letzte, je nach der Gegend in dem großen Saale. So geschah es, daß ich die Mädchen, welche ich gern sah, entweder fortwährend oben hielt in der Region des Ruhmes und der Tugend, oder aber sie stets niederdrückte in die dunkle Sphäre der Sünde und der Vergessenheit, in beiden Fällen immer zunächst meinem tyrannischen Herzen. Dieses aber ward selbst reichlich mitbewegt, wenn ich oft von der ohne Verdienst erhobenen Schönen kein Lächeln des Dankes erhielt, wenn sie die unverdiente Ehre hinnahm, als ob sie ihr gebührte, und es mir durch mutwillige rücksichtslose Streiche unendlich erschwerte, sie auf der glatten Höhe zu halten ohne auffallende Ungerechtigkeit. Wenn ich hingegen eine andere Geliebte, jede kleine Unaufmerksamkeit benutzend, nach und nach heruntergebracht hatte bis auf den letzten ruhmlosen Platz an meiner Seite, nicht achtend auf ihre kummervollen Tränen oder vielmehr angenehm durchschauert durch dieselben, so suchte ich das Leid dann durch verdoppelte Freundlichkeit aufzuhellen, bis mich die hartnäckige Trauer, welche nichts von meinen wahren Gefühlen ahnen wollte, langweilte und ich die spröde Unglückliche jählings wieder hinauf jagte in die heitere kühle Höhe, wo sie wieder fröhlich wurde, während ich eine kleine unverbesserliche Sünderin ohne Mühe an den ihr gebührenden Schandenplatz herniederdonnerte, wo dieselbe gar wohl gedieh, meinem Zorne lächelte und sich im geheimen alle möglichen Neckereien gegen mich erlaubte, die ich halb murrend, halb verliebt erduldete.
Nur zwei Dinge waren mir in dieser Schule quälend und unheimlich und sind eine unliebliche Erinnerung geblieben. Das eine war die düstere kriminalistische Weise, in welcher die Schuljustiz gehandhabt wurde. Es lag dies teils noch im Geiste der alten Zeit, an deren Grenze wir standen, teils in einer Privatliebhaberei der Personen, und harmonierte übel mit dem übrigen guten Ton. Es wurden ausgesuchte peinliche und infamierende Strafen angewendet auf dies zarte Lebensalter und es verging fast kein Monat ohne eine feierliche Exekution an irgend einem armen Sünder. Zwar wurden meistens wirkliche frühzeitige Schlingel betroffen, war aber immerhin verkehrt, indem es die Kinder zu einem frühen geläufigen Verdammen und Pharisäertum hinführte; so schon ist es eine seltsame Erscheinung, daß die Kinder, selbst wenn sie das Bewußtsein des gleichen Fehlers in sich haben, aber verschont geblieben sind, ein bestraftes und bezeichnetes verachten, verfolgen und verhöhnen, bis die letzten Wirkungen verklungen oder die Verfolger selbst in das Netz gefallen sind. Solange das goldene Zeitalter nicht gekommen, müssen kleine Buben geprügelt werden; ich fühle die doppelte Wohltat noch jetzt nach, wie mich ein tüchtiger Prügelschauer wie ein Gewitter von einer drückenden Schwüle befreite und einem frischen Wohlverhalten wieder Raum verschaffte, da ich zu Hause nie gezüchtigt wurde. Allein einen widerlichen Eindruck machte es, wenn ein böser Junge, nach gehaltener Standrede, in ein abgelegenes Zimmer geführt, dort ausgezogen, auf eine Bank gelegt und abgehauen wurde, oder als einmal ein ziemlich großes Mädchen mit einer umgehängten Tafel auf einem Schranke stehen mußte, einen ganzen Tag lang. Ich hatte großes Mitleid mit ihr, obgleich sie etwas Großes begangen haben mußte. Vielleicht war sie auch unschuldig verurteilt! Ein paar Jahre später ertränkte sich das gleiche Mädchen während des Konfirmationsunterrichtes, ich weiß nicht mehr weshalb, erinnere mich aber noch der trauernden Teilnahme, welche ich für die Tote hegte, als ich sie begraben sah, gefolgt von einer großen Schar weiß gekleideter Mädchen zwischen fünf- und sechzehn Jahren, welche Blumen trugen. Man erwies ihr, ungeachtet ihres unchristlichen Todes, diese Ehre ihrer Jugend wegen, weil man zugleich das grelle Ereignis damit verhüllen und mäßigen konnte.
Die andere peinliche Erinnerung an jene Schulzeit sind mir der Katechismus und die Stunden, während deren wir uns damit beschäftigen mußten. Ein kleines Buch voll hölzerner, blutloser Fragen und Antworten, losgerissen aus dem frischen Leben der biblischen Schriften, nur geeignet, den dürren Verstand bejahrter und verstockter Menschen zu beschäftigen, mußte während der so unendlich scheinenden Jugendjahre in ewigem Wiederkäuen auswendig gelernt und in verständnislosem Dialoge hergesagt werden. Harte Worte und harte Bußen waren die Aufklärungen, beklemmende Angst, keines der dunklen Worte zu vergessen, die Anfeuerung zu diesem religiösen Leben. Einzelne Psalmstellen und Liederstrophen, ebenfalls aus allem Zusammenhange gezerrt und deshalb unlieber einzuprägen als ein ganzes organisches Gedicht, verwirrten das Gedächtnis, anstatt es zu üben. Wenn man diese, gegen die verwilderte Sündhaftigkeit ausgewachsener Menschen gerichteten, vierschrötigen nackten Gebote neben den übersinnlichen und unfaßlichen Glaubenssätzen gereiht sah, so fühlte man nicht den Geist wehen einer sanften menschlichen Entwicklung, sondern den schwülen Hauch eines rohen und starren Barbarentums, wo es einzig darauf ankommt, den jungen, zarten Nachwuchs auf der Schnell- und Zwangbleiche so früh als möglich für den ganzen Umfang des bestehenden Lebens und Denkens fertig und verantwortlich zu machen. Die Pein dieser Disziplin erreichte ihren Gipfel, wenn mehrere Male im Jahre die Reihe an mich kam, am Sonntage in der Kirche, vor der ganzen Gemeinde, mit lauter vernehmlicher Stimme das wunderliche Zwiegespräch mit dem Geistlichen zu führen, welcher in weiter Entfernung von mir auf der Kanzel stand, und wo jedes Stocken und Vergessen zu einer Art Kirchenschande gereichte. Viele Kinder schöpften zwar gerade aus dieser Übung Gelegenheit, mit Salbung und Zungengeläufigkeit, wohl gar mit ihrer Frechheit zu prunken, und der Tag geriet ihnen immer zu einem Triumph- und Freudentag. Gerade bei diesen erwies es sich aber jederzeit, daß alles eitel Schall und Rauch gewesen. Es gibt geborene Protestanten, und ich möchte mich zu diesen zählen, weil nicht ein Mangel an religiösem Sinne, sondern, freilich mir unbewußt, ein letztes feines Räuchlein verschollener Scheiterhaufen, durch die hallende Kirche schwebend, mir den Aufenthalt widerlich machte, wenn die eintönigen Gewaltsätze hin und her geworfen wurden. Nicht als ob ich mir einbilden wollte, ein scharfsinnig polemisches Wunderkind gewesen zu sein; sondern es war reine Sache des angeborenen Gefühles.
So wurde ich gewaltsam auf meinen Privatverkehr mit Gott zurückgedrängt, und ich beharrte auf meiner Sitte, meine Gebete und Verhandlungen selbst zu verfassen nach meinem Bedürfnisse und sie auch in Ansehung der Zeit nur dann anzuwenden, wenn ich ihrer bedurfte. Einzig das Vaterunser wurde morgens und abends regelmäßig, aber lautlos, gebetet.
Aber nicht nur dieses geschah. Auch aus meinem inneren und äußeren Spiel- und Lustleben wurde der liebe Gott verdrängt und konnte weder durch die Frau Margret noch durch meine Mutter darin erhalten werden. Für lange Jahre wurde mir der Gedanke Gottes zu einem prosaischen nüchternen Gedanken, in dem Sinne, wie die falschen Poeten das wirkliche Leben für prosaisch halten im Gegensatze zu dem erfundenen und fabelhaften. Das Leben, die sinnliche Natur waren merkwürdigerweise mein Märchen, in dem ich meine Freude suchte, während Gott für mich zu der notwendigen, aber nüchternen und schulmeisterlichen Wirklichkeit wurde, zu welcher ich nur zurückkehrte, wie ein müdgetummelter, hungriger Knabe zur alltäglichen Haussuppe, und mit der ich so schnell fertig zu werden suchte als möglich. Solches bewirkte die Art und Weise, wie die Religion und meine Kinderzeit zusammengekuppelt wurden. Wenigstens kann ich mich, trotzdem daß jene ganze Zeit wie ein heller Spiegel vor mir liegt, nicht entsinnen, daß ich vor dem Erwachen der Vernunft je einen Andachtschauer, wenn auch noch so kindlich, empfunden hätte.
Selbst die biblischen Geschichten, welche wir lasen, verschmolzen sich ganz mit den weltlichen Unterhaltungen, und ich gewann an der Geschichte Josephs und seiner Brüder und anderen prächtigen Episoden nur einen Stoff mehr für meine profanen Kompositionen. Aus diesem Grunde waren die biblischen Erzählungen, wie sie gewöhnlich für Kinder ausgezogen werden, lange Zeit mein Hauptbuch neben der Bibliothek der Frau Margret, und nur selten führte mich ein Anflug von Gelehrsamkeit dazu, mich in die Bibel zu vertiefen und ein ergiebiges Quellenstudium zu betreiben, da der hohe Schwung der Sprache für das Kind unzugänglich war und nur Stoff zum Lächerlichmachen dessen gab, was ich nicht begriff.
Ich betrachte diese halb gottlose Zeit gerade der weichsten und bildsamsten Jahre, welche deren wohl sieben bis achte andauerte, als eine kalte öde Strecke und weise die Schuld einzig auf den Katechismus und seine Handhaber. Denn wenn ich recht scharf in jenen vergangenen dämmerhaften Seelenzustand zurückzudringen versuche, so entdecke ich noch wohl, daß ich den Gott meiner Kindheit nicht liebte, sondern nur brauchte und daß damit das lebendige Gefühl der Liebe auch für alles übrige Leben nicht zum Erwachen kam und nur schwer durch die unnatürlich übergeworfene Eisdecke dringen konnte Jetzt erst wird mir der trübe kalte Schleier ganz deutlich, welcher über jener Zeit liegt und mir dazumal die Hälfte des Lebens verhüllte, mich blöde und scheu machte, daß ich die Leute nicht verstand und mich selbst nicht zu erkennen geben konnte in meiner vollen Natur, so daß die weisen Erzieher vor mir standen als vor einem Rätsel und sagten: Dieses ist ein seltsames Gewächs, man weiß nicht viel damit anzufangen!
Desto eifriger verkehrte ich im stillen mit mir selbst, in der Welt, die ich mir allein zu bauen gezwungen war. Meine Mutter kaufte mir nur äußerst wenig Spielzeug, immer und einzig darauf bedacht, jeden Heller für meine Zukunft zu sparen, und erachtete in ihrem Sinne jede Ausgabe für überflüssig, welche nicht unmittelbar für das Notwendigste geopfert wurde. Sie suchte mich dafür durch fortwährende mündliche Unterhaltungen zu beschäftigen und erzählte mir tausend Dinge aus ihrem vergangenen Leben sowohl wie aus dem Leben anderer Leute, indem sie in unserer Einsamkeit selbst eine süße Gewohnheit darin fand. Aber diese Unterhaltung sowie das Treiben im wunderlichen Nachbarhause konnte doch zuletzt meine Stunden nicht ausfüllen, und ich bedurfte eines sinnlichen Stoffes, welcher meiner schaffenden Gewalt anheimgegeben war. So war ich bald darauf angewiesen, mir mein Spielzeug selbst zu schaffen. Das Papier, das Holz, die gewöhnlichen Aushelfer in diesem Falle, waren schnell abgebraucht, besonders da ich keinen männlichen Mentor hatte, welcher mich mit Handgriffen und Künsten bekannt machte. Was ich so bei den Menschen nicht fand, das gab mir die stumme Natur. Ich sah aus der Ferne bei vornehmern Knaben, daß sie artige kleine Naturaliensammlungen besaßen, besonders Steine und Schmetterlinge, und von ihren Lehrern und Vätern angeleitet wurden, dergleichen selbst auf ihren Ausflügen zu suchen. Ich ahmte dieses nun auf eigene Faust nach und begann gewagte Reisen längs der Bach- und Flußbette zu unternehmen, wo ein buntes Geschiebe an der Sonne lag. Bald hatte ich eine gewichtige Sammlung glänzender und farbiger Mineralien beisammen, Glimmer, Quarze, bunte Kiesel und solche Steine, welche mir durch ihre abweichende Form auffielen, wie Schieferstücke, gegenüber einem seltsam verwaschenen Kiesel usw. Glänzende Schlacken, aus Hüttenwerken in den Strom geworfen, hielt ich ebenfalls für wertvolle Stücke, Glasperlen für Edelsteine, und der Trödelkram der Frau Margret lieferte mir einigen Abfall an polierten Marmorscherben und halb durchsichtigen Alabasterschnörkeln, welche überdies noch eine antiquarische Glorie durchdrang. Für diese Dinge verfertigte ich Fächer und Behälter und legte ihnen wunderlich beschriebene Zettel bei. Wenn die Sonne in unser Höfchen schien, so schleppte ich den ganzen Schatz herunter, wusch Stück für Stück in dem kleinen Brünnlein und breitete sie nachher an der Sonne aus, um sie zu trocknen, mich an ihrem Glanze erfreuend. Dann ordnete ich sie wieder in die Schachteln und hüllte die glänzendsten Dinge sorglich in Baumwolle, welche ich aus den großen Ballen am Hafenplatze gezupft hatte. So trieb ich es lange Zeit; allein es war nur der äußere Schein, der mich erbaute, und als ich sah, daß jene Knaben für jeden Stein einen bestimmten Namen besaßen und zugleich viel Merkwürdiges, was mir unzugänglich war, wie Kristalle und Erze, auch ein Verständnis dafür gewannen, welches mir durchaus fremd war, so starb mir das ganze Spiel ab und betrübte mich. Dazumal konnte ich nichts Totes und Weggeworfenes um mich liegen sehen; was ich nicht brauchen konnte, verbrannte ich hastig oder entfernte es weit von mir; so trug ich eines Tages die sämtliche Last meiner Steine mit vieler Mühe an den Strom hinaus, versenkte sie in die Wellen und ging ganz traurig und niedergeschlagen nach Hause.
Nun versuchte ich es mit den Schmetterlingen und Käfern. Meine Mutter verfertigte mir ein Garn und ging oft selbst mit mir auf die Wiesen hinaus; denn die Einfachheit und Billigkeit dieser Spiele leuchteten ihr ein. Ich fing zusammen, wessen ich habhaft werden konnte, und setzte eine Unzahl Raupen in Gefangenschaft. Allein ich kannte die Speise dieser letzteren nicht und wußte sie sonst nicht zu behandeln, so daß kein Schmetterling aus meiner Zucht hervorging. Die lebendigen Schmetterlinge aber, welche ich fing, wie die glänzenden Käfer, machten mir saure Mühe mit dem Töten und dem unversehrten Erhalten; denn die zarten Tiere behaupteten eine zähe Lebenskraft in meinen mörderischen Händen, und bis sie endlich leblos waren, fand sich Duft und Farbe zerstört und verloren, und es ragte auf meinen Nadeln eine zerfetzte Gesellschaft erbarmungswürdiger Märtyrer. Schon das Töten an sich selbst ermüdete mich und regte mich zu sehr auf, indem ich die zierlichen Geschöpfe nicht leiden sehen konnte. Dieses war keine unkindliche Empfindsamkeit; mir widerwärtige oder gleichgültige Tiere konnte ich so gut mißhandeln wie alle Kinder; es war vielmehr ein aristokratisches Mitgefühl für diese edleren Kreaturen, denen ich wohlgewogen war. Jeder der unseligen Reste machte mich umso melancholischer, als er das Denkmal eines im Freien zugebrachten Tages und eines Abenteuers war. Die Zeit von seiner Gefangennehmung bis zu seinem qualvollen Tode war ein Schicksal, welches mich interessierte, und die stummen Überbleibsel redeten eine vorwurfsvolle Sprache zu mir.
Auch diese Unternehmung scheiterte endlich, als ich zum ersten Male eine große Menagerie sah. Sogleich faßte ich den Entschluß, eine solche anzulegen, und baute eine Menge Käfige und Zellen. Mit vielem Fleiße wandelte ich dazu kleine Kästchen um, verfertigte deren aus Pappe und Holz und spannte Gitter von Draht oder Faden davor, je nach der Stärke des Tieres, welches dafür bestimmt war. Der erste Insasse war eine Maus, welche mit eben der Umständlichkeit, mit welcher ein Bär installiert wird, aus der Mausefalle in ihren Kerker hinübergeleitet wurde. Dann folgte ein junges Kaninchen; einige Sperlinge, eine Blindschleiche, eine größere Schlange, mehrere Eidechsen verschiedener Farbe und Größe, ein mächtiger Hirschkäfer mit vielen andern Käfern schmachteten bald in den Behältern, welche ordentlich aufeinander getürmt waren. Mehrere große Spinnen versahen in Wahrheit die Stelle der wilden Tiger für mich, da ich sie entsetzlich fürchtete und nur mit großem Umschweife gefangen hatte. Mit schauerlichem Behagen betrachtete ich die Wehrlosen, bis eines Tages eine Kreuzspinne aus ihrem Käfig brach und mir rasend über Hand und Kleid lief. Der Schrecken vermehrte jedoch mein Interesse an der kleinen Menagerie, und ich fütterte sie sehr regelmäßig, führte auch andere Kinder herbei und erklärte ihnen die Bestien mit großem Pathos. Ein junger Weih, welchen ich erwarb, war der große Königsadler, die Eidechsen Krokodile, und die Schlangen wurden sorgsam aus ihren Tüchern hervorgehoben und einer Puppe um die Glieder gelegt. Dann saß ich wieder stundenlang allein vor den trauernden Tieren und betrachtete ihre Bewegungen. Die Maus hatte sich längst durchgebissen und war verschwunden, die Blindschleiche war längst zerbrochen, sowie die Schwänze sämtlicher Krokodile, das Kaninchen war mager wie ein Gerippe und hatte doch keinen Platz mehr in seinem Käfig, alle übrigen Tiere starben ab und machten mich melancholisch, so daß ich beschloß, sie sämtlich zu töten und zu begraben. Ich nahm ein dünnes langes Eisen, machte es glühend und drang mit zitternder Hand damit durch die Gitter und begann ein greuliches Blutbad anzurichten. Aber die Geschöpfe waren mir alle lieb geworden, auch erschreckte mich das Zucken des zerstörten Organismus und ich mußte innehalten. Ich eilte in den Hof hinunter, machte eine Grube unter den Vogelbeerbäumchen, worin ich die ganze Sammlung, tote, halbtote und lebende, in ihren Kasten kopfüber warf und eilig verscharrte. Meine Mutter sagte, als sie es sah, ich hätte die Tiere nur wieder ins Freie tragen sollen, wo ich sie geholt hätte, vielleicht wären sie dort wieder gesund geworden. Ich sah dies ein und bereute meine Tat; der Rasenplatz war aber lange eine schauerliche Stätte für mich, und ich wagte nie jener kindlichen Neugierde zu gehorchen, welche es immer antreibt, etwas Vergrabenes wieder auszugraben und anzusehen.
Bei Frau Margret tat sich mir die nächste Spielerei auf. In einer verrückten, marktschreierischen Theosophie, welche ich unter ihren Büchern fand, war eine Anweisung enthalten, die vier Elemente zu veranschaulichen, nebst andern kindischen Experimenten und den dazu gehörigen Tafeln. Nach diesen Vorschriften nahm ich eine große Phiole, füllte sie zum Vierteile mit Sand, zum Vierteile mit Wasser, dann mit Öl und das letzte Vierteil ließ ich mit Luft gefüllt. Die Materien sonderten sich nach ihrer Schwere auseinander und stellten nun in dem geschlossenen Raume die vier Elemente vor: Erde, Wasser, Feuer (das Brennöl!) und Luft. Ich schüttelte sie tüchtig durcheinander, daraus entstand das Chaos, welches sich wieder aufs schönste abklärte, und ich saß sehr vergnügt vor der höchst gelehrten Erscheinung.
Dann nahm ich Bogen Papier und zeichnete darauf, nach den Angaben jenes Buches, große Sphären mit Kreisen und Linien kreuz und quer, farbig begrenzt und mit Zahlen und lateinischen Lettern besetzt. Die vier Weltgegenden, Zonen und Pole, Himmelsräume, Elemente, Temperamente, Tugenden und Laster, Menschen und Geister, Erde, Hölle, Zwischenreich, die sieben Himmel, alles war toll und doch nach einer gewissen Ordnung durcheinander geworfen und gab ein angestrengtes, lohnendes Bemühen. Alle Sphären wurden mit entsprechenden Seelen bevölkert, welche darin gedeihen konnten. Ich bezeichnete sie mit Sternen und diese mit Namen; der glückseligste war mein Vater, zunächst dem Auge Gottes, noch innerhalb des Dreieckes, und schien durch dieses allsehende Auge auf die Mutter und mich herunter zu schauen, welche in den schönsten Gegenden der Erde spazierten. Meine Widersacher aber schmachteten sämtlich in der Hölle, wo der Böse mit einem ansehnlichen Schwanze begabt war. Je nach dem Verhalten der Menschen veränderte ich ihre Stellungen, beförderte sie in reinere Gegenden oder setzte sie zurück, wo Heulen und Zähnklappen war. Manchen ließ ich prüfungsweise im Unbestimmten schweben, sperrte auch wohl zwei, die sich im Leben nicht ausstehen mochten, zusammen in eine abgelegene Region, indessen ich zwei andere, die sich gern hatten, trennte, um sie nach vielen Prüfungen zusammenzubringen an einem glückseligeren Orte. Ich führte so ganz im geheimen eine genaue Übersicht und Schicksalsbestimmung aller mir bekannten Leute, jung und alt.
In der Theosophie war ferner anbefohlen, geschmolzenes Wachs in Wasser zu gießen, um ich weiß nicht mehr was zu versinnbildlichen. Ich füllte mehrere Arzneigläser mit Wasser und belustigte mich an den Bildungen, welche durch das hineingegossene Wachs entstanden, verschloß die Gläser und vermehrte dadurch meine gelehrte Sammlung. Dieses Gläserwesen sagte mir sehr zu und ich fand einen neuen Stoff dafür, als ich einst mit tiefem Grauen durch eine kleine anatomische Sammlung lief, welche dem städtischen Krankenhause beigegeben war. Einige Reihen von Embryonen und Föten in ihren Gläsern jedoch erwarben sich meinen lebhaften Beifall und boten einen trefflichen Gegenstand für meine Sammlung dar, indem ich dergleichen nachzubilden versuchte. In einem Schranke verwahrte die Mutter die aufgeschichtete Leinwand ihrer Jugendzeit in rohen und gebleichten Stücken, und daselbst lagen auch, verborgen und vergessen, mehrere Scheiben reinlichen Wachses, die verjährten Zeugen einer einstigen fleißigen Bienenzucht. Von diesen brach ich immer ansehnlichere Stücke los und formte nun im kleinen solche großköpfige wunderliche Burschen, wie ich sie gesehen, und bestrebte mich, die Verschiedenheit ihrer phantastischen Bildung noch zu vergrößern. Ich trieb Gläser auf, so viel ich konnte, von allen Formen und Größen, und richtete die Bildwerke darnach ein. In langen schmalen Kölnischwasserflaschen, denen ich die Hälse abschlug, baumelten ebenso lange schmächtige Gesellen an ihrem Faden, in kurzen dicken Salbengläsern hausten knollenartige Gewächse. Statt mit Weingeist füllte ich die Gläser mit Wasser an und gab jedem Bewohner derselben einen Namen, welcher meinem humoristischen Interesse entsprach, das über der belustigenden Arbeit aus dem bloß gelehrten entstanden war. Es waren schon einige dreißig Mitglieder dieses artigen Vereins beisammen und das Wachs nahezu aufgebraucht, als ich meine Geschöpfe taufte mit Namen wie:
Schnurper, Fark, Vogelmann, Säbelbein, Schneider, Schmerbauch, Nabelhans, Wachsbeißer, Wächserich, Honigteufel und dergleichen, und ich empfand ein dauerndes Vergnügen, indem ich zugleich für jeden eine kurze Lebensbeschreibung verfaßte, die sich in dem Berge zugetragen hatte, aus welchem nach unserm Ammenmärchen die kleinen Kinder geholt werden. Ich verfertigte auch eigene Sphärentafeln für sie, worauf jeder verzeichnet war mit seiner tugendlichen oder schlimmen Aufführung, und wenn einer mein Mißfallen erregte, so wurde er so gut an einen schlechtem Ort gebracht als die lebendigen Leute. Ich trieb diese Dinge alle in einer abgelegenen Kammer, wo ich eines Abends in der Dämmerung alle Gläser auf meinen Lieblingstisch stellte, ein altes braunes Möbel mit etlichen Auszügen. Ich reihte die Gläser in einen großen Kreis, die vier Elemente in der Mitte, und breitete meine bunten Tabellen aus, beleuchtet von einigen Wachsmännern, denen Dochte aus erhobenen Händen brannten, und vertiefte mich nun in die Konstellationen auf den Karten, während ich die betreffenden Schicksalsträger einzeln vortreten ließ und musterte, den Wächserich und den Hürlimann, den Meyer oder den Vogelmann. Von ungefähr stieß ich an den Tisch, daß alle Gläser erzitterten und die Wachsmännchen schwankten und zappelten. Dies gefiel mir, so daß ich anfing, nach dem Takte auf den Tisch zu schlagen, wozu die Gesellen tanzten, ich schlug immer stärker und wilder und sang dazu, bis die Gläser wie toll aneinander schlugen und erklangen. Auf einmal schneuzte es in einer Ecke, ein Paar feurige Augen funkelten hervor. Eine fremde große Katze war in die Kammer gesperrt, hatte sich bisher ruhig verhalten und wurde nun scheu. Ich wollte sie verscheuchen, da stellte sie sich drohend gegen mich, sträubte die Haare und pustete gewaltig; ich machte in der Angst ein Fenster auf und warf ein Glas nach ihr, sie sprang hinauf, konnte aber nicht weiter gelangen und kehrte sich wieder gegen mich. Nun schleuderte ich einen Wachsmann um den andern auf sie, sie schüttelte sich furchtbar und rüstete sich zum Sprunge, und als ich zuletzt die vier Elemente ihr an den Kopf warf, fühlte ich ihre Krallen an meinem Halse. Ich fiel am Tisch nieder, die Lichter löschten aus und ich schrie in der Dunkelheit, obgleich die Katze schon wieder weg war. Meine Mutter trat herein, während dieselbe hinausschlüpfte, und fand mich halb bewußtlos und blutend am Boden liegen mitten in den Glasscherben, Wasserbächen und Kobolden. Sie hatte nie auf mein Treiben in der Kammer geachtet, zufrieden, daß ich so still und vergnüglich war, und wußte sich nun meine ganze Geschichte und verwirrte Erzählung umso weniger zu reimen. Inzwischen entdeckte sie die gewaltige Abnahme ihres Wachses und betrachtete nun mit halbem Zorne und halber Lachlust die Trümmer der untergegangenen Welt.
Die Sache machte Aufsehen. Frau Margret ließ sich erzählen und die bemalten Bogen nebst übrigen Trümmern zeigen und fand alles höchst bedenklich. Sie befürchtete, daß ich am Ende in ihren Büchern gefährliche Geheimnisse geschöpft hätte, welche bei ihrem mangelhaften Lesen ihr selbst unzugänglich wären, und verschloß die bedenklichsten Bücher mit höchst bedeutungsvollem Ernste. Jedoch konnte sie sich einer gewissen Genugtuung nicht erwehren, da es sich zu bestätigen schien, wie hinter diesen Sachen mehr stecke als man geglaubt habe. Sie war der festen Meinung, daß ich auf dem besten Wege gewesen sei, durch ihre Bücher ein angehender Zaubermann zu werden.
Über solchen Mißgeschicken verleidete mir die einsame Beschäftigung im Hause und ich schloß mich nun einigen Knaben an, welche sich gut zu unterhalten schienen, indem sie in einem großen alten Fasse Komödie spielten. Sie hatten einen Vorhang davorgezogen und ließen eine begünstigte Anzahl Kinder respektvoll harren, bis sie ihre geheimnisvollen Vorbereitungen geendet. Dann wurde das Heiligtum geöffnet, einige Ritter in papiernen Rüstungen führten ein gedrängtes Zwiegespräch tüchtiger Schimpfreden, um sich darauf schleunigst durchzubleuen und unter dem Fallen des durchlöcherten Teppichs tot hinzustrecken. Ich wurde bald eingeweiht als ein anstelliger Junge und brachte vor allem aus einen bestimmteren Stoff in das Faß, indem ich kurze Handlungen aus der biblischen Geschichte oder den Volksbüchern auszog und die vorkommenden Reden wörtlich abschrieb und durch einige Wendungen verband. Ich fand auch, daß es wünschbar wäre, wenn die Helden einen besondern Eingang hätten, um vorher ungesehen auftreten zu können. Deshalb wurde in die Hinterwand ein Loch gesägt, geschnitten und gekratzt, bis ein Wohlgewappneter bescheiden durchkriechen konnte, was sehr possierlich aussah, wenn er mit seinen donnernden Reden begann, ehe er sich völlig aufgerichtet hatte. Sodann wurden grüne Zweige geholt, um das Innere des Fasses in einen Wald umzuwandeln; ich nagelte sie rings herum fest und ließ nur oben das Spundloch frei, durch welches überirdische Stimmen herniederzuschallen hatten. Ein Junge brachte eine ansehnliche Düte Theatermehl und hiermit ein neues prächtiges Element in unsere Bestrebungen.
Eines Tages wurde David und Goliath gegeben. Die Philister standen auf dem Plane, führten sich heidnisch auf und traten vor das Faß hinaus in das Proszenium. Dann krochen die Kinder Israel herein, lamentierten und waren verzagt und traten auf die andere Seite des Einganges, als Goliath, ein großer Bengel, erschien und übermütige Possen machte zum großen Gelächter beider Heere und des Publikums, bis David, ein unterwachsener bissiger Junge, plötzlich dem Unfug ein Ende machte und dem Riesen aus seiner Schleuder, die er trefflich führte, eine große Roßkastanie an die Stirne schleuderte. Darüber wurde dieser wütend und hieb dem David ebenso derb auf den Kopf, und sogleich waren beide im heftigsten Raufen ineinander verknäuelt. Die Zuschauer und die beiden Chöre klatschten Beifall und nahmen Partei; ich selbst saß rittlings oben auf dem Fasse, ein Lichtstümpfchen in der einen und eine tönerne Pfeife mit Kolophonium in der andern Hand, und blies als Zeus Donnerer gewaltige, ununterbrochene Blitze durch das Spundloch hinein, daß die Flammen durch das grüne Laub züngelten und das Silberpapier auf Goliaths Helm magisch erglänzte. Dann und wann guckte ich schnell durch das Loch hinunter, um dann die tapfer Kämpfenden ferner wieder mit Blitzen anzufeuern, und hatte kein Arges, als die Welt, welche ich zu beherrschen wähnte, plötzlich auf ihrem Lager wankte, überschlug und mich aus meinem Himmel schleuderte; denn Goliath hatte endlich den David überwunden und mit Gewalt an die Wand geworfen. Es gab ein großes Geschrei, der Eigentümer des Fasses kam heran und schloß kraft höheren Machtspruches das rollende Haus, nicht ohne Schelten und ausgeteilte Püffe, als er die willkürlichen Veränderungen entdeckte, welche angebracht waren. Insbesondere mißfiel ihm die Art, wie wir ein umgekehrtes Faß des Regulus hergestellt hatten, indem eine Anzahl Nägel mit den Spitzen nach außen ragten, gleich den Borsten eines Stachelschweines, und hingegen die Köpfe gemütlich nach innen streckten.
Jedoch vermißten wir dies verbotene Paradies nicht allzusehr, da bald darauf eine deutsche Schauspielergesellschaft in unsere Stadt kam, um mit obrigkeitlicher Bewilligung vor den Bewohnern die Bretter, welche die Welt bedeuten, in einem vollkommeneren Maße aufzubauen als bisher von Liebhabern und Kindern geschehen war. Der wandernde Künstlerverein schlug seinen Sitz im größten Gasthause der Stadt auf, wandelte den geräumigen Tanzsaal in ein Theater um und füllte zugleich alle bescheideneren Zimmer und Räume mit seinem häuslichen Leben. Nur der Direktor bewohnte vornehm ein glänzenderes Gemach.
Überdies zog uns das belebte Haus nicht nur während der abendlichen Vorstellungen an, sondern wir hatten auch während des Tages genug vor demselben zu stehen und zu beobachten, teils um die bewunderten Helden und Königinnen in ihrer verwegenen und anmutigen Tracht und Haltung aus- und eingehen zu sehen, teils um keine Maschine, keinen Korb mit roten Mänteln und Degen, kein Requisit aus den Augen zu verlieren, welches hineingetragen wurde. Vorzüglich hielten wir uns auch vor einem offenen Hintergebäude auf, wo ein kühner Maler inmitten einer Anzahl auf Kohlen stehender Töpfe, aufrechtstehend und die eine Hand in der Hosentasche, mit einem unendlich verlängerten Pinsel Wunder auf das ausgebreitete Papier warf. Ich erinnere mich deutlich des tiefen Eindrucks, welchen die einfache und sichere Art auf mich machte, mit welcher er duftige und durchsichtige weiße Vorhänge um die Fenster eines roten Zimmers zauberte; mit den wenigen weißen, wohlangebrachten Strichen und Tupfen auf dem roten Grunde ging ein erwärmendes Licht in meiner Seele auf, welche vor solchen Dingen, wenn sie in der nächtlichen Beleuchtung vor mir standen, begriffslos gestaunt hatte. Es entstand in mir die erste ahnende Einsicht in den Geist der Malerei; das freie Auftragen von dichten deckenden Farben auf durchsichtige Unterlagen machte mir vieles klar, und ich begann nachher der Grenze dieser zwei Gebiete nachzuspüren, wo ich ein Gemälde zu sehen bekam, und meine Entdeckungen hoben mich über den wehrlosen Wunderglauben hinaus, welcher es aufgibt, jemals dergleichen selbst zu verstehen. Diese Befangenheit ist allgemein in den untern Kreisen des Volkes, wo selten, vermöge der beschränkten Erziehung, ein früher Einblick in das Technische der Künste vergönnt wird, sondern nur die fertigen Früchte in ehrerbietiger Entfernung und unnahbarer Vollendung vor dem staunenden Auge stehen.
An den Abenden, wo gespielt wurde, waren wir vollzählig und unfehlbar auf unserm Platze und schlichen wie die Katzen um das Gebäude herum. Da ich bei der Sparsamkeit meiner Mutter keine Möglichkeit sah, auf legalem Wege in das Innere des Kunsttempels zu gelangen, so befand ich mich doppelt wohl bei meinen Genossen der Armenschule, welche ebenfalls darauf gewiesen waren, entweder durch kleine Dienstleistungen oder durch verwegene Schlauheit durchzuschlüpfen. Es gelang mir auch mehrere Male, mich mit klopfendem Herzen in den angefüllten Saal zu schleichen, und überflog mit befriedigten Blicken die Dekorationen, wenn der Vorhang aufging, dann die Kostüme und Trachten der Spieler, um endlich, nachdem schon Erkleckliches gesprochen war, mich in das Studium der Fabel zu vertiefen. Dieses machte mir am meisten Vergnügen bei den Opern, weil es dort am schwierigsten war; bei den Schauspielen war es zu leicht und riß mich zu schnell hin, indem es mir alle Objektivität sowie die gehörige Muße benahm, welche jene durch die unverstandene Musik darboten. Ich war bald ein großer Kenner und disputierte reichlich, unter angenommener Kaltblütigkeit, mit meinen Freunden. Dieser Zwiespalt, die angenommene kennerhafte Ruhe und das unausbleibliche leidenschaftliche Hingeben auch an das verworfenste Stück fing an mich zu ärgern, und ich sehnte mich auch sonst, mit einem Schlage hinter die Kulissen zu kommen und das berückende Spiel und seine Spieler, wie ihre Mittel, in der Nähe zu besehen; denn es bedünkte mich, daß es dort besser zu leben sein müsse als irgendwo in der Welt, leidenschaftslos und überlegen. Doch dachte ich nicht so leicht an eine Erfüllung meines Wunsches, als ein günstiger Stern dieselbe unverhofft darbrachte.
Wir standen eines Abends ziemlich mutlos vor einer Seitentür, als eben der Faust gegeben wurde. Wir hatten gehört, daß man den famosen Doktor Faust, den wir genugsam kannten, nebst dem Teufel und allen seinen Herrlichkeiten sehen würde, fanden aber heute alle Hindernisse unübersteiglich, welche auf unsern gewohnten Schlupfwegen sich entgegenstellten. So hörten wir betrübt die Klänge der Ouvertüre, welche von den vornehmen Liebhabern der Stadt aufgeführt wurde, und zerbrachen die Köpfe über einem noch möglichen Eindringen. Es war ein dunkler Herbstabend und regnete kühl und anhaltend. Es fror mich, und ich dachte ans Nachhausegehen, zumal sich die Mutter über das abendliche Umhertreiben beklagt hatte, als die dunkle Tür sich öffnete, ein dienstbarer Geist heraussprang und rief: Heda, ihr Buben! Drei oder vier von euch mögen hereinkommen, die sollen einmal mitspielen! Auf dieses Zauberwort drängten sich sogleich die Stärksten in das Haus; denn dies war ein Fall, wo ein jeder nur an sich selbst denken durfte. Er wies sie aber zurück, indem er sie für zu groß und dick erklärte und mich, der ich ohne sonderliche Hoffnungen im Hintergrunde stand, heranrief und sagte: Der da ist recht, der wird eine gute Meerkatze sein! Dazu ergriff er noch zwei andere, schmächtig gewachsene Jungen, schloß die Tür hinter uns und marschierte an unserer Spitze nach einem kleinen Saale, welcher als Garderobe diente. Dort hatten wir nicht Zeit, die aufgehäuften Gewänder, Waffen und Rüstungen zu betrachten; denn wir wurden schnell unserer Kleider entledigt und in abenteuerliche Pelze gesteckt, welche vom Kopf bis zum Fuße eine Hülle bildeten. Das Meerkatzengesicht konnte wie eine Kapuze zurückgeschlagen werden, und als wir solchergestalt verwandelt dastanden, die langen Schwänze in der Hand haltend, lächelten wir ganz vergnügt und beglückwünschten uns nun erst zu unserm unverhofften Glücke. Nun wurden wir auf die Bühne geführt, wo wir von zwei großen Meerkatzen lustig begrüßt und in aller Eile für unsere bevorstehende Aufgabe unterrichtet wurden. Wir begriffen dieselbe bald und leisteten eine gelungene Probe verschiedener Purzelbäume und Affensprünge, spielten auch zierlich mit einer Kugel, so daß wir bis zu unserm Auftreten entlassen wurden. Wir spazierten gravitätisch unter dem Gedränge herum, das sich auf dem schmalen Raume zwischen den vier wirklichen und den gemalten Wänden schob und mischte; ich schaute unverwandt bald auf die Bühne, bald hinter die Kulissen und beobachtete mit hoher Freude, wie aus dem unkenntlichen, unterdrückt lärmenden und streitenden Chaos sich still und unmerklich geordnete Bilder und Handlungen ausschieden und auf dem freien, hellen Raume erschienen, wie in einer jenseitigen Welt, um wieder ebenso unbegreiflich in das dunkle Gebiet zurückzutauchen. Die Schauspieler lachten, scherzten, koseten und zankten, hier und da ging einer plötzlich von seiner Gruppe weg und stand in einem Augenblicke einsam und feierlich mitten auf dem Zauberbanne und machte ein so frommes Gesicht gegen die mir unsichtbare Zuschauerwelt hinaus, als ob er vor den versammelten Göttern stände. Ehe ich mich dessen versah, war er wieder mit einem Sprunge unter uns und setzte die unterbrochenen Schimpf- oder Schmeichelreden fort, indessen schon irgend ein anderer sich ausgeschieden hatte, um es ebenso zu machen. Die Menschen führten ein doppeltes Leben, wovon das eine ein Traum sein mochte; aber ich wurde nicht klug daraus, welches davon der Traum und welches für sie die Wirklichkeit war. Lust und Leid schien mir in beiden Teilen gleich gemischt vorhanden zu sein; doch im innern Raume der Bühne, wenn der Vorhang geöffnet war, schien Vernunft und Würde und ein heller Tag zu herrschen und somit das wirkliche Leben zu bilden, während, sobald der Vorhang sank, mit ihm alles in trübe, traumhafte Verwirrung zu sinken schien. Auch dünkte es mich, daß diejenigen, welche sich in diesem wüsten Traume am heftigsten und leidenschaftlichsten gebärdeten, dort in dem bessern Stück Leben, wenn die Sonne des Kronleuchters hereinschien, die edelsten und ausdruckvollsten Gestalten waren; diejenigen aber, welche in der Nähe ruhig, kalt und friedfertig herumstanden, in jenem Glanze eine ziemlich traurige Rolle spielten. Der Text des Stückes war die Musik, welche das Leben in Schwung brachte. Sobald sie schwieg, stand der Tanz still, wie eine abgelaufene Uhr. Die Verse des Faust, welche jeden Deutschen, sobald er einen davon hört, elektrisieren, diese wunderbar gelungene und gesättigte Sprache klang fortwährend wie eine edle Musik, machte mich froh und setzte mich mit in Schwung, obgleich ich nicht viel mehr davon verstand als mancher Professor, der zum zwölften Male über Faust liest.
Indessen fühlte ich mich plötzlich beim Schwanze gefaßt und rücklings in die Hexenküche gezogen, wo bereits sämtliche Katzen umhersprangen und ein Schein und Gefunkel unzähliger Gesichter und Augen aus dem Parterre hereinschimmerte. Ich hatte bisher über meinen Betrachtungen die zutage getretene Dekoration der Hexenküche übersehen und daher vieles nachzuholen; denn die phantastischen Dinge um mich her, die Zerrbilder und Gespenster reizten mich sowohl wie das Treiben Mephistos, der Hexe und der andern Meerkatzen. Als ob ich nicht selbst eine Meerkatze wäre und meine Aufgabe zu erfüllen hätte, vergaß ich ganz die eingelernten Sprünge und Possen und sah ruhig und selbstvergessen den anderen zu. Nun schaute Faust voll Entzücken in den Zauberspiegel, und es nahm mich höchlich Wunder, was es dort zu sehen gebe? Indem ich in der gleichen Richtung nachahmend hinsah, gingen meine Blicke dem leeren, gemalten Spiegel vorbei hinter die Kulisse und entdeckten dort in der Wirrnis des jenseitigen Lebens das Bild, welches Faust zu sehen vorgab. Gretchen war unterdessen auf die Bühne gekommen und legte sich, einige tief bewegte Worte nach rückwärts rufend, eben die letzte Schminke auf, nachdem sie sich Augen und Wangen mit einem weißen Tuche sorglich und fest getrocknet hatte, als ob sie geweint hätte. Es war eine sehr schöne Frau, von welcher ich kein Auge mehr abwandte, ungeachtet der heimlichen Püffe und Schelten, welche ich von meinen fleißigen Mitmeerkatzen erhielt. So verlangte ich, der ich mich vorher nach dieser höheren Sphäre gesehnt hatte, um nichts weiter als dorthin zurückzukehren, wo die volle schöne Frauengestalt wandelte.
Die Zeit unseres Wirkens ging endlich vorüber, und ich machte meinen ersten und einzigen guten Sprung, als ich leidenschaftlich vom Schauplatze abtrat oder sprang und mich möglichst in die Nähe des gesehenen Bildes zu bringen suchte. Aber in demselben Augenblicke befand sie sich ihrerseits einsam in der Handlung, und ich konnte sie nur wieder von ferne sehen.
Sie schien irgend einen tiefen Verdruß in sich zu tragen, und daher war ihr Spiel halb aus Anmut und halb aus sichtbarem Zorne gemischt. Diese Mischung brachte zwar kein gutes Gretchen hervor, aber sie verlieh der Spielerin einen eigentümlichen Reiz, ich nahm Partei für sie gegen ihre unbekannten Feinde und dachte mir sogleich den Roman aus, in welchen sie etwa verwickelt sein möchte. Doch löste sich dieses flüchtige Gespinste bald auf und verschmolz sich mit der dargestellten Dichtung, als Gretchens Schicksal tragisch wurde. Als sie im Kerker auf dem Stroh lag und nachher irre redete, spielte sie so meisterhaft, daß ich furchtbar erschüttert ward und doch in durstig heißer Aufregung das Bild des im grenzenlosen Unglücke versunkenen Weibes in mich hineintrank; denn ich hielt das Unglück für wirklich und war ebenso erstaunt als gesättigt durch die Szene, welche an Stärke alles übertraf, was ich bisher gesehen, gehört oder selbst kombiniert hatte.
Der Vorhang war gefallen, und alles lief auf dem Theater bunt durcheinander, während ich einigen Papieren nachschlich, welche ich in den Händen des Direktors und der Künstler gesehen hatte und in einem Winkel hinter einer gemalten Mauer fand. Ich war begierig, Einsicht zu nehmen von dem Geschriebenen, welches so große Wirkung hervorgebracht; daher war ich bald in das Lesen der Rollen versenkt. Aber obgleich ich die körperlichen Erscheinungen gefaßt und empfunden hatte, so waren doch nun die geschriebenen Worte, als die Zeichensprache eines gereiften und großen männlichen Geistes, dem unwissenden Kinde vollkommen unverständlich; der kleine Eindringling fand sich bescheidentlich wieder vor die verschlossene Türe einer höheren Welt gestellt, und ich schlief über meinen Forschungen schnell und fest ein.
Als ich wieder erwachte, war das Theater leer und still, die Lampen ausgelöscht, und der Vollmond goß sein Licht zwischen den Kulissen über die seltsame Unordnung herein. Ich wußte nicht, wie mir geschah, noch wo ich mich befand; doch als ich meine Lage erkannte, ward ich voll Furcht und suchte einen Ausgang, fand aber die Türen verschlossen, durch welche ich hereingekommen war. Nun schickte ich mich in das Geschehene und begann von neuem, alle Seltsamkeiten dieser Räume zu untersuchen. Ich betastete die raschelnden, papiernen Herrlichkeiten und legte das Mäntelchen und den Degen des Mephistopheles, welche auf einem Stuhle lagen, über meinen Meerkatzenhabit um. So spazierte ich in dem hellen Mondscheine auf und nieder, zog den Degen und fing an zu gestikulieren. Dann entdeckte ich die Maschinerie des Vorhanges, und es gelang mir, denselben aufzuziehen. Da lag der Zuschauerraum dunkel und schwarz vor mir, wie ein erblindetes Auge; ich stieg in das Orchester hinab, wo die Instrumente umherlagen und nur die Violinen sorgfältig in Kästchen verschlossen waren. Auf den Pauken lagen die schlanken Hämmer, welche ich ergriff und zagend gegen das Fell schlug, daß es einen dumpf grollenden Ton gab. Jetzt wurde ich kühner und schlug stärker, bis es zuletzt wie ein Gewitter durch den leeren, mitternächtlichen Saal hallte. Ich ließ den Donner anschwellen und wieder abnehmen, und wenn er verklang, so dünkten mich die unheimlichen Pausen noch schöner als das Geräusch selbst. Endlich erschrak ich über meinem Tun, warf die Schlägel hin und getraute mir kaum, über die Bänke des Parterre hinwegzusteigen und mich zu hinterst an der Wand hinzusetzen. Ich war kalt und wünschte zu Hause zu sein, auch ward es mir bange in meiner Einsamkeit. Die Fenster in diesem Teile des Saales waren dicht verschlossen, so daß nur die Bühne, welche immer noch den Kerker vorstellte, durch das Mondlicht magisch beleuchtet war. Im Hintergrunde stand das Pförtchen noch offen, hinter welchem Gretchen gelegen hatte, ein bleicher Strahl fiel auf das Strohlager, ich dachte an das schöne Gretchen, welches nun hingerichtet sein werde, und der stille mondhelle Kerker kam mir zauberhafter und heiliger vor als dem Faust einst Gretchens Kammer. Ich stützte meinen Kopf auf beide Hände und sah mit sehnenden Blicken hinüber, besonders in die vom Lichte halb bestreifte Vertiefung, wo das Stroh lag. Da regte es sich im Dunkel, atemlos sah ich hin, und jetzt stand eine weiße Gestalt in jenem Winkel; es war Gretchen, wie ich sie zuletzt gesehen hatte. Mich schauerte es vom Wirbel bis zur Zehe, meine Zähne schlugen zusammen, während doch ein mächtiges Gefühl glücklicher Überraschung mich durchzuckte und erwärmte. Ja, es war Gretchen, es war ihr Geist, obgleich ich in der Entfernung ihre Züge nicht unterscheiden konnte, was die Erscheinung noch geisterhafter machte. Sie schien mit dunklen Blicken in dem Raume umherzusuchen, ich richtete mich empor, es zog mich vorwärts, wie mit gewaltigen, unsichtbaren Händen, und während mein Herz hörbar klopfte, schritt ich über die Bänke gegen das Proszenium hin, jeden Schritt einen Augenblick anhaltend. Die Pelzumhüllung machte meine Füße unhörbar, so daß mich die Gestalt nicht bemerkte, bis ich, an dem Souffleurkasten hinaufklimmend, in meiner befremdlichen Tracht vom ersten Mondstrahle bestreift wurde. Ich sah, wie sie entsetzt ihr glühendes Auge auf mich richtete und, doch lautlos, zusammenfuhr. Einen leisen Schritt trat ich näher und hielt wieder ein; meine Augen waren weit geöffnet, ich hielt die Hände zitternd erhoben, indeß ich, von einem frohen Feuer des Mutes durchströmt, auf das Phantom losging. Da rief es mit gebieterischer Stimme: »Halt! kleines Ding! was bist du?« und streckte drohend den Arm gegen mich aus, daß ich fest auf der Stelle gebannt blieb. Wir sahen uns unverwandt an; ich erkannte jetzt ihre Züge wohl, sie hatte ein weißes Nachtkleid umgeschlagen, Hals und Schultern waren entblößt und gaben einen milden Schein, wie nächtlicher Schnee. Ich witterte alsogleich das warme Leben, und der abenteuerliche Mut, den ich dem Gespenste gegenüber empfunden hatte, verwandelte sich in die natürliche Blödigkeit vor dem lebendigen Weibe. Sie hingegen war immer noch zweifelhaft über meine dämonische Erscheinung, und sie rief daher noch einmal: »Wer seid Ihr, kleiner Bursch?« Kleinlaut antwortete ich: »Ich heiße Heinrich Lee und bin eine von den Meerkatzen; man hat mich hier eingeschlossen!«
Da trat sie auf mich zu, streifte meine Maske zurück, faßte mein Gesicht zwischen ihre Hände und rief, indem sie laut lachte: »Herr Gott! das ist die aufmerksame Meerkatze! Ei, du kleiner Schalk! bist du es, der den Lärm gemacht hat, als ob ein Gewitter im Hause wäre?« »Ja!« sagte ich, indem meine Augen fortwährend auf dem weißen Raume ihrer Brust hafteten und mein Herz zum ersten Male wieder so andächtig erfreut war wie einst, wenn ich in das glänzende Feld des Abendrotes geschaut und den lieben Gott darin geahnt hatte. Dann betrachtete ich in vollkommener Ruhe ihr schönes Gesicht und gab mich unbefangen dem süßen Eindrucke ihres reizenden Mundes hin. Sie sah mich eine Weile still und ernsthaft an, dann sprach sie: »Mich dünkt, du bist ein feiner Junge; doch wenn du einst groß sein wirst, so wirst du ein Lümmel sein, wie alle!« Und hiermit schloß sie mich an sich und küßte mich mehrere Male auf meinen Mund, der nur dadurch leise bewegt wurde, daß ich heimlich, von ihren Küssen unterbrochen, ein herzliches Dankgebet an Gott richtete für das herrliche Abenteuer.
Hierauf sagte sie: »Es ist nun am besten, du bleibest bei mir, bis es Tag ist; denn Mitternacht ist längst vorüber!« und sie nahm mich bei der Hand und führte mich durch mehrere Türen in ihr Zimmer, wo sie vorher schon geschlafen hatte und durch mein nächtliches Spuken geweckt worden war. Dort ordnete sie am Fußende ihres Bettes eine Stelle zurecht, und als ich darauf lag, hüllte sie sich dicht in einen sammetnen Königsmantel, legte sich der Länge nach auf das Bett und stützte ihre leichten Füße gegen meine Brust, daß mein Herz ganz vergnüglich unter denselben klopfte. Somit entschliefen wir und glichen in unserer Lage nicht übel jenen alten Grabmälern, auf welchen ein steinerner Ritter ausgestreckt liegt mit einem treuen Hunde zu Füßen. Nur lag hier anstatt des starren Ritters ein lebendiges, leicht atmendes Weib und an der Stelle des Hundes ein Knabe, dem in Kopf und Herz das frühe Leben zu rumoren begann.
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