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Den anderen Morgen, als Heinrich aufgestanden, empfing er einen Besuch von seiner Hauswirtin, welche eine unvermögliche Frau war und einen ganzen Trupp Kinder zu ernähren hatte, während ihr Mann seinen Erwerb anderweitig hintrug. Heinrich war ihr seit einem halben Jahre die Miete schuldig; denn dies war ein Gegenstand, welcher ihm keine Wahl ließ, Schulden zu machen oder nicht, da er ein Obdach haben mußte. Die arme Frau hatte ihn nie gedrängt und wußte, daß die, so in Sorgen leben, am besten mit Geduld und Nachsicht zusammen auskommen, was aber dann eine umso größere Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit mit sich bringt, die wiederum nicht so wohl wie eine harte Geschäftspflicht als mit frohem Dank aufgenommen wird. Jetzt bat sie ihn um Berichtigung seiner Schuld, da mit ihrer Beobachtung, daß Heinrich einiger Barschaft froh war, zugleich das eigene nicht eine Stunde länger zu ertragende Bedürfnis sich gesteigert hatte, und zwar in aller Aufrichtigkeit und Überzeugung. Denn das ist das ergötzliche und artige Band bei der Armut, wenn eines ein Häppchen erschnappt hat, so schreit das andere, das sich bislang ganz still gehalten, plötzlich und ohne Bosheit, als ob es am Spieße stäke, und dieser liebenswürdige Wechsel von Entbehrung und Mitgenuß, von Opferfreudigkeit und unverhohlenem Anspruch läßt sie nur umso natürlicher und menschlicher empfinden und zum Vorschein kommen. Heinrich, der seinerseits ebenso unbefangen nicht an seine Schuld gedacht hatte, war in der gleichen Unbefangenheit nur froh, der Frau sogleich genügen zu können, und sah sich, ehe er sich ganz ermuntert, beinahe des ganzen Ergebnisses seiner Spirallinie beraubt. So erfuhr er nun eine noch bedeutsamere Seite der Schuldbarkeit und Pflichterfüllung, nämlich wie es tut, wenn man nicht etwa nur mit leicht erworbenen oder fremden Mitteln zierlich und gern seine Pflicht löst, sondern auch mit der Frucht der bitteren und anhaltenden Arbeit Recht und Menschlichkeit zufriedenstellt, ehe man an die eigene Not denkt. Dies war sein glückliches Erbgut, das weit mehr in seinem Blute als in seinem Wissen lag, daß er durchaus keinen Unterschied zu machen vermochte zwischen dem Gelde, das er ohne Mühe durch die Sorge anderer erhalten, und zwischen dem, was er sich sauer erworben; denn es hinderte ihn nun, in der Versuchung der Not jener Klugheit und anscheinend gerechtfertigter Berechnung zu verfallen, welche so manche Menschen in schlimmeren Zeiten wohl schlau über dem Wasser hält, aber nur um sie dann gänzlich in Selbstsucht und Gemütsschmutz untergehen zu lassen.
Die bedrängte Wirtin befreite sich noch am selben Tage von einer Menge kleiner heftiger Gläubiger, erhielt neuen Kredit beim Bäcker, tat sich etwas gütlich mit ihren vom Vater verlassenen Kindern, erwarb sogar ein Stück geringen Zeuges zu neuen Hemdchen für dieselben, kurz, sie atmete auf und lebte nach ihrer Weise herrlich und in Freuden, während Heinrich am gleichen Tage einen so ratlosen Zeitraum antrat, wie er ihn vor kurzem noch nicht geahnt. Hatte sich seine Wohnung von allem Besitztume geleert, so sah er jetzt, daß sie dennoch noch leerer und kahler werden konnte, indem er von den letzten fast völlig wertlosen Gegenständchen und Bruchstücken zehrte, und bald sah es so verzweifelt dürr und hoffnungsarm um ihn aus, daß die Wirtin ihn auffordern mußte, sich eine andere Wohnung zu suchen; denn er war nun, wie sie wohl sah, unter den Stand ihrer eigenen Armut hinabgesunken, und bei dieser Ungleichheit lag es nicht mehr in ihrem Vermögen, etwa auf sein besseres Glück zu bauen und die Selbsterhaltung hintanzusetzen.
So zog er mit seinem leeren Koffer, in welchem allein das Buch seiner Jugendgeschichte lag, in eine neue Wohnung und erlebte es zum ersten Male, von unbekannten Leuten gleich als Habenichts ohne Höflichkeit und mit Mißtrauen empfangen und angesehen zu werden, als sie seine Nichthabe bemerkten. Er ging jetzt auch schlecht in Kleidern einher und mußte tausend Geschicklichkeiten erwerben, dies so gut als möglich zu verbergen, und alles dies und wenn ihm das Wasser in die zerrissenen Sohlen drang, lehrte ihn mit stummer Beredsamkeit die menschlichen Dinge zu empfinden und zog und bog den grünen Zweig seines Wesens kräftig nach allen Seiten, daß er geschmeidig wurde.
Er ertrug das Härteste ohne Verbitterung und ohne Hoffnungslosigkeit, wohl fühlend, daß eher ein Berg einstürzt, als ein Menschenwesen ohne angemessene Schuld zugrunde geht; wenn er sich selbst sah, wie er ebenso still und geduldig alle Strapazen, Entbehrungen und Demütigungen zu bestehen als behende und begehrlich, wie ein hungriges Füchslein, ein sich darbietendes Lebensmittelchen zu erschnappen und auch dem Allerwenigsten dankbar einen hohen Wert beizulegen verstand, ohne sich doch gierig und tierisch zu gebärden, so übte er sich gerade an diesem Schauspiel, sein besseres Bewußtsein über dasselbe zu erheben ohne geistige Überhebung und Mystizismus und sein edleres Ich beschaulich aus dem dunklen Spiegel der leiblichen Not zurückleuchten zu sehen.
Es fand sich und kam ihm gut, daß Heinrich von Natur aus verstand geduldig zu sein und äußeres leibliches Leidwesen zu dulden, ohne die Beweglichkeit der Seele zu verlieren. Diese Kunst des Duldens, welche das Christentum vorzüglich sich angeeignet und zu einer ausgebildeten Kultur erhoben hat, ist eine löbliche Eigenschaft des ursprünglichen Menschen, und das Christentum hat sie weder vom Himmel geholt noch sonst erfunden, sondern fertig im Vermögen des Menschen vorgefunden, und sie ist so gut weltlicher Natur, daß nicht nur kluge und edle Heiden sie besessen, sondern auch am kranken und leidenden Tiere täglich zu sehen ist, und zwar nicht zum Zeugnis ihrer Niedrigkeit, sondern ihrer maßgeblichen Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Freilich ist das Dulden der meisten Christen längst nicht mehr dieser edle und kraftvolle Grundzug, sondern ein künstliches Wesen, welches darauf hinausläuft, so bald als möglich nicht mehr dulden zu wollen und für das Erduldete hinlänglich entschädigt zu werden, daher auch die gedankenlosen und lärmenden Gegner des Christentums das Kind mit dem Bade ausschütten, alles Leiden entweder für Heuchelei und Beschränktheit oder für Feigheit halten und sich gebärden wie eigensinnige kreischende Kinder, die keine Suppe essen wollen.
Obgleich Heinrich das Unglück um seiner selbst willen ertrug als eine ins Leben getretene sehr deutlich gestaltete Sache, die um ihrer Klarheit willen zu einem Gute wurde, so verfiel er doch täglich immer wieder der christlichen Weise, Gott um unmittelbare Hilfe zu bitten in allen möglichen Tonarten, und zwar nicht seinetwegen, sondern um seiner Mutter willen, da deren Ruhe und Wohlfahrt jetzt von seinem eigenen Befinden abhing. Seit ihr letztes Opfer einen so plötzlichen schlechten Erfolg gehabt, war es ihm nicht möglich gewesen, ihr wieder zu schreiben, da er ihr nichts Gutes berichten konnte und sie doch nicht anlügen mochte. Von Woche zu Woche eine günstigere Wendung verhoffend, verschob er das Schreiben, bis eine so lange Zeit verstrichen war und sich ein trauriges Schweigen so in ihm festgesetzt hatte, daß er dieses nun nicht mehr brechen zu können meinte als zugleich mit den wohlgefälligsten Nachrichten und am besten mit einer glücklich bestellten Rückkehr. Die Mutter hatte ihm noch einigemal geschrieben und die Hoffnung seiner baldigen Heimkehr jedesmal mit der Todesanzeige eines Verwandten, Freundes oder Nachbarn geschlossen, so erst mit derjenigen des Schulmeisters, des Oheims, dann mit derjenigen alter Leute sowohl wie junger kräftiger Menschen aus Dorf und Stadt, und zahlreiche Familienereignisse und Veränderungen, Entfremdung alter Verhältnisse, Untergang manches bekannten Wohlergehens und Daseins und die Begründung gänzlich neuer verkündeten vollends dem fernen Sohne die unerbittliche Flucht der Zeit und ließen ihn die Vereinsamung seiner Mutter und den Wert eines jeden Tages doppelt fühlen. Als sie aber keine Antwort mehr erhielt, schwieg sie endlich still, und nun sprach diese Stille beredter als alle Briefe in Heinrichs Seele, welcher sich doch nicht rühren noch regen konnte.
So kam es, daß er, während er für seine Person sich schuldlos fühlte und die Dinge nicht fürchtete, in Ansehung seiner Mutter eine große Schuld erwachsen sah, an der er doch wieder nicht schuld zu sein meinte, und daher wußte er in diesem Doppelzustande keinen anderen Ausweg, als Gott zu bitten, seine Mutter vor Kummer und Leid zu schützen. Daß er bei diesem Schütze selber gut weg kam, darüber gab er sich vollkommen Rechenschaft und suchte sich zu überzeugen, daß dennoch sein Gebet uneigennützig und es ihm durchaus nicht um sich selbst zu tun sei; dann mußte er sich aber wieder sagen, daß seine Mutter ohne Zweifel zu Hause in der nämlichen Weise Gott für ihr Kind und nicht für sich selbst bitte, und da doch alles beim Alten blieb und Gott in der Mitte der sich kreuzenden flehentlichen Bitten sich ganz still verhielt, so vermehrten starke Zweifel an der Vernünftigkeit dieses ganzen Wesens sein Leid und sein Schuldbewußtsein. Denn wenn er sich bemühte, um sich das Verhalten eines wirklich vorsehenden und eingreifenden Gottes glaubwürdig und begreiflich zu machen, an der Mutter selbst eine Art Schuld aufzufinden, welche eine solche Leidensschule verursacht, so konnte er keine finden, und diese ganze Untersuchung dünkte ihn lästerlich und unkindlich; oder wenn er endlich etwa dachte, daß vielleicht gerade das ängstliche Wesen der Mutter in irdischen Dingen, der große Wert, den sie auf ein sicheres Auskommen und auf eine herbe Sparsamkeit legte, ihr Vergehen sei, welches eine weise Schule Gottes hervorgerufen, so konnte er doch zwischen der anhaltenden und bitteren Strenge dieser Schule und der geringfügigen harmlosen und unschädlichen Ursache derselben durchaus kein gerechtes und weises Verhältnis finden, und wenn noch irgend etwas Verhältnismäßiges da war, so dünkte es ihn erträglicher und edler, es lediglich als die innewohnende Folgerichtigkeit und Notwendigkeit der Dinge zu betrachten, als es dem vorsätzlichen Benehmen eines überkritischen Gottes zuzuschreiben. Nichtsdestominder wandte er sich jedesmal, wenn das verlorene Schweigen zwischen ihm und der Mutter recht in ihn hineinfraß, wieder mit einem wahren sehnsüchtigen Höllenzwang von heißen Gebeten an eben diesen sich mäuschenstill verhaltenden Gott.
Als er eines Tages niedergeschlagen und in schlechten Zuständen auf der Straße ging und sich von keinem Menschen beachtet glaubte, kam ein stattlicher junger Bürgersmann mit einem blühenden Weib am Arme auf ihn zu und redete ihn in seiner Heimatsprache an, welche ihm wie ein Laut aus besserer Welt klang in dem Rauschen und Dröhnen der fremden Stadt. Der Landsmann zeigte sich erfreut, ihn endlich gefunden zu haben, und verkündete ihm Grüße von seiner Mutter. Während in Heinrich süße Freude und trauriger Schreck sich mischten und bekämpften und er rot und blaß wurde, erzählte der Fremde, wer er sei, und wunderte sich, von Heinrich nicht gekannt zu sein. Es war aber niemand anders als ein nächster Nachbar des väterlichen Hauses und jener junge Handwerker, welcher mit Heinrich am gleichen Tage in die Fremde gezogen, aber zu Fuß und ein schweres Felleisen tragend, von seiner armen Mutter begleitet, indessen jener so hoffnungsvoll auf dem Postwagen in die Welt hinein fuhr. Sich in seinem einfachen Handwerk beschränkend und nichts anderes kennend als die unermüdete Nutzanwendung seiner fleißigen und geschickten Hand, jeden Vorteil für dieselbe ersehend und die Augen überall aufmachend, aber nur auf ein und denselben Gegenstand gerichtet und aller Orten nur diesen sehend, war er nach wenigen Jahren als ein wohlgeschulter und entschlossener junger Mann zurückgekehrt und begann die Gründung seines Hauses mit so zweifellosem und glücklichem Willen, als ob es gar nicht anders hergehen könnte, und die Welt empfing und förderte ihn dabei, als ob es nur so sein müßte, von seinem klaren Mute angezogen und bezwungen, und als Pfand gab sie ihm ein schönes und wohlhabendes Bürgermädchen zur Frau, mit welcher er jetzt eben, nicht ohne kluge geschäftliche Nebenzwecke, die Hochzeitreise machte.
Er hatte vor seiner Abreise bei Heinrichs Mutter angefragt, ob sie etwas für ihren Sohn auszurichten hätte, und diese, indem sie mit Beschämung gestehen mußte, daß sie nicht einmal wisse, wo er sei, und sich zu diesem Geständnis nur widerstrebend verstand, bat ihn, den Sohn aufzusuchen und denselben aufzufordern, ihr Nachricht von sich zu geben, oder ihn womöglich zu bestimmen, nach Hause zu kommen.
So stand Heinrich nun vor dem stattlich aussehenden blühenden Paare, welches bei aller Freundlichkeit sich nicht enthalten konnte, prüfende Blicke auf seinen schlechten Anzug zu werfen. Da es der letzte Tag ihres Aufenthaltes war und sie auf den Abend abreisen wollten, so luden sie ihn ein, mit ihnen zu gehen und die übrige Zeit noch mit ihnen zu verbringen. Sie führten ihn in den Gasthof und Heinrich aß mit ihnen zu Mittag. Es war lange her, seit er sich an einem so wohlbesetzten Tische gesehen und feuriger Wein seine Lippen berührt. Der landsmännische Gastfreund ließ reichlich auftragen und drang wohlmeinend in ihn, es sich schmecken zu lassen, und alles dies machte Heinrich nur umso verlegener und ließ ihn seine Armut doppelt empfinden, und indem er sah, daß die jungen Eheleute das wohl bemerkten, sich in ihrer glücklichen Stimmung mäßigten und mit zartem Sinne einen der seltsamen Lage angemessenen Ton inne zu halten suchten, empfand er es wieder bitter, nicht nur selbst unglücklich zu sein, sondern durch sein so beschaffenes Dasein die heitere Stimmung anderer vorübergehend zu trüben, gleich einer Regenwolke, die über einen hellen Himmel hinzieht.
Obgleich es ihn drängte, so viel als möglich von seiner Mutter sprechen zu hören, suchte er sich lange zu bezwingen und nicht durch Fragen zu verraten, daß er gar nichts von ihr wisse, bis der edle Wein, welchen der Mann genugsam strömen ließ, ihm die Zunge löste, ihn alles Widerstreben vergessen, sehnlich und unverhohlen nach der Mutter fragen ließ.
Da nahm sich der Landsmann zusammen und sagte: »Ich will es Ihnen nicht verhehlen, Herr Lee, daß Ihre Mutter sehr Ihrer Rückkunft bedarf, und ich würde Ihnen raten und fordere Sie sogar auf, so bald als immer möglich heim zu kommen; denn während die brave Frau den tiefsten Kummer und die Sehnsucht nach Ihnen zu verbergen sucht, sehen wir wohl, wie sie sich darin aufzehrt und Tag und Nacht nichts anderes denkt. Soviel ich jetzo sehe, wenn Sie meine Freiheit nicht übel nehmen wollen, steht es nicht zum besten mit Ihnen, und erachte ich, daß Sie in dem Stadium sind, wo die Herren Künstler allerlei durchmachen müssen, um endlich mit Ehre und stattlichem Ansehen aus der Not hervorzugehen. Unsereines hat wohl auch allerlei Strapazen auf der Wanderschaft durchzumachen oder als Anfänger harte Zeit zu erleben; allein mit der Arbeit können wir, wenn wir nur wollen, uns jederzeit helfen, und unsere Hände sind immer so gut wie bares Geld oder gebackenes Brot und für jede Stunde eine unmittelbare Selbsthilfe, während es bei Ihnen dazu noch gutes Glück und allerlei Unerhörtes braucht, wovon ich nichts verstehe. Vorlaute und unverständige Weibsen und auch ebensolche Männer in unserer Stadt, wo es ruchbar geworden, daß Ihre Mutter große Summen an Sie gewendet und ihr eigenes Auskommen dadurch bedeutend geschmälert hat, haben es sich beikommen lassen, dieselbe hart zu tadeln hinter ihrem Rücken und auch ihr ins Gesicht ungefragt zu sagen, daß sie unrecht getan und sowohl ihrem Sohne schlecht gedient als durch solche unzukömmliche Opfer sich selbst überhoben habe. Jedermann, der Ihre Mutter kennt, weiß, daß alles eher als dieses der Fall ist, aber das unverständige Geschwätz hat sie vollends eingeschüchtert, daß sie fast mit niemand zusammenkommt und so in Einsamkeit und harter Selbstverleugnung dahinlebt. Obgleich die Nachbaren ihr manche Dienste anbieten, nimmt sie nichts an, und die Art, wie sie dies tut und wie sie ihre Sachen besorgt, hat, soviel man davon sehen kann, etwas höchst Seltsames und Schwermütigmachendes für uns Zuschauer. Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster und spinnt, sie spinnt jahraus und ein, als ob sie zwölf Töchter auszusteuern hätte, und zwar, wie sie sagt, damit doch mittlerweile etwas angesammelt würde und, da sie nichts anderes ansammeln könne, wenigstens ihr Sohn für sein Leben lang und für sein ganzes Haus genug Leinwand finde. Wie es scheint, glaubt sie durch diesen Vorrat weißen Tuches, das sie jedes Jahr weben läßt, Ihr Glück herbeizulocken, gleichsam wie in ein aufgespanntes Netz, damit es durch einen tüchtigen Hausstand ausgefüllt werde, oder gleichsam wie die Gelehrten und Schriftsteller durch ein Buch weißes Papier gereizt und veranlaßt werden sollen, ein gutes Werk darauf zu schreiben, oder die Maler durch eine ausgespannte Leinwand, ein schönes Stück Leben darauf zu malen. Zuweilen stützt sie ausruhend den Kopf auf die Hand und staunt unverwandt in das Land hinaus über die Dächer weg oder in die Wolken; wenn es aber dunkelt, so läßt sie das Rad still stehen und bleibt so im Dunkeln sitzen, ohne Licht anzuzünden, und wenn der Mond oder ein fremder Lichtstrahl auf ihr Fenster fällt, so kann man alsdann unfehlbar ihre Gestalt in demselben sehen, wie sie immer gleich ins Weite hinausschaut. Seit Jahren geht sie in demselben braunen Kleide, welches sich gar nicht abzutragen scheint, über die Straße und hat sich streng von aller auch der einfachsten Zier entblößt, daß es unsere Weiber ärgert, welche gewöhnt sind, sich mit der Zeit immer reicher zu kleiden anstatt schlichter und darnach ihr Gedeihen berechnen. Wahrhaft melancholisch aber ist es anzusehen, wenn sie zuweilen ihre Betten sonnt; anstatt sie mit Hilfe anderer auf unseren geräumigen Platz hinzutragen, wo der große Brunnen steht, schleppt sie dieselben allein auf das hohe schwarze Dach Eures Hauses, breitet sie dort an der Sonnenseite aus, geht emsig auf dem steilen Dache umher, ohne Schuhe zwar, aber bis an den Rand hin, klopft die Stücke aus, kehrt sie, schüttelt sie und hantiert dermaßen seelenallein in dieser schwindligen Höhe unter dem offenen Himmel, daß es höchst verwegen und sonderbar anzusehen ist, zumal wenn sie, einen Augenblick innehaltend, die Hand über die Augen hält und da hoch oben in der Sonne stehend in die weite Ferne hinaus sieht. Ich konnte es einmal nicht länger ansehen von meinem Hofe aus, wo ich eben einen Wagen lackierte, ging hinüber, stieg bis zum Dache hinauf und hielt unter der Luke eine Anrede an sie, indem ich ihr die Gefahr ihres Tuns vorstellte und bat, doch die Hilfe anderer Leute in Anspruch zu nehmen. Sie lächelte aber nur und bedankte sich, und bin ich auch der Meinung, daß nur durch Ihre Heimkehr solche peinliche Abstinenz und Pönitenz vertrieben werden kann!«
Der wackere Mann, welcher keinen Augenblick Heinrich verächtlich behandelte, vielmehr dessen Lage mit achtungsvollem Mitgefühl für einen notwendigen Künstlerzustand hielt, aus welchem herauszukommen und dann die Herrlichkeiten des Künstlertums anzutreten nur von einem festen Wollen und Zusammenraffen Heinrichs abhinge, munterte ihn nun wiederholt auf, nach Hause zu kommen, und malte ihm aus, wie die sichere Luft der Heimat meistens in solchen Fällen eine günstige Wendung herbeiführe und dem Erfahrenen und Geprüften einen neuen Mut und zugleich einen klaren Überblick gebe, so daß er entweder gedeihlich im Lande bliebe oder, wenn es der Beruf so mit sich führe, mit neuer Kraft und größerer Zweckmäßigkeit zum zweiten Mal ausfliegen könne. Er bot ihm, indem er von der Mutter den Auftrag zu haben vorgab, die nötige Barschaft an zur Heimreise.
Heinrich hatte dem Erzähler unverwandt zugehört; statt auf die Vorschläge des braven Nachbars zu hören, dessen Anerbieten und jetziges Wesen er vor Jahren kaum geahnt hätte und den er dazumal kaum näher gekannt, sah er fort und fort die seltsamen Bilder seiner Mutter, welche der Landsmann ihm entworfen, und sie prägten sich seinem Sinne in einer goldenen sonnigen Verklärung ein, so daß er träumend ihnen nachhing. Als der Landsmann ihn endlich ermunterte und, sein Glas füllend, sein Anerbieten und seine Aufforderung wiederholte, lehnte er alles mit bescheidenem Danke ab und bat, die freundlichen Leutchen möchten seine Mutter tausendmal grüßen und nur sagen, es ginge ihm ganz ordentlich, er würde gewiß so bald immer tunlich zurückkehren. Denn das Anerbieten des Mannes zu ergreifen und in diesem Augenblicke und auf diese Weise nach der Heimat zu gehen, schien ihm ganz gewaltsam und wie aus der Schule gelaufen, ohne seine Tagesaufgabe gelöst zu haben.
Er begleitete das Paar nach dem Bahnhofe und sah sie mit Hunderten von glücklichen Reisenden davonfliegen, indes er selbst traurig in die Stadt zurückkehrte, welche ihm nun vollends zu einem Aufenthalt des Elendes, der Verbannung wurde. Aber dieser Zustand war nun schon wieder ein anderer geworden als erst vor einem Tage, und durch die Begegnung mit dem Landsmanne und dessen Mitteilungen nahm sein leidendes Verhalten eine bestimmte und veredelte Gestalt, und er fühlte sich durch einen klaren notwendigen Verlauf der Dinge, durch die Erfüllung eines jeden Teilchens seiner Selbstbestimmung und Verschuldung an das ferne Elend gefesselt, während alle seine Gedanken mit tiefer Sehnsucht nach der Heimat zogen, wo er unaufhörlich das Bild seiner Mutter an dem drehenden Rade sitzen, durch die Straßen der alten Stadt gehen oder auf dem sonnbeglänzten Hausdache emporragen sah.
Sein ganzes Wesen wurde von diesen Bildern und von glänzenden Vorstellungen der Heimat getränkt und durchdrungen, und die einfache Rückkehr nach derselben erschien ihm jetzt nach all den Hoffnungen und Bestrebungen das wünschenswerteste und höchste Gut, welches doch wiederum durch eine seltsame künstlerische Gewissenhaftigkeit in eine Ungewisse, fast unerreichbare Ferne gerückt wurde, durch die künstlerische Gewissenhaftigkeit nicht etwa des Malers, sondern des Menschen, welchem es unmöglich erschien, ohne Grund und Abschluß, ohne das Verdienst eines erreichten Lebens jenes Glück vom Zaune zu brechen und gewaltsam herbeizuführen.
Allein das heiße Verlangen nach diesem so einfachen und natürlichen Gute wirkte so mächtig in ihm, daß in tiefer Nacht, wenn der Schlaf ihn endlich heimgesucht, eine schöpferische Traumwelt lebendig wurde und durch die glühendsten Farben, durch den reichsten Gestaltenwechsel und durch die seligsten, mit dem allerausgesuchtesten Leide gepaarten Empfindungen den Schlafenden beglückte, mit ihrer Nacherinnerung aber auch den Wachen für alles Übel vollkommen schadlos hielt und das Unerträgliche erträglich machte, ja sogar zu einer Art von bemerkenswertem Glücke umwandelte.
Ganz wie es ihm einst Römer, sein unkluger und doch so erfahrener Lehrer, verkündet, sah er nun im Traume bald die Stadt, bald das schöne Dorf auf wunderbare Weise verklärt und verändert, ohne je hinein gelangen zu können, oder, wenn er dort war, mit einem plötzlichen traurigen Ausgang und Erwachen. Er durchreiste die schönsten Gegenden seines Vaterlandes, welche er in der Wirklichkeit nie gesehen, sah die Gebirge, Täler und Ströme mit wohlbekannten und doch ganz unerhörten Namen, die wie Musik klangen und doch etwas kindisch Komisches an sich hatten, wie es nur der Traum gebären kann; er näherte sich allmählich der Stadt, worin das Vaterhaus lag, auf wunderbaren Wegen, am Rande breiter Ströme, auf denen jede Welle einen schwimmenden Rosenstock trug, so daß unter dem dahinziehenden Rosenwalde das Wasser kaum hindurch funkelte. Ein Landmann pflügte mit einem goldenen Pfluge am Ufer mit milchweißen Ochsen, unter deren Tritten große Kornblumen aufsproßten; die Furche füllte sich mit goldenen Körnern, welche der Bauer, indem er mit der einen Hand den Pflug lenkte, mit der anderen aufschöpfte und weithin in die Luft warf, worauf sie in einem goldenen Regen über Heinrich herabfielen, der sie in seinem Hute auffing und sah, daß sie sich in lauter goldene Schaumünzen verwandelten, auf welchen ein alter Schweizer mit dem Schwerte geprägt war und mit einem sehr langen Barte. Er zählte sie eifrig und konnte sie doch nicht auszählen, füllte aber alle Taschen damit; die er nicht hineinbrachte, als sie voll waren, warf er wieder in die Luft, da verwandelte sich der Goldregen in einen prächtigen Goldfuchs, welcher wiehernd an der Erde scharrte, aus welcher dann der schönste Hafer in Haufen hervorquoll, den der Goldfuchs mutwillig verschmähte. Jedes Haferkorn war ein süßer Mandelkern, eine getrocknete Weinbeere und ein neuer Batzen, die in rote Seide zusammengewickelt und mit einem goldenen Faden zugebunden waren; zugleich war ein Endchen Schweinsborste eingebunden, welche einen angenehm kitzelte, und indem das schöne Pferd sich behaglich darin wälzte, rief es: der Hafer sticht mich! der Hafer sticht mich! Heinrich bestieg das Pferd, ritt beschaulich am Ufer hin und sah, wie der Bauer in die Rosen hineinpflügte und mit seinem ganzen Gespann darunter versank. Die Rosen nahmen ein Ende, und während sie sich zu dichten Scharen verzogen und in die Ferne hinschwammen, eine hohe Röte am runden Horizonte ausbreitend, der Fluß aber jetzt rein und wie ein unermeßliches Band fließenden blauen Stahles erschien, fuhr der Bauer auf seinem Pfluge, der sich in ein Schiff verwandelt hatte, dessen Steuer sich aus der goldenen Pflugschar formierte, singend dahin und sang: »Das Alpenglühen rückt aus und geht ums Vaterland herum!« Dann bohrte er eifrig ein Loch in den Schiffboden; dann steckte er das eherne Mundstück einer Trompete an das Loch, sog einen Augenblick kräftig daran, worauf es mächtig erklang, gleich einem Harsthorn, und einen glänzenden Wasserstrahl ausstieß, der den herrlichsten Springbrunnen in dem fahrenden Schifflein bildete. Der Bauer nahm den Brunnenstrahl, setzte sich auf den Rand des Schiffes und schmiedete auf seinen Knien und mit der rechten Faust ein mächtiges Schwert daraus, daß die Funken nur so stoben. Als das Schwert fertig war, probierte er es an einem ausgerupften Barthaar und überreichte es höflich sich selbst, der plötzlich als jener dicke Wirt ihm gegenüberstand, welcher an jenem Volksfeste den Wilhelm Tell vorgestellt. Dieser nahm das Schwert, schwang es und sang mächtig:
Heio heio! bin auch noch do
Und immer meines Schießens froh!
Heio heio! die Zeit ist weit,
Der Pfeil des Tellen fleugt noch heut!
Heio heio! seht ihr ihn nicht?
Dort oben fliegt er hoch im Licht!
Man weiß nicht, wo er stecken bleibt,
Heio heio! 's ist, wie man's treibt!
Dann hieb der dicke Tell mit dem Schwerte von der Schiffswand, die nun eine Speckseite war, urplötzlich einen dicken Span herunter und trat mit demselben feierlich in die Kajüte, um einen Imbiß zu halten.
Heinrich ritt nun auf seinem Goldfuchs in das Dorf ein, darin sein Oheim wohnte; es sah ganz fremd aus, die Häuser waren neugebaut und alle Kamine rauchten, indessen die Bewohner sämtlich hinter den hellen Fenstern zu erblicken waren, wie sie eifrig um den Tisch herum saßen und aßen, keine Seele sich aber auf der Straße sehen ließ und ihn also auch niemand bemerkte. Dessen war er aber höchlich froh; denn er entdeckte erst jetzt, daß er auf seinem leuchtenden Pferde noch die alten abgeschabten und anbrüchigen Kleider anhatte. Er bestrebte sich desnahen auch, ungesehen hinter das Haus des Oheims zu gelangen; aber wie wunderte er sich, als dieses über und über mit Efeu bewachsen und außerdem noch ganz von den alten wuchtigen Nußbäumen überhangen war, so daß kein Stein und kein Ziegel zu sehen war und nur hie und da ein Stückchen Fensterscheibe durch das dichte Grün blinkte. Er sah wohl, daß sich Leute hinter denselben bewegten, aber er konnte niemanden erkennen. Der Garten war mit einer Wildnis von wuchernden Feldblumen bedeckt, aus denen die alten verwilderten Gartenstauden baumhoch emporragten, und Schwärme wild gewordener Bienen brausten auf dieser Blumenwildnis umher. Im Bienenhause aber lag sein alter Liebesbrief, den der Wind einst dahingetragen, vergilbt und vom Wetter zugerichtet, ohne daß ihn die Jahre her jemand gefunden, obgleich er offen dalag; er nahm ihn und wollte ihn entfalten, da riß ihn jemand aus seiner Hand, und als er sich umsah, huschte Judith damit lachend um die Ecke und küßte Heinrich aus der Entfernung durch die Luft, daß er den Kuß auf seinem Munde fühlte; aber der Kuß verwandelte sich sogleich in ein Apfelküchlein, das er begierig aß, da er im Schlafe mächtigen Hunger empfand. Dies sah er auch sogleich ein und überlegte, daß er ja träume, daß aber der Apfelkuchen von jenen Äpfeln herkomme, welche er einst küssend mit Judith zusammen gegessen. Aber das Stückchen Kuchen machte ihn erst recht heißhungrig und er gedachte, daß es nun Zeit sei, in das Haus zu gehen, wo wohl eine gute Mahlzeit bereit sein würde. Er packte also einen schweren Mantelsack aus, welcher sich unversehens auf seinem Pferde befand, nachdem er dasselbe an einen Baum gebunden, und aus seinem Mantelsack rollten die schönsten Kleider hervor und ein feines weißes Hemd mit gestickter Brust. Wie er dieses auseinanderfaltete, wurden zwei daraus, aus den zweien vier, aus den vieren acht, kurz eine Menge der feinsten Leibwäsche breitete sich aus, welche wieder in den Mantelsack zu packen Heinrich sich abmühte, aber vergeblich; immer wurden es mehr Hemden und bedeckten den Boden umher und Heinrich empfand die größte Angst, über diesem sonderbaren Geschäft von seinen Verwandten überrascht zu werden. Endlich ergriff er in der Verzweiflung eines, um es anzuziehen, und stellte sich schamhaft hinter einen Nußbaum; aber man sah vom Hause aus an diese Stelle, und er schlich sich beklemmt hinter einen anderen, und so immer fort von einem Baume zum anderen, bis er dicht an das Haus gelehnt und sich in den Efeu hineindrückend in der größten Verwirrung und Eile den Anzug wechselte, die schönen Kleider anzog und doch fast nicht fertig damit werden konnte, und als er es endlich war, befand er sich wieder in der größten Not, wohin er das traurige Bündel der alten Kleider bergen möge. Wohin er es auch trug, immer fiel ihm ein Stück auf die Erde; zuletzt gelang es mit saurer Mühe, das Zeug in den Bach zu werfen, wo es aber durchaus nicht talab schwimmen wollte, sondern sich immer an selber Stelle herumdrehte ganz gemächlich. Er ergriff eine verwitterte Bohnenstange, die ihm in den Händen zerbrach, und quälte sich ab, die schlechten Lumpen in die Strömung hineinzustoßen; aber die morsche Stange brach und brach immer wieder und zersplitterte bis auf das letzte Stümpfchen. Da berührte ein süßer duftiger Hauch seine Wangen, den er so recht durch allen Traum hindurch empfand, und Anna stand vor ihm und führte ihn freundlich in das grüne Haus hinein. Er stieg Hand in Hand mit ihr die Treppe hinauf und trat in die Stube, wo der Oheim, die Tante, die Basen und die Vettern sämtlich versammelt waren und ihn herzlich begrüßten. Er sah sich aufatmend um; die alte Wohnung war ganz neu und sonntäglich aufgeputzt, manches neue, ihm noch unbekannte Möbel, wie es im Laufe der Jahre wohl in ein Haus kommt, stand da, und es war so sonnenhell in dem Gemach, daß Heinrich nicht begriff, wie durch den dicken Efeu all das Licht herkomme. Der Oheim und die Tante waren in ihren besten Jahren, die Bäschen und die Vettern lustig und blühender als je, der Schulmeister ebenfalls ein sehr schöner Mann und aufgeräumt wie ein Jüngling, und Anna war als Mädchen von vierzehn Jahren in jenem rotgeblümten Kleide und mit der lieblichen Halskrause. Was aber sehr sonderbar war: Alle, Anna nicht ausgenommen, trugen lange feine kölnische Pfeifen in den Händen und rauchten einen wohlriechenden Tabak und Heinrich ebenfalls. Dabei standen sie, die Verstorbenen und die noch Lebendigen, keinen Augenblick still, sondern gingen mit freundlichen frohen Mienen unablässig die Stube auf und nieder, hin und her, und dazwischen niedrig am Boden die zahlreichen Jagdhunde, das Reh, der Marder, zahme Falken und Tauben in friedlicher Eintracht, nur daß die Tiere den entgegengesetzten Strich mit den Menschen gingen und so ein wunderbares Weben durcheinanderging. Der große Nußbaumtisch war mit dem schönsten weißen Damasttuche gedeckt und mit einer duftenden vollaufgerüsteten Mahlzeit besetzt, an welche aber niemand rührte. Heinrich konnte kaum erwarten, bis man sich zu Tische setze, so wässerte ihm der Mund, und unterdessen sagte er zum Oheim: Ei, Ihr scheint es Euch da recht wohl sein zu lassen! »Versteht sich!« sagte der, und alle wiederholten: »Versteht sich!« mit angenehm klingender Stimme.
Plötzlich befahl der Oheim, daß man zu Tische sitze, und alle stellten die Pfeifen pyramidenweise zusammen auf den Boden, je drei und drei, wie die Soldaten die Gewehre. Darauf schienen sie unversehens wieder zu vergessen, daß sie sich eigentlich zu Tische setzen wollten, zum großen Verdruß Heinrichs; denn sie gingen nun ohne die Pfeifen wieder umher und fingen allmählich an zu singen, und Heinrich sang mit:
Wir träumen, wir träumen,
Wir träumen, träumen, träumen,
Wir säumen, träumen, säumen,
Wir eilen und wir weilen,
Wir weilen und wir eilen,
Sind da und sind doch dort,
Wir gehen bleibend fort,
Wem konveniert es nicht?
Wie schön ist dies Gedicht!
Halloh, halloh!
Es lebe was auf Erden stolziert in grüner Tracht,
Die Wälder und die Felder, die Jäger und die Jagd!
Diese merkwürdige Traumkomposition sangen die Weiber und Männer mit wundervoller Harmonie und Lust und das Halloh stimmte der Oheim mit gewaltiger Stimme an, so daß die ganze Schar mit verstärktem Gesange dareintönte und rauschte und zugleich blässer und blässer werdend sich in einen wirren Nebel auflöste, während Heinrich bitterlich weinte und schluchzte und die Tränen stromweis flossen. Er erwachte in Tränen gebadet, und sein schlechtes Lager, welches seine jetzigen Wirtsleute, weil er nicht bezahlen konnte, lange nicht aufgefrischt, war von Tränen benetzt. Als er diese mit Mühe getrocknet, war das erste, dessen er sich erinnerte, der wohlbesetzte Tisch, der ihm so schnöde entschwunden, und erst dann fiel ihm nach und nach der ganze Traum bei und er schlief voll Sehnsucht hurtig wieder ein, um nur schnell wieder in das gelobte Land zu kommen und die Heimreise zu vollenden.
Er fand sich in einem großen Walde wieder und ging auf einem wunderlichen schmalen Brettersteig, welcher sich hoch durch die Äste und Baumkronen wand, eine Art endlosen hängenden Brückenbaues, indessen der bequeme Boden unten unbenutzt blieb. Aber es war schön hinabzuschauen auf denselben, da er ganz aus grünem Moose bestand, welches in tiefer Dunkelheit lag. Auf dem Moose wuchsen Tausende von einzelnen sternförmigen Blumen auf schwankem Stengel, die sich immer dem oben gehenden Beschauer zuwandten; im Schatten jeder Blume stand ein kleines Bergmännchen, welches mittelst eines in einem goldenen Laternchen eingefaßten Karfunkels die nächste Blume beleuchtete, daß sie aus der Tiefe glänzte wie ein blauer oder roter Stern, und indem sich die Blumengestirne langsamer oder schneller drehten, gingen die Männchen mit ihren Laternchen um sie herum und lenkten sorgfältig den Lichtstrahl auf den Kelch. Jede Blume hatte ihr eigenes Männchen, und das kreisende Leuchten in der dunklen Tiefe sah sich von dem hohen Bretterwege wie ein unterirdischer Sternhimmel an, nur daß er grün war und die Sterne in allen Farben strahlten. Heinrich ging entzückt auf seiner Hängebrücke weiter und schlug sich tapfer durch die Buchen- und Eichenkronen, manchmal kam er in eine Föhrengruppe hinein, welche etwas lichter war, und das purpurrote, von der Sonne durchglühte, starkduftende Holzwerk der Fichtenkronen bot einen fabelhaften Anblick und Aufenthalt, da es wie künstlich bearbeitet, gezimmert und mit wunderlichem Bildwerk verziert erschien und doch natürliches Astwerk war. Manchmal führte der Steg auch ganz über die Bäume hinweg unter den offenen Himmel und Sonnenschein, und Heinrich stellte sich auf das schwanke Geländer, um zu sehen, wo es hinausginge; aber nichts war zu erblicken, als ein endlos Meer von grünen Baumwipfeln, soweit das Auge reichte, auf dem der heiße Sommertag flimmerte und Abertausende von wilden Tauben, Hähern, Mandelkrähen, Finken, Weihen und Dohlen herumschwärmten, und das Wunderbare war nur, daß man auch die allerfernsten Vögel deutlich erkannte und ihre glänzenden Farben unterscheiden konnte. Nachdem Heinrich sich sattsam umgeschaut, ging er weiter und schaute wieder in die Tiefe, wo er jetzt eine noch viel tiefere Felsschlucht entdeckte, die aber für sich allein gänzlich von der Sonne erhellt war, welche durch irgend eine Bergspalte hereinbrach. Auf dem Grunde war eine kleine Wiese an einem klaren Bache; mitten auf der Wiese saß auf ihrem kleinen Strohsessel Heinrichs Mutter in einem braunen Einsiedlerkleide und mit eisgrauen Haaren. Sie war uralt und gebeugt, und Heinrich konnte ungeachtet der fernen Tiefe jeden ihrer Züge genau erkennen. Sie hütete mit der grünenden Rute eine kleine Herde großer Silberfasanen, und wenn einer sich aus ihrem Umkreise entfernen wollte, schlug sie leise auf seine Flügel, worauf einige glänzende Federn emporschwebten und in der Sonne spielten. Am Bächlein aber stand ihr Spinnrad, das mit Schaufeln versehen und eigentlich ein kleines Mühlrad war und sich blitzschnell drehte; sie spann nur mit der einen Hand den leuchtenden Faden, der sich nicht auf die Spule wickelte, sondern kreuz und quer an dem Abhänge herumzog und sich da sogleich zu großen Flächen blendender Leinwand bildete. Diese stieg höher und höher hinan, und plötzlich fühlte Heinrich ein schweres Gewicht auf seiner Schulter und entdeckte, daß er den vergessenen Mantelsack trug, der von den feinen Hemden ganz geschwollen war. Indem er sich mühselig damit schleppte, sah er wie die Fasanen plötzlich schöne Bettstücke waren, die seine Mutter sonnte und eifrig ausklopfte. Dann nahm sie dieselben zusammen und trug sie geschäftig herum und eines ums andere in den Berg hinein. Wenn sie wieder herauskam, so schaute sie mit der Hand über den Augen sich um und sang:
Mein Sohn, mein Sohn,
O schöner Ton!
Wie schön er verhallt
Im tönenden Wald!
Mein Sohn, mein Sohn geht durch den Wald!
Ihre Stimme tönte rührend hell und klingend in der weit und breiten Stille; da ersah sie ihn plötzlich, als er hoch über der Schlucht auf seinem schwebenden Stege stand und sehnlich auf sie herabschaute. Sie stieß einen lauten, weithin verklingenden Freudenschrei aus und schwebte blitzschnell wie ein Geist davon über Stock und Stein, ohne zu gehen, so daß sie Heinrich immer in der größten Ferne zu entschwinden drohte, während er ihr vergeblich rufend nacheilte, daß die Baumkronen um ihn tanzten und sausten und der Steg sich bog und knarrte.
Plötzlich war der Wald aus und Heinrich sah sich auf dem steilen Berge stehen, welcher seiner Geburtsstadt gegenüberlag, aber welch einen Anblick bot diese! Der Fluß war zehnmal breiter als sonst und glänzte wie ein Spiegel; die Häuser waren alle so groß wie sonst die Münsterkirche, von der fabelhaftesten Bauart und leuchteten im Sonnenschein; alle Fenster waren mit einer Fülle der seltensten Blumen bedeckt, die schwer über die mit Bildwerk bedeckten Mauern herabhingen, die Linden stiegen in unabsehbarer Höhe in den dunkelblauen durchsichtigen Himmel hinein, der ein einziger Edelstein schien, und die riesenhaften Lindenwipfel wehten daran hin und her, als ob sie ihn noch blanker fegen wollten, und zuletzt wuchsen sie in die durchsichtige blaue Masse hinein, daß es vollkommen anzusehen war wie die Moospflänzchen, die man im Bernstein eingeschlossen sieht, nur unendlich größer.
Zwischen den ungeheuren grünen Laubmassen der Linden stiegen die beiden gotischen Türme des Münsters empor, indessen das byzantinische Schiff der Kirche wie ein Steingebirge unter der Laubmasse lag; aber wo etwas davon sichtbar wurde, war es die künstlichste Bildhauerarbeit. Die beiden goldenen Kronen aber, welche, Heinrich wohlbekannt, die Turmknöpfe bildeten, funkelten in der Himmelshöhe und waren voll junger Mädchen, die darin tanzten. Obgleich er trotz des breiten Stromes jede Fuge an der Stadt und jedes einzelne Lindenblatt klar und scharf erkennen konnte, so konnte er doch nicht sehen, wer die Mädchen waren, und er beeilte sich, hinüberzukommen, da es ihn sehr wunder nahm, wer sie sein möchten.
Zur rechten Zeit sah er den Goldfuchs neben sich stehen, legte ihm den Mantelsack auf und begann den jähen Staffelweg hinunterzureiten, der an die Brücke führte. Jede Staffel war aber ein geschliffener Bergkristall, in welchem gewissermaßen als Kern ein spannelanges pudelnacktes Weibchen eingeschlossen lag, von unbeschreiblichem Ebenmaß und Schönheit der kleinen Gliederchen. Während der Goldfuchs den halsbrechenden Weg hinuntertrabte und jeden Augenblick mit seinem Reiter in den Abgrund zu stürzen drohte, bog sich Heinrich links und rechts vom Sattel und suchte mit sehnsuchtsvollen Blicken in den Kern der durchsichtigen Kristallstufen zu dringen. »Tausend noch einmal!« rief er lüstern aus, »was mögen das nur für allerliebste närrische Wesen sein in dieser verwünschten Treppe?« »Ei was wirds sein?« erwiderte das Pferd, indem es springend den Kopf zurückwandte, »das sind nur die guten Dinge und Ideen, welche der Boden der Heimat in sich schließt und welche derjenige herausklopft, der im Lande bleibt und sich redlich nährt!«
»Teufel!« rief Heinrich, »ich werde gleich morgen hier herausgehen und mir einige Staffeln aufklopfen!« und er konnte seine Blicke nicht wegwenden von der langen Treppe, die sich schon glänzend hinter ihm den Berg hinaufwand. Er war jetzt unten bei der Brücke angekommen; das war aber nicht mehr die alte hölzerne Brücke, sondern ein marmorner Palast, welcher in zwei Stockwerken eine unabsehbare Säulenhalle bildete und so als eine nie gesehene Prachtbrücke über den Fluß führte. »Was sich doch alles verändert und vorwärts schreitet, wenn man nur einige Jahre weg ist!« sagte Heinrich, als er gemächlich in die weite Brückenhalle hineinritt. Während das Gebäude von außen nur in weißem, rotem und grünem Marmor glänzte, allerdings in den herrlichsten Verhältnissen und Gliederungen, waren die Wände inwendig mit zahllosen Malereien bedeckt, welche die ganze fortlaufende Geschichte und alle Tätigkeiten des Landes darstellten. Hirten und Jäger, Bauern und Pfaffen, Staatsmänner, Künstler, Handwerker, Schiffer, Kaufleute, Gemsjäger, Mönche, Jünglinge und Greise, alle waren in ihrem Wesen kenntlich und verschieden und doch sich alle gleich und traten in den dargestellten Handlungen ungezwungen zusammen in den bestimmtesten und klarsten Farben. Die Malerei war einfach, hatte durchaus den Charakter der alten soliden Freskomalerei, aber alle Abwesenheit von gebrochenen Farben und den Künsten des Helldunkels ließ die Bilder nur umso klarer und bestimmter erscheinen und gab ihnen einen unbefangenen und munteren Anstrich. Auch verstand sie alles Volk, das auf der Brücke hin und her wogte, und während sie so durch einen guten und männlichen Stil für den Gebildeten erfreulich blieben, wurden sie durch jene Künste nicht ungenießbar für den weniger Geschulten; denn die Bedeutung der alten Freskomalerei liegt in ihrer tüchtigen Verständlichkeit und Gemeingenießbarkeit, während die Vorzüge der neueren Malerei ein geübtes Auge erfordern und das Volk sich den Teufel um gebrochene Töne kümmert.
Das lebendige Volk, welches sich auf der Brücke bewegte, war aber ganz das gleiche wie das gemalte und mit demselben eines, wie es unter sich eines war, ja viele der gemalten Figuren traten aus den Bildern heraus und wirkten in dem lebendigen Treiben mit, während aus diesem manche unter die Gemalten gingen und an die Wand versetzt wurden. Diese glänzten dann in umso helleren Farben, als sie in jeder Faser aus dem Wesen des Ganzen hervorgegangen und ein bestimmter Zug im Ausdrucke desselben waren. Überhaupt sah man jeden entstehen und werden, und der ganze Verkehr war wie ein Blutumlauf in durchsichtigen Adern. In dem geschliffenen Granitboden der Halle waren verschiedene Löcher angebracht mit eingepaßten Granitdeckeln, und was sich Geheimnisvolles oder Fremdartiges in dem Handel und Wandel erblicken ließ, wurde durch diese Löcher mit einem großen Besen hinabgekehrt in den unten durchziehenden Fluß, der es schleunig weit wegführte. Der Ein- und Ausgang der Brücke aber war offen und unbewacht, und indem der Zug über dieselbe beständig im Gange war, der Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben unausgesetzt stattfand und alles sich unmerklich jeden Augenblick erneuerte und doch das Alte blieb, schien auf dieser wunderbar belebten Brücke Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur ein Ding zu sein.
»Nun möcht ich wohl wissen«, sagte Heinrich vor sich hin, während er aufmerksam alles aufs genaueste betrachtete, »was dies für eine muntere und lustige Sache hier ist!«
Das Pferd erwiderte auf der Stelle: »Dies nennt man die Identität der Nation!«
»Himmel!« rief sein Reiter, »du bist ein sehr gelehrtes Pferd! Der Hafer muß dich wirklich stechen! Wo hast du diese gelehrte Anschauung erworben?«
»Erinnere dich«, sagte der Goldfuchs, »auf wem du reitest! Bin ich nicht aus Gold entstanden? Gold aber ist Reichtum und Reichtum ist Einsicht.«
Bei diesen Worten merkte Heinrich plötzlich, daß sein Mantelsack statt mit Wäsche jetzt gänzlich mit jenen goldenen Münzen angefüllt und ausgerundet war, welche er mit den alten Kleidern in das Wasser geworfen hatte. Ohne zu grübeln, woher sie so unvermutet wiederkämen, fühlte er sich höchst zufrieden in ihrem Besitze, und obschon er dem weisen Gaule nicht mit gutem Gewissen Recht geben konnte, daß Reichtum Einsicht sei, so war er doch schon insoweit von seiner Behauptung angesteckt und fand sich doch plötzlich so leidlich einsichtsvoll, daß er wenigstens nichts erwiderte und gemütlich weiter ritt auf der schönen Brücke.
»Nun sage mir, du weiser Salomo!« begann er nach einer Weile wieder, »heißt eigentlich die Brücke oder die Leute, so darauf sind: die Identität? oder welches von beiden nennst du so?«
»Beide zusammen sind die Identität!« sagte das Pferd.
»Der Nation?« fragte Heinrich.
»Der Nation, zum Teufel noch einmal, versteht sich!« sprach der Goldfuchs.
»Gut! aber welches ist denn die Nation, die Brücke oder die Leute, so darüber rennen?« sagte Heinrich.
»Ei seit wann«, rief das Pferd, »ist denn eine Brücke eine Nation? Nur Leute können eine Nation sein, folglich sind diese Leute hier die Nation!«
»So! und doch sagtest du soeben, die Nation und die Brücke zusammen machten eine Identität aus!« – erwiderte Heinrich.
»Das sagt ich auch und bleibe dabei!« versetzte das Pferd.
»Nun, also?« fuhr Heinrich fort.
»Wisse«, antwortete der Gaul bedächtig, indem er sich auf allen Vieren ausspreizte und tiefsinnig in den Boden hineinsah, »wisse, wer diese heiklige Frage zu beantworten, den Widerspruch zu lösen versteht, ohne den scheinbaren Gegensatz aufzuheben, der ist ein Meister hierzulande und arbeitet an der Identität selber mit. Wenn ich die richtige Antwort, die mir wohl so im Maule herumläuft, rund und nett zu formulieren verstände, so wäre ich nicht ein Pferd, sondern längst hier an die Wand gemalt. Übrigens erinnere dich, daß ich nur ein von dir geträumtes Pferd bin und also unser Gespräch eine subjektive Ausgeburt und Grübelei deines eigenen Gehirnes ist, die du Aberwitziger mit über den Rhein gebracht hast. Mithin magst du fernere Fragen dir nur selbst beantworten aus der allerersten Hand!«
»Ha! du widerspenstige Bestie!« schrie Heinrich in anthropologischem Zorne und spornte das Pferd heftig, »umso mehr, undankbarer Klepper, bist du mir zu Red und Antwort verpflichtet, da ich dich aus meinem so sauer ergänzten Blute erzeugen und diesen Traum lang speisen und unterhalten muß!«
»Hat auch was Rechtes auf sich!« erwiderte das Pferd ganz gelassen. »Dieses ganze Gespräch, überhaupt unsere ganze werte Bekanntschaft ist das Werk und die Dauer von kaum zwei Sekunden und kostet doch wohl kaum einen Hauch von deinem geehrten Körperlichen.«
»Wie, zwei Sekunden?« rief Heinrich und hielt das schöne Goldtier an, »ist es nicht wenigstens eine Stunde, daß wir auf dieser endlosen Brücke reiten und uns umsehen m dem Getümmel?«
»Gerade eine Sekunde ists«, sagte der Gaul, »daß ein berittener Nachtwächter um die Straßenecke bog, und ein einziger Hufschlag hat in dir meine Erscheinung erneuert, welche überhaupt veranlaßt wurde, als vor einer halben Stunde derselbe Nachtwächter des entgegengesetzten Weges kam. Auch ist dieses Minimum von Zeit ein und dasselbe Minimum von Raum, kurz die identische Kleinigkeit deines in das Kopfkissen gedrückten Schädels, in welchem sich eine so weite Gegend und tausend belebte und verschiedene Dinge gleichzeitig ausbreiten und zwar alles auf Rechnung des einen Hufschlages, welcher nichtsdestominder nur als ein gemeiner Hammerschlag zu betrachten ist, der nur dazu dient, den Kasten deines eigenen Wesens auf zutun, worin alles schon hübsch zusammengepäschelt liegt, was –«
»Um Himmels willen!« rief Heinrich, »vergeude nicht länger die kostbare Dauer des Hufschlages mit deinen Auseinandersetzungen, sonst ist der nur allzu kurze Augenblick vorbei, ehe ich über diese schöne Brücke im reinen bin!«
»Eilt gar nicht! Alles, was wir für jetzo zu erleben und zu erfahren haben, geht vollkommen in das Maß des wackeren Pferdetrittes hinein, und wenn der sehr richtig denkende Psalmist den Herrn seinen Gott anschrie: Tausend Jahre sind vor dir wie ein Augenblick! so ist diese gut begründete Hypothese von hinten gelesen eine und dieselbe Wahrheit: Ein Augenblick ist wie tausend Jahre! Wir könnten noch tausendmal mehr sehen und hören während dieses Hufschlages, wenn wir nur das Zeug dazu in uns hätten, lieber Mann! Doch alles Pressieren oder Zögern hilft da nichts, alles hat seine bequemliche Erfüllung und wir können uns ganz gemächlich Zeit lassen mit unserem Traum, er ist was er ist und dauert einen Schlag und nicht mehr noch minder!« sagte das Pferd.
»Gut, so beantworte mir ohne Anstand noch diese Frage!« erwiderte Heinrich, »ich muß mir aber die Frage erst noch ein wenig zurechtlegen und deutlich abfassen; denn ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll. Bereite dich indessen, da wir, wie du sagst, ausreichende Traumeszeit haben, recht gründlich auf die Beantwortung vor!«
»Wie kann ich mich zur Antwort vorbereiten, eh ich nur die Frage kenne?« sagte das Pferd verwundert.
»Was?« rief Heinrich erbost, »das weißt du nicht? Deinen guten Willen und dein bißchen Ehrlichkeit sollst du zusammennehmen und den Vorsatz fassen, ohne alle Heuchelei und Ausschmückung zu antworten, und selbst wenn du gar nichts zu antworten weißt, so sollst du dies mit gutem ehrlichen Willen bekennen, und dies wird alsdann die gesundeste Antwort sein. Kurz, du sollst, während du philosophierst, wirklich ein Philosoph sein und nicht etwa ein Buchbinder oder ein Kattundrucker!«
»Es ist doch wunderbar mit den Menschen!« bemerkte der Goldfuchs melancholisch. »Bist denn du etwa jetzt ein Philosoph, während du dir erst ein Pferd träumst, um dir von demselben Fragen beantworten zu lassen, welche du dir einfacher und unmittelbar aus dir selbst beantworten kannst? Muß denn dein träumender Verstand wirklich erst ein Pferd formen, es auf vier Beinen dahinstellen und sich rittlings daraufsetzen, um aus dem Munde dieses Geschöpfes das Orakel zu vernehmen?«
Heinrich lächelte vergnügt und selbstzufrieden wie einer, der es wohl weiß, daß er sich selbst einen Spaß vormacht, und versetzte: »Antworte! Ich sehe hier eine Brücke; dieselbe ist aber vollkommen gebaut und eingerichtet wie ein Palast oder großer Tempel, so daß es in dieser Hinsicht wieder mehr als eine Brücke zu sein scheint, während eine solche vielmehr nur der Weg etwa zu einem guten Tempel oder derartigen Bauwerke zu sein pflegt. Auch beginnt am Ausgange dieser herrlichen Palastbrücke oder dieses Brückenpalastes eine herrliche alte Stadt, deren himmelhohe Lindenwipfel und goldene Turmknöpfe wir wohl unter diese Bogenwölbungen können einherfunkeln sehen, wenn wir uns bücken, so wie wir ja auch aus der schönsten Landschaft herkommen und soeben über die treffliche ideenhaltige Kristalltreppe heruntergestolpert sind. Trotzdem scheint alles auf dieser Brücke so zu leben und zu weben, als ob nichts als diese Brücke da wäre, und ich bin nun begierig zu hören, ob dies stattliche Brückenleben eigentlich ein Übergang, wie es einer Brücke geziemt, oder ein Ziel, wie es ihr auch wieder geziemen könnte, da sie so hübsch ist, ein Zweck oder ein Mittel sei? Ein bloßes Bindemittel oder eine in sich ruhende Vereinigung? Ein Ausgang oder ein Eingang, ein Anfang oder ein Ende? ein A oder ein O? Dies nimmt mich wunder!«
Das weise Pferd erwiderte: »Alles dies ist zumal der Fall und das ist eben das Herrliche und Bedeutungsvolle an der Sache! Ohne die schönen Ufer wäre die Brücke nichts und ohne die Brücke wären die Ufer nichts. Alles, was auf der Brücke geht, ist und bedeutet nur etwas, insofern es aus dem Gelände hüben und drüben kommt und wieder dahin geht und dort etwas Rechtes ist, und dort kann man es wiederum nur sein, wenn man als etwas Rechtes über die Brücke gegangen ist. Wenn man auf der Brücke ist, so denkt man an nichts anderes und stürzt sich in den Verkehr, indessen man doch unversehens hinüber gelangt und wieder in seiner besonderen Behausung ist. Dort duselt und hantiert man in Küche und Keller, auf dem Estrich, rund in der Stube herum, als ob man nie auf der Brücke gewesen wäre, bis man plötzlich einmal den Kopf aus dem Fenster steckt und sieht, ob sie noch stehe; denn von allen Punkten aus kann man sie ragen und sich erstrecken sehen. So ist sie ein prächtiges Monument und doch nur eine Brücke, nicht mehr als der geringste Brettersteg; eine bloße Geh- und Fahrbrücke und doch wieder eine statiöse Volkshalle.«
Plötzlich bemerkte Heinrich, daß er von allen Seiten mit biederer Achtung begrüßt wurde, welche sich besonders dadurch kundgab, daß manche mit einem vertraulichen Griffe und wichtiger Miene seinen strotzenden Mantelsack betasteten, wie etwa die Bauern auf den Viehmärkten die Weichen einer Kuh betasten und kneifen und dann wieder weitergehen.
»Der Tausend«, sagte Heinrich, »das sind ja absonderliche Manieren! ich glaubte, es kenne mich hier kein Mensch.«
»Es gilt auch«, sagte das Pferd, »nicht so wohl dir als deinem schweren Quersack, deiner dicken Goldwurst, die auf meinem Kreuz liegt.«
»So?« sagte Heinrich, »also ist das Geheimnis und die Lösung dieser ganzen Identitätsherrlichkeit doch nur das Gold, und zwar das gemünzte? Denn sonst würden sie dich ja auch betasten, da du aus dem nämlichen Stoffe bist!«
»Hm«, sagte das Pferd, »das kann man eigentlich nicht behaupten! Die Leute auf dieser Brücke haben vorerst ihr Augenmerk darauf gerichtet, ihre Identität allerdings zu behaupten und gegen jeglichen Angriff zu verteidigen. Nun wissen sie aber sehr wohl, daß ein kampffähiger guter Soldat wohlgenährt sein muß und ein gutes Frühstück im Magen haben muß, wenn er sich schlagen soll. Da dies aber am bequemsten durch allerlei Gemünztes zu erreichen und zu sichern ist, so betrachten sie jeden, der mit dergleichen wohlversehen, als einen gerüsteten Verteidiger und Unterstützer der Identität und sehen ihn drum an. Sei dem wie ihm wolle, ich rate dir, dein Kapital hier noch ein wenig in Umlauf zu setzen und zu vermehren. Wenn die Meinung der Leute im allgemeinen auch eine irrige ist, so steht es doch jedem frei, sie für sich zu einer Wahrheit und so seine öffentliche Stellung angenehm zu machen.«
Heinrich griff in seinen Sack und warf einige Hände voll Goldmünzen in die Höhe, welche sogleich von hundert in die Luft greifenden Händen aufgefangen und weiter geworfen wurden. Heinrich warf immer mehr Gold aus, und dasselbe wanderte von Hand zu Hand über die ganze Brücke und über dieselbe hinaus über das Land; jeder gab es emsig weiter, nachdem er es besehen und ein bißchen an seinem eigenen Golde gerieben hatte, wodurch sich dieses verdoppelte, und bald kehrten alle Goldstücke Heinrichs in Gesellschaft von drei bis vier anderen wieder zurück, und zwar so, daß die ursprüngliche Münze, auf welcher der alte Schweizer geprägt war, die übrigen anführte mit einem Gepräge aus aller Herren Länder. Er wies ihnen mit seinem Schwerte, welches jetzt ein Merkuriusstab war, den Platz an und es regnete von allen Seiten auf Heinrich ein. Das Gold setzte sich klumpenweise an alle vier Beine des Pferdes, wie der Blumenstaub, welcher die Höschen der Bienen bildet, so daß es bald nicht mehr gehen konnte. Da es aber immer mehr Gold regnete, so bildete dieses noch zwei große Flügel an dem Tiere, und dieses glich nun wirklich mehr einer ungeheuren beladenen Biene als einem Pferde und flog mit Heinrich lustig von der Brücke auf, welche jetzt endlich zu Ende war.
Heinrich ritt oder flog jetzt durch die sonnigen Straßen der Stadt, welche herrlich und fabelhaft aussahen und ihm doch ganz bekannt waren, bis er unter die himmelhohen Linden kam, zwischen welchen in der Höhe die zwei goldenen Münsterkronen glänzten, mit lebendigen Mädchen angefüllt. Das goldene Bienenpferd schwang sich mit ihm höher und höher und setzte sich endlich auf einen grünen Lindenast, welcher gerade zwischen beiden Kronen mitteninne schwebte.
»Das sind«, sagte das lustige Vogeltier, »die heiratslustigen Jungfernmädchen dieses Landes, unter denen du dir als wohlbestellter Mann füglich eine Frau aussuchen kannst.« Heinrich blickte unentschlossen in beide Kronen hinüber, wie der Esel des Buridan zwischen den Heuschobern, und flog endlich mit seinem Tiere in die eine der Kronen, so daß er wie eine Reiterstatue plötzlich in einem Kranze ältlicher Mädchen stand, welche anständig und gemessen um ihn herumtanzten und sangen: »Wir sind diejenigen heiratsfähigen Frauenzimmer, welche gerade mannbar waren, als du in die Fremde gereiset bist, und welche seitdem alte Jungfern geworden! kennst du uns noch? Unten in der Kirche wird getraut!«
»Teufel noch einmal«, sagte Heinrich, »wie die Zeit vergeht! Wer hätte das gedacht! Ich will aber sehen, was das da drüben für welche sind!«
Er flog in die andere Krone und sah sich unter eine Schar siebzehn- bis achtzehnjähriger Jüngferchen versetzt, welche die Locken schüttelnd mutwillig und doch zartverschämt um ihn tanzten, ihn dabei mit offenen Rehaugen ansahen und sangen: »Wir sind diejenigen heiratsfähigen Frauenzimmer, welche noch mit der Puppe spielten, als du verreiset bist! Kennst du uns noch?«
»Alle Himmel!« rief Heinrich, »wie die Zeit vergeht! Wer hätte das gedacht? Eure Gesichtchen sind aber lieblichere Zeitsonnenuhren als die da drüben! Welche Zeit ist es, du kleine Schlanke?«
»Es ist Heiratenszeit«, lachte hold die Angeredete, und Heinrich rief hocherfreut und lachend, indem er ihr das zarte Kinn streichelte: »Warte du einen Augenblick, ich will nur erst meine Mutter aufsuchen und mit ihr Absprache nehmen!«
Er flog eilig vom Turm hernieder, und die bergige Stadt hinanreitend suchte er endlich die Straße und das Haus seiner Mutter auf. Das schwere Pferd konnte aber nur mühsam vorwärts und es dünkte Heinrich eine qualvolle Ewigkeit, bis er endlich vor dem ersehnten Hause anlangte. Da fiel das Tier vor der Haustür zusammen und verwandelte sich zum Teil wieder in das Gold, aus welchem es entstanden, zum Teil in die schönsten und reichsten Effekten und Merkwürdigkeiten aller Art, wie man sie nur von einer bedeutsamen und glücklichen Reise zurückbringen kann; Heinrich aber stand verlegen bei dem aufgetürmten Haufen von Kostbarkeiten, der sich ganz offen ohne alle tragbare Hülle auf der Straße ausbreitete, und vergeblich suchte er den Drücker der verschlossenen Haustür oder den Glockenzug. Ungeduldig und ratlos, indem er ängstlich seine Reichtümer hütete, sah er an das Haus hinauf und bemerkte erst jetzt, wie seltsam es aussah. Es war gleich einem alten edlen und fachreichen Schrankwerke ganz von dunklem Nußbaumholz gebaut mit unzähligen Gesimsen, Balkonen und Galerien, alles auf das feinste gearbeitet und spiegelhell poliert. Auf den Gesimsen und Galerien standen altertümliche silberne Trinkbecher von jeder Gestalt, kostbare Porzellangefäße und kleine feine Marmorbilder aufgereiht. Große Fensterscheiben von klarem Kristallglas, denen aber das dunkle Innere des Hauses einen dunklen geheimnisvollen Glanz gab, dunkelten hinter den Galerien, oder herrlich gemaserte Holztüren, welche ins Innere führten und mit reich geformten blanken Stahlschlüsseln versehen waren, boten dem Lichte ihre glänzende Fläche dar; denn der Himmel wölbte sich jetzt ganz dunkelblau über dem Hause, und eine merkwürdige halbnächtliche Sonne spiegelte sich in der dunklen Pracht des Nußbaumholzes, im Silber der Gefäße und in den Fensterscheiben. Alles dies sah aus wie das nach außen gekehrte Inwendige eines altbestandenen reichen Hauses und hatte doch ein sehr festes und bauliches Ansehen. Jetzt entdeckte Heinrich, daß außen schön geschnitzte Treppen zu den Galerien hinaufführten, und bestieg dieselben, Einlaß suchend. Wenn er aber eine der Türen öffnete, so sah er nichts als ein Gelaß vor sich, welches mit Vorräten der verschiedensten Art angefüllt war. Hier tat sich eine reiche Bücherei auf, deren dunkle Lederbände von Gold glänzten, dort war Gerät und Geschirr aller Art übereinandergeschichtet, was man nur wünschen mochte zur Annehmlichkeit des Lebens, dort wieder türmte sich ein Schneegebirge feiner Leinwand empor, oder ein duftender Schrank tat sich auf mit hundert köstlichen Kästchen voll Spezereien und Gewürze. Er machte eine Tür nach der anderen wieder zu, wohlzufrieden mit dem Gesehenen und nur ängstlich, daß er die Mutter nirgend fand, um sich in dem trefflichen Heimwesen sogleich einrichten zu können. Suchend drückte er sich an eines der prächtigen Fenster und hielt die Hand an die Schläfe, um die Blendung des dunklen Kristalles zu vermeiden; da sah er, anstatt in ein Gemach hinein, in einen herrlichen Garten hinaus, der im Sonnenlichte lag, und dort glaubte er zu sehen, wie seine Mutter im Glänze der Jugend und Schönheit, angetan mit seidenen Gewändern, durch die Blumenbeete wandelte. Er wollte ihr eben sehnlich zurufen, als er unten auf der Gasse ein häßliches Zanken vernahm. Erschreckt sah er sich um und sprang im Nu hinunter; denn unten stand der vom Turme gestürzte junge Mensch aus der Jugendzeit, jener feindliche Meierlein, und störte mit einem Stecken Heinrichs schöne Effekten auseinander. Wie dieser aber unten war, gerieten sie einander in die Haare und rauften sich ganz unbarmherzig. Der wütende Gegner riß dem keuchenden Heinrich alle seine schönen Kleider in Fetzen, und erst als dieser ihm einige verzweifelte Knüffe versetzte, entschwand er ihm unter den Händen und ließ den Ermatteten und ganz Trostlosen in der verdunkelten kalten Straße stehen. Heinrich sah sich angstvoll mit bloßen Füßen und mit nichts als einem zerrissenen Hemde bekleidet dastehen; das Haus aber war das alte wirkliche Haus, jedoch halb verfallen, mit zerbröckelndem Mauerwerk, erblindeten Fenstern, in denen leere oder verdorrte Blumenscherben standen, und mit Fensterläden, die im Winde klapperten und nur noch an einer Angel hingen. Von seiner vortrefflichen Traumeshabe war nichts mehr zu sehen als einige zertretene Reste auf dem kotigen Pflaster, welche dazu von nichts Besonderem herzurühren schienen, und in der Hand hielt er nichts als den seinem bösen Feinde entrungenen Stecken. Heinrich trat entsetzt auf die andere Seite der Straße und blickte kummervoll nach den öden Fenstern empor, wo er deutlich seine Mutter, alt und grau, hinter der dunklen Scheibe sitzen sah, in tiefem Sinnen über die schwarzen Dächer der Nachbarschaft hinausschauend.
Heinrich streckte die Arme nach dem Fenster empor; als sich die Mutter aber leise rührte, verbarg er sich hinter einem Mauervorsprung und suchte angstvoll aus der stillen dunklen Stadt zu entkommen, ohne gesehen zu werden. Er drückte sich längs den Häusern hin und wanderte auch alsbald an seinem schlechten Stecken auf einer unabsehbaren Landstraße dahin zurück, wo er hergekommen war. Er wanderte und wanderte rastlos und mühselig, ohne sich umzusehen, und als er in sein wirkliches Elend aufwachte, fiel ihm ein Stein vom Herzen und er war froh, als ob der glücklichste Tag ihn begrüßte.
So zeigte sich dem schlafenden Heinrich die Kraft und Schönheit des Vaterlandes in den lieblichsten Traumbildern, wo alles glänzend übertrieben war in dem Maße, als er sich dahin zurücksehnte und seine verlangende Phantasie das Ersehnte ausmalte. Er wunderte sich über diese Traumgewalt und freute sich derselben wie einer schönen Freundin, welche ihm das Elend versüßte; denn er zehrte tagelang von der Erinnerung der schönen Träume. Noch mehr wunderte er sich über die Gier, mit welcher der Mangel ihn fortwährend von Geld und Gut und allen guten Dingen träumen ließ, was aber gewöhnlich ein schlimmes Ende nahm, und studierte darüber, ob diese Gier wirklich etwa eine in ihm schlummernde Untugend sein möchte? Je tiefer er aber in gänzliche Verlassenheit hineinlebte, desto weniger märchenhaft und unsinnig wurden die Träume, aber sie nahmen eine einfache Schönheit und Wahrheit an, welche, selbst wenn sie traurigen Inhaltes war, eine tröstliche Rührung und Ruhe in Heinrichs Gemüt verbreitete. Die Träume wurden so folgerichtig und lebendig, daß er sich sozusagen sogar während des Traumes jene unmäßigen Geld- und Gutphantasien abgewöhnen konnte mit ihren närrischen Täuschungen und sich auf einfach artige Bilder beschränkte. So träumte er eine Nacht, daß er an dem Rande des Vaterlandes auf einem dunklen Berge säße, während das Land in hellem Scheine vor ihm ausgebreitet lag. Auf den weißen Straßen, auf den grünen Fluren wallten und zogen viele Scharen von Landleuten und sammelten sich zu heiteren Festen, zu allerhand Handlungen und Lebensübungen, was er alles aufmerksam beobachtete. Wenn aber solche Züge nahe an ihm vorübergingen und er manche Befreundete erkennen konnte, so schalten diese ihn im Vorbeigehen, wie er, teilnahmlos in seinem Elende verharrend, nicht sehen könne, was um ihn herum vorgehe. Er verteidigte sich, indem sie vorüberzogen, und rief ihnen sorgfältig gefügte Worte nach, welche wie ein Lied klangen, und dieser Klang lag ihm nach dem Erwachen fort und fort im Gehör, indessen er sich wohl noch des Sinnes, aber durchaus nicht mehr der Worte erinnern konnte, oder wenigstens nur so viel, daß sie wohl an sich sinnlos, aber gut gemeint gewesen seien. Es reizte ihn aber unwiderstehlich, die liedartige Rede herzustellen oder vielmehr von neuem abzufassen bei wachen Sinnen, und indem er ein altes Bleistümpfchen und ein Fetzchen Papier mit Mühe zusammensuchte, schrieb er, in Takt geratend und mit den Fingern zählend, diese Strophen auf:
Klagt mich nicht an, daß ich vor Leid
Mein eigen Bild nur könne sehen!
Ich seh durch meinen grauen Flor
Wohl euere Gestalten gehen.
Und durch den starken Wellenschlag
Der See, die gegen mich verschworen,
Geht mir von euerem Gesang,
Wenn auch gedämpft, kein Ton verloren!
Und wie die Danaide wohl
Einmal neugierig um sich blicket,
So schau ich euch verwundert nach,
Besorgt, wie ihr euch fügt und schicket.
Je herber und trockener die Verse an sich waren, desto unmittelbarer und wahrer drückten sie seine Gemütsverfassung aus, da ein blühendes und vollkommenes Kunstwerkchen nicht in einer solchen selbst, sondern erst in der versöhnten Erinnerung entstehen kann. Die Zeilen dünkten den über seine plötzliche Kunst Verwunderten aber die schönste Musik; er vertrieb sich die öde Zeit, indem er ferner dergleichen Träume festhielt, und als er wieder von dem schlimmen Meierlein träumte, hämmerte er in stillem Ingrimm einige bittere Verse zurecht:
Im Traum sah ich den schlimmen Jugendfeind,
Mit dem ich in der Schule einst gesessen;
Sein Name schon verdunkelt mir den Sinn,
Wie viel der Jahre auch geflohn indessen!
Als bärt'ge Männer trafen wir uns nun;
Doch jeder trug annoch sein Bücherränzchen,
Das warf er ab und rief dem andern zu,
Die Fäuste ballend: he, willst du ein Tänzchen?
Wir rauften uns, er spie mir ins Gesicht,
Ich unterlag in Schmach und wildem Bangen;
Da bin in Schweiß und Tränen ich erwacht
Und sah die Sonne kalt am Himmel prangen.
Inzwischen erhielt er endlich wieder einen Brief von seiner Mutter, welche ihn beschwor, Nachricht von sich zu geben und, wie er sei, nach Hause zu kehren, auch wenn er gar nichts erreicht von allen Hoffnungen und alles verloren habe. Sie warf ihm vor, daß er sie zwinge, zuerst das Schweigen zu brechen, indem sie es nicht mehr aushalten könne, und erzählte ihm, ihren Kummer vergessend und des Schreibens froh, allerlei Dinge, unter anderen auch, wie sie geträumt habe, daß Heinrich auf einem schönen Pferde reitend in der Vaterstadt angekommen und vor dem Hause abgestiegen sei, was sie für eine günstige Vorbedeutung halten wolle.
Es war ihm unmöglich, auch nur eine Zeile zur Erwiderung hervorzubringen; dagegen folgte dem ersten Schmerz über den rührenden Brief ein begieriges Aufsichladen einer verhängnisvollen Verschuldung, indem er sein ganzes Leben und sein Schicksal sich als seine Schuld beimaß und sich darin gefiel, in Ermangelung einer anderen froheren Tätigkeit, diese Schuld als ein köstliches Gut und Schoßkind zu hätscheln, ohne welches ihm das Elend unerträglich gewesen wäre. Seine Traumgedichte vergessend, brachte er diese neue Leidseligkeit in gereimte Wortzeilen und feilte die folgenden mit so wehevollem Herzen aus, als ob er die schlimmsten Dinge verübt hätte:
O ich erkenn das Unglück ganz und gar
Und sehe jedes Glied an seiner Kette!
Es ist vernünftig, liebenswürdig klar!
Kein Schlag, den ich nicht ganz verschuldet hätte!
Nicht zehnmal Ärgeres hat mir gebührt,
Gerecht ist mir die Schale zugemessen!
Doch zehnmal bittrer hab ich sie verspürt
Als ich im Glück zu träumen mich vermessen!
Doch zehnmal leichter bring ich sie zum Mund
Als die Erinnrung einst sich noch entsinnet;
Der quellenklare Perltrank ist gesund,
Ich lieb ihn drum und weiß, woher er rinnet!
Wenn er aber in dies Wesen sich recht hineingegrämt hatte, wobei ihn die traurigsten Erlebnisse unterstützten, die nicht erbaulich zu beschreiben wären, die er aber anfing mit Lust in sich hineinzutrinken, so schrieb er plötzlich voll guten Mutes, einem frischen Lufthauch Raum gebend:
Ein Meister bin ich worden,
Zu tragen Gram und Leid,
Und meine Kunst zu leiden
Wird mir zur Seligkeit.
Doch fühl ich auch zum Glücke
In mir die volle Kraft
Und werde leichtlich üben
Die schönre Meisterschaft!
Auf einem goldnen Feuer
Von Zimmet süß und echt
Will zierlich ich verbrennen
Das schnöde Dorngeflecht,
Das mir ums Haupt gelegen
So viele Tage lang,
Und lachend übertön ich
Der Bettlerkrone Knistersang!
Als er aber eines Abends nach seiner Wohnung zurückkehrte, sich auf die Dunkelheit und Vergessenheit der Nacht freuend, fand er die Wirtsleute darin, welche die ärmliche Stube eifrig aufräumten und zurecht machten. Das Bett war schon weggenommen, die leeren Schränke standen spöttisch offen, sein Koffer war erbrochen und durchsucht, und dessen einziger Inhalt, Heinrichs Jugendgeschichte, lag zerblättert und zerknittert auf die Dielen geworfen. Die Wirtsleute kündigten ihm mit harten Worten an, daß er hier nicht länger wohnen könne, sondern noch heute das Haus verlassen solle. Schweigend nahm er das Buch auf, wickelte es in ein Stückchen altes Wachstuch, das auch noch in dem Koffer lag und dem man es ansah, daß es ebenfalls um und um gekehrt worden, und entfernte sich mit diesem Päcklein aus dem Hause, indes die Leute höhnisch hinter ihm nachschalten.
Ohne einen Pfennig in der Tasche, ohne etwas zu sich zu nehmen, ging er mit einbrechender Nacht aus dem Tore und schlug die Straße nach der Heimat ein. Er dachte nichts anderes, als unaufhaltsam und auf jede Weise zu gehen und zu gehen, wie er ging und stand, bis er dort angekommen. Denn nun dünkte ihn, daß sein Geschick die zur Rückkehr notwendige klare und fertige Form angenommen habe, und da er nicht mit erfüllten Hoffnungen wiederkehren konnte, kehrte er doch in dem ernsten heiligen Bettlerleide eines gänzlich Obdachlosen und Hilfesuchenden und zeigte so wenigstens eine bestimmte Gestalt und Gewandung dem mitlebenden Geschlechte und nahm einen erkennbaren Rang in demselben ein. Dies war nichts weniger als etwa Trotz und Hohn, sondern er hielt es aufrichtig für ein kostbares und erlösendes Gut, und das Wie war ihm gleichgültig, wenn nur das Geschick für einmal erfüllt war. Ja der Augenblick, wo er in voller Demut und mit der reichen Erfahrung von Not und Abhängigkeit unter das Dach der Mutter treten würde, erschien ihm als das süßeste Glück und kaum zu erwarten, und er schätzte jeden Schritt, den er auf der nächtlichen Straße tat, mit einem Seufzer nach dem Maß und Wert, in welchem er ihn seinem Ziele näher brachte.
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