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Neuntes Kapitel

Um wieder zu jener Schulzeit zurückzukehren, so kann ich nicht bekennen, daß dieselbe hell und glücklich gewesen sei. Der Kreis des zu Erfahrenden hatte sich nun erweitert, die Ansprüche waren ernster geworden, ich hatte ein dunkles Gefühl, daß es sich um Wichtiges und Schönes handle, und auch einen gewissen Drang, diesem Gefühle zu genügen. Aber die Übergänge von einer Stufe zur anderen waren mir nie klar und gingen mir immer verloren. Das einzige Element, in dem ich sicher lebte wie in der Lebensluft, war die Sprache. Meine Schulabteilung war für solche bestimmt, welche sich später dem Gewerb- oder Handelsstande widmen wollten; daher wurde in den niederen Klassen, durch welche ich gelangte, außer dem Deutschen nur Französisch und Italienisch gelehrt. Letztere beiden bestritt ich ohne Mühe, indem ich, über die grammatikalischen und Vokabelnaufgaben flüchtiger hinwegeilend, durch die Geläufigkeit in der Muttersprache unterstützt, leicht erriet und daher gut ins Deutsche übersetzte. Sollte ich dagegen von diesem in die fremden Sprachen übersetzen, so kam mir eine große Geschicklichkeit im augenblicklichen Nachschlagen zustatten, da ich einmal sogleich fühlte, was tauglich und wo es zu suchen sei. Dies täuschte die Lehrer, daß sie mich überall für gut beschlagen hielten, mich zu denen zählten, welchen man weniger aufmerken müsse, und zufrieden waren, wenn ich die Übersetzungen und Stilübungen pünktlich und erträglich einlieferte. Mein deutsches Lernen hingegen konnte gar keine Arbeit, sondern nur ein Vergnügen genannt werden. Schon vor Jahren in der ersten Schule hatte ich Orthographie und Interpunktion mir vollkommen angeeignet und wie man sprechen lernt. Nachher hielt meine kleine Schreibkunst mit meiner Erfahrung Schritt, und was ich sagen wollte, konnte ich richtig niederschreiben und wunderte mich, wie gerade dies so viele Schüler in Verzweiflung setzte. Stilkünste und Wendungen merkte ich aus den gelesenen Büchern; was mir, nach meinem jeweiligen Geschmacke, auffiel, das wandte ich aus Nachahmungstrieb an, bis ich besser unterscheiden lernte. Daher fielen meine Aufsätze umfangreich und überschwenglich aus, ich schriftstellerte förmlich darin mit großer Liebhaberei und erschöpfte jedesmal den Stoff nach allen Seiten, soweit der Verstand reichte. Während meines Besuches der Schule waren sich zwei verschiedene deutsche Lehrer gefolgt. Der erste war ein patriotischer Mann, welcher uns mit Begeisterung die Schweizergeschichte vorerzählte und stückweise als Stoff zu schriftlichen Arbeiten aufgab. Dieser Stoff war mir zu knapp, da er jedesmal nur für zwei oder drei Seiten berechnet war und ich hier füglich nicht viel hinzutun konnte. Ich half mir mit allerlei Schilderungen der Lokalitäten und Personen, welche etwas seltsam und unnütz ausfielen und den Lehrer aufmerksam machten. Als wir zur Geschichte des Tell kamen, hatte ich das Schillersche Drama schon gelesen und glaubte mich im Besitze besonderer Quellen. Mein Aufsatz war eine prosaische Wiedererzählung des Gedichtes und besonders die Liebesgeschichte weitläufig ausgemalt. Als der Lehrer mit den durchgesehenen Heften in die Stunde und die Reihe des Beurteilens an mich kam, fragte er mich freundlich, wo ich diese und jene Umstände hergenommen hätte. Ich fürchtete Unrecht getan zu haben und schwieg auf sein wiederholtes Andringen hartnäckig still. Beim Nachhausegehen forderte er mich auf, nächstens zu ihm in sein Haus zu kommen. Ich war ihm sehr zugetan und ahnte wohl, daß mir Gutes geschehen sollte; aber ich war zu schüchtern und ging nicht hin. Der Mann starb und ein anderer folgte auf ihn, welcher die Aufgaben aus dem Leben griff und uns anwies, die verschiedenen Vorkommnisse desselben zu beschreiben. So mußten wir einmal unsere Ferienreise aufzeichnen; ich hatte keine gemacht, sondern die ganze Zeit über bei der Mutter hinter dem Ofen gesessen, erfand aber ein ganzes Heft voll mutwilliger Abenteuer, welche in dem witzelnden Jargon irgend eines satirischen Buches, das ich gelesen, gehalten waren. Ein ander Mal sollten wir einen vom Gewitter überfallenen Jahrmarkt schildern; auch dieser Aufsatz spann sich mir sehr lang aus, steckte aber so voller Possen, daß ich ihn so wenig eingab wie jene Ferienreise. Der Lehrer fragte aber gar nicht darnach, weil er wußte, daß ich alles konnte, was er von dieser Klasse verlangte, und da ich mich sonst still hielt, ließ er mich gänzlich in Ruhe und tat, als ob ich nicht da wäre, so daß ich während seiner Stunden immer las. Gelegentlich wurde ich etwa aufgerufen, um irgend einen lateinischen Ausdruck der Grammatik zu sagen; diese hatte ich aber längst vergessen und kenne sie auch jetzt nicht, weil ich ohne sie oder vielmehr neben ihr vorbei schreiben gelernt hatte. Doch der Lehrer hielt mein Schweigen für Vorsätzlichkeit und war froh, mich gelinde bestrafen zu können, um mich nicht zu stolz werden zu lassen.

Er war ein Schöngeist und diktierte uns dann und wann als Leckerbissen eine Stelle aus einem deutschen Klassiker, welche für uns zugänglich war. Solche Bruchstücke ließen mich das Untaugliche alles übrigen Treibens lebhaft fühlen; ich schrieb sie sorglich ins reine, las sie wieder und arbeitete sogleich in dem betreffenden Stile. In der Schule sah ich voll Sehnsucht auf die schöngebundenen Bücher, die der kühle Mann mitbrachte, und nahm mir fest vor, diesmal zu ihm zu gehen, wenn er mich etwa einladen würde wie der Verstorbene. Er starb indessen auch, ohne es je getan zu haben; entweder liebte er dergleichen nicht oder war überzeugt, daß ich für einmal genug Deutsch verstände.

Nicht so gut erging es mir mit dem übrigen Lernen. In allen Schulen, wo kein Latein getrieben wird, betrachtet man den Unterricht als einen Dampf, der möglichst rasch durch das Gehirn der Jugend gejagt werden müsse, um wieder zu verfliegen. Dies einmal und nie wieder Hören der Gegenstände, dies regelmäßige und vollkommene Vergessen dessen, was die einzelnen Naturen in den Jahren des Unverstandes nicht ansprach und was sie später doch so gerne wissen möchten, hat etwas Grauenhaftes in sich; es ist, als ob dies Unkraut nur da wäre, um auch das zu beeinträchtigen und zu schmälern, was man wirklich versteht und gerne lernt. Es sind vielleicht nicht die schlechteren Gewächse der Schule, welche für das, dessen Zweck sie einstweilen nicht einsehen, böswilligst keinen Sinn zeigen und beharrlich darin nichts tun, und es fragt sich, ob manche Lehre nicht erst dann begonnen werden sollte, auch in ihren Anfängen, wenn man imstande ist, den großen und erhabenen Endzweck klar und eindringlich zu machen. Die meisten Schulmänner haben ihr Leben lang nichts getrieben als das Fach, in welchem sie vierzehnjährige Knaben unterweisen sollen. Von frühster Jugend an haben sie besondere Neigung dafür gezeigt, dann studierten sie, hörten das gleiche Thema drei, vier Mal bei verschiedenen Lehrern, reisten und hörten es wieder, lasen nichts anderes als was davon handelte, und nun treten sie vor die Jugend und verlangen von ihr, daß sie aus einigen trockenen, grämlichen Einleitungsworten die ganze Einsicht und Begeisterung für eine lange Reihe von Unterrichtsstunden schöpfe und ebenso überzeugt sei von der Klarheit und Notwendigkeit jedes Punktes als sie selbst von ihrer Weisheit. Die Kinder des Latein und des Griechisch, der Student, werden freilich gehätschelt und gepflegt, damit die Kaste nicht ausgehe; aber alle Lehrer, welche in den geheiligten Mauern nicht unterkommen können, betrachten sich auf den Profanschulen als unglückliche Verbannte, welche Perlen vor die Säue zu werfen haben. Ich habe auch Schulmänner gesehen, deren Lebensaufgabe darin bestand, die Volkserziehung zu verbessern. Tag und Nacht arbeiteten sie daran, reisten herum auf Kongressen, schrieben Bücher und führten Polemik; ein inneres Feuer verzehrte sie. Was Wunder, wenn sie verdrießlich und einsilbig in die Stunde kamen und ängstlich darüber wegeilten, um nur wieder an die Lösung ihres einen Rätsels gehen zu können?

Man begann uns Weltgeschichte zu diktieren, und unzählige Namen orientalischer Urvölker schwirrten an uns vorüber, während wir gleichzeitig die Geographie von Europa betrieben, von dessen Bewohnern wir nichts vernahmen zu selber Zeit, und als die Sache umgekehrt wurde, hatten die meisten die entsprechende Kenntnis schon gründlich vergessen oder wußten sie nicht anzuwenden; denn eben diese Einsicht kommt erst mit der reiferen Jugend, welcher die Welt anfängt deutlich und wichtig zu werden.

Die Lehrer der verschiedenen mathematischen Übungen begannen ihren Kursus, mit wenigen Ausnahmen, durch einige magere Worte über den Sinn des Titels und begannen dann unaufhaltsam die Sache selbst, vorwärtsschreitend, ohne umzusehen, ob einer mit dem Verständnis zurückbleibe oder nicht. Daher gab es unter vierzig Schülern vielleicht höchstens drei, welche von dem Gegenstande am Schlusse eine wirkliche Rechenschaft geben konnten, solche, deren Neigungen und Fähigkeiten er entsprach. Die übrigen schleppten sich entweder mit mühseliger Aufmerksamkeit und angstvollem Fleiße von Stunde zu Stunde, ohne je recht klar zu sein, oder sie ließen gleich im Anfange die Hoffnung sinken und sich regelmäßig bestrafen. Was ich selbst tat, weiß ich kaum mehr zu sagen; ich lebte fortwährend wie in einem quälenden Traume. Manchmal hatte ich den Faden einige Tage hindurch wieder erwischt, dann verlor ich ihn plötzlich wieder, freilich durch eigene Schuld; aber die Schuld der Alten war eben, daß ein Moment der Unaufmerksamkeit für dieses Alter unwiederbringlich und zu einer Todsünde werden konnte.

Einst wurde uns ein edler stiller Mann vorgeführt, welcher uns die Pflanzenkunde lehren sollte. Er begann mit langsamen, faßbaren Worten ganz von vorne, wir hatten ganz reinen Tisch, und er fuhr so fort, daß nur die wirklich stumpfen Geister zurückblieben. Nachdem er uns die äußerliche Stellung der Pflanzen in der Natur klar gemacht und uns für sie eingenommen hatte, ging er auf ihre allgemeinen Eigenschaften und auf die Erklärung ihres Organismus über, wobei wir die ersten Blicke in die Bedeutung dieses Wortes erhielten, welche wir von nun an nicht vergaßen. Schon freuten wir uns der nahen Aussicht, einige Kenntnis im Bestimmen der einzelnen Gewächse zu erhalten, und mehr als einer war vielleicht in der Klasse, bei welchem eine einflußreiche Anhänglichkeit an die Natur und ihre Kenntnis geweckt worden wäre, als der von uns trotz seiner Einsilbigkeit hochgehaltene Lehrer erkrankte und den Unterricht aufgeben mußte. Statt daß nun ein anderer Botanikbeflissener gesandt worden wäre, welcher auf Grund unserer sämtlich musterhaften Hefte fortzufahren versucht hätte, wurde das Ganze unverhofft abgebrochen, und ein geistlicher Herr, welcher als Dilettant etwas Naturwissenschaft trieb, überfiel uns mit einem Heere wilder Bestien, indem er uns etwas aphoristische Zoologie vortrug. Während wir so mit jener liebgewonnenen Botanik ein organisches Ganzes verloren, erhielten wir dafür nur einige Tiergestalten; denn die Zoologie, welche man vierzehnjährigen Knaben lehrt, nährt nicht ihren Geist, weil sie ohne vergleichend anatomische Kenntnisse, mit einem Worte ohne wissenschaftliche Anknüpfungen bloßes Futter für die Neugierde ist.

Solches blindes Einwirken des Zufalles in unser Fortschreiten kam mehr als einmal vor, und es verletzt das ohnehin zarte Gewebe des zusammenhängenden Verständnisses rauher als man denkt.

Ich hatte ein sehr gutes Gehör und war ein eifriger Sänger. Wir hatten für die erste Schulzeit eine einfache Notenlehre gekannt, welche nun eines Morgens mit der eigentlichen verwickelteren Theorie verwechselt wurde. Die erste Stunde, in welcher der Musikus etwas über die Bedeutung und allgemeine Einrichtung derselben gesagt haben mochte, war ich abwesend, und als ich wieder eintraf, fand ich meine Mitschüler im ängstlichen Lesen der verschiedenen Skalen und Tonarten begriffen. Ich war nun ein für alle Mal vor die Tür gesetzt; wenn wir sangen, nachdem der Lehrer auf seiner Geige den Ton angegeben, krähete ich mit heller Stimme, traf immer sicher und wurde öfter gebraucht, die Höhe des Tones zu halten. Sollte ich aber das Lied lesen, so stockte ich bald und wurde als böswillig bezeichnet.

Überall war dieser unselige Zwiespalt zwischen klarem Zweck und scheinbarer Zwecklosigkeit, zwischen vorausgenommener Fertigkeit in diesem Ganzen und nachschleppendem Unverständnis jenes einzelnen. Und doch war die Anstalt gut und besser als viele andere; denn das Übel liegt oder lag in der ganzen Erziehungsweise, in den verwendeten Menschen. Der Staat gibt die rechte Parole und bringt die größten Opfer, mit denen er seiner Ehre genügt; aber ehe sie Früchte tragen, muß die ganze alte Generation der Pädagogen aussterben und ein neues Geschlecht entstehen, welches ein ganz anderes Fühlen, Sehen und Hören mitbringt als das alte.

Doch als ich mich ungefähr dem funfzehnten Jahre näherte und die Stimme sich zu verändern begann, brach durch alle Verwirrung hindurch ein helleres Licht; in dem Maße als man uns Heranwachsende ernster, aber auch rücksichtsvoller behandelte, fing an die eigentliche Lernbegierde aufzutauen, und wie ich ahnte, daß alle Kenntnisse wohl ineinander münden und sich zu einem lichten Zwecke verflechten würden, lernte ich die wirkliche und gewissenhafte Mühe kennen, welche nicht nur mit dem Talente spielen, sondern auch mit Lust arbeiten kann. Ich freute mich mit andern auf die höheren Klassen, welche wir bald antreten sollten, und wir warfen hoffnungsvolle Blicke in die wohlbestellten und geordneten Sammlungen, auf die mannigfaltigen Mittel, die jenen zu Gebote standen, auf das gesetzte und selbständigere Wesen, das dann seinen Anfang nehmen sollte. Ich fühlte die Wichtigkeit und nötige Fruchtbarkeit der nächsten Jahre; zu welchem Lebensberufe ich mich dann entscheiden würde, darüber konnte ich mir noch keine Rechenschaft geben. Denn auch insofern war die Anstalt vortrefflich geschaffen, daß gegen das Ende ihrer Studien, mitten aus ihr heraus, mit vollem Überblicke man sich einen Entschluß fassen konnte, ja mußte, wer nicht durch früh ausgesprochene Neigung schon bestimmt war. Nur zwei Richtungen drängten sich deutlicher vor meine Augen und spielten unbestimmt ineinander. Es war der große Zeichnungssaal mit seinen vielen Gipsabgüssen, schönen Kunstvorlagen und dem ganzen künstlerischen Treiben darin, und anderseits die tiefere und ausführlichere Behandlung der Sprache, das Lesen und Erklären von Schriftstellern verschiedener Zungen, worauf ich mich freute und welche ich ganz zu benutzen mir vornahm. Allein zwischen der Zukunft und der Gegenwart lag noch eine tiefe und breite Kluft.

Es lehrte an unserer Schule ein Mann, welcher mit wahrer Herzensgüte und ehrlichem Sinne eine große Unerfahrenheit, mit der Jugend umzugehen, und ein schwächliches und seltsames Äußeres verband. Er hatte in dem Kampfe, welcher den Umschwung der Dinge und besonders das erneute Schulwesen herbeiführte, tapfer mitgewirkt und war in der konservativen Stadt als ein leidenschaftlicher Liberaler verschrien. Wir Knaben waren allzumal gute Aristokraten, mit Ausnahme derer, die vom Lande kamen. Auch ich, obgleich meines Ursprunges halber auch ein Landmann, aber in der alten Stadt geboren, heulte mit den Wölfen und dünkte mich in kindischem Unverstande glücklich, auch ein städtischer Aristokrat zu heißen. Meine Mutter politisierte nicht, und sonst hatte ich kein nahestehendes Vorbild, welches meine unmaßgeblichen Meinungen hätte bestimmen können. Ich wußte nur, daß die neue radikale Regierung einige alte Türme und Mauerlöcher vertilgt hatte, welche Gegenstand unserer besonderen Zuneigung gewesen, und daß sie aus verhaßten Landleuten und Emporkömmlingen bestand.

Gleich beim Beginne der neuen Schulen, als der ungeschickte Lehrer seine Tätigkeit mit vieler Gemütlichkeit antrat, brachte ein Schüler, der Sohn eines fanatischen Stadtbürgers, mit wichtigen Worten die Nachricht unter uns, wie der Lehrer geschworen hätte, uns Aristokratenkinder mit eiserner Rute zu bändigen. Er war nämlich in einer Gesellschaft aufmerksam gemacht worden, wie er es teilweise mit einer durch altes Herkommen übermütigen und ausgelassenen Stadtjugend zu tun haben würde, worauf er antwortete, er werde mit den Bürschlein schon fertig zu werden wissen. Auf obige Weise dargestellt, wurde diese Rede nun, wahrscheinlich nicht ohne Zutun der Alten, unter unsere verstandlose Masse geworfen und sie begann sogleich zu wirken. Wir nahmen den Handschuh auf, die Verwegensten eröffneten einen geordneten Widerstand und ein leichtes Geplänkel des Unfugs. Schon dies verwirrte ihn, und anstatt mit Sarkasmen und ruhiger, überlegener Entschiedenheit die Angreifer zurückzuwerfen, rückte er sogleich mit seiner Hauptmacht und dem schweren Geschütze vor, indem er jeden kleinen Mutwillen, auch jede unabsichtliche Tat blindlings mit den schwersten und einflußreichsten Strafen belegte, die ihm zu Gebote standen und welche sonst nur in seltenen Fällen angewendet wurden. Dadurch entzog er sich in unsern Augen den guten Rechtsboden, da wir in der Abschätzung der Verhältnisse zwischen Strafe und Vergehen eine große Gewandtheit besaßen. Seine Strafen wurden bald wertlos und zuletzt eine Ehrensache, ein Martyrium. Es entstand offener Skandal in den Stunden, welcher sich auch in die anderen Säle verbreitete, wo der Gehetzte zu erscheinen hatte. Nun beging er einen neuen Fehlgriff; statt die Bewegung in sich selbst zerfallen zu lassen und eine Zeit lang ihr zu stehen, fing er an, jeden Schüler aus der Stube zu jagen, der das Geringste verübte. Eine unschuldig gestellte Frage an ihn, das absichtliche oder unabsichtliche Fallenlassen eines Gegenstandes reichte hin, ins Freie befördert zu werden. Wir merkten uns dies, und bald hielt er regelmäßig nur mit zwei oder drei Frommen seinen Unterricht, während der helle Haufen vor der Tür sich auf seine Kosten belustigte. Das Einschreiten oberer Behörden oder auch seine eigene Energie, wenn er, trotz des Verbotes, die Schüler zu schlagen, einige ein einziges Mal bei den Köpfen genommen und tüchtig durchgebleut hätte, würden hingereicht haben, die Ruhe herzustellen. Zu letzterem besaß er nicht die geeignete Persönlichkeit, das erstere unterblieb, da die unmittelbar folgende Instanz aus Schulmännern bestand, welche dem Verfolgten abgeneigt waren und so lang als möglich die Vorfälle nicht zu bemerken schienen. Die Schüler erzählten in ihren Familien mit Ruhmredigkeit ihre Taten, wobei sie nicht unterließen, den Lehrer als den schreckbarsten Popanz darzustellen. Die behäbigen Bürger, sich mit Wohlgefallen ihrer eigenen Knabenstreiche erinnernd und in der Erfahrung der alten Zeit aufgewachsen, daß die Schule nur eine Art Unterkommen bilde, bis das würdige Bürgerkind, ohne sich den Kopf zerbrechen zu müssen, in das behagliche Privilegien- und Zunftwesen der guten alten Stadt aufgenommen würde, bestärkten ihre Söhnlein durch unverhohlenes Lächeln, wo nicht durch direkte Aufreizung, in ihrem Treiben. Obgleich die Sache längst Aufsehen gemacht hatte, wurde sie nach oben hin stets so geschildert, als ob alle Schuld an dem Verfolgten läge; es kam etwa ein Herr in die Stunde, um selbst zu sehen, dann hüteten wir uns aber wohl, etwas zu beginnen, so wie wir auch in den Stunden der übrigen Lehrer uns doppelt ruhig verhielten. Der Unglückliche war ein Ableiter für allen bösen Stoff, welcher in der Schule steckte. So schleppte er sich beinahe ein Jahr lang hin, bis er endlich für eine Zeit lang suspendiert wurde. Er wäre so gerne ganz weggeblieben, indem er Schaden an seiner Gesundheit litt und ganz abmagerte; aber eine zahlreiche Familie schrie nach Brot und er war auf diesen Beruf angewiesen. So trat er eines Tages seinen Leidensweg wieder an, so versöhnlich und bescheiden als möglich; allein er fand keine Barmherzigkeit, ein wilder Jubel brach los, das alte Unwesen wiederholte sich und er mußte nach wenigen Tagen gänzlich entlassen werden.

Ich hatte mich lange Zeit ziemlich ruhig verhalten und nur den zahlreichen Auftritten behaglich zugesehen. Gegen den Mann selbst verging ich mich nicht ein einziges Mal, da es mir widerstand, einem Erwachsenen gegenüber aufzutreten. Erst als das Hinausschieben der ganzen Klasse begann, suchte ich auch teilzunehmen und bewerkstelligte dies durch kleine schüchterne Streiche oder wischte auch so mit hinaus; denn erstens ging es sehr lustig her draußen und zweitens hätte ich um keinen Preis bei den wenigen verpönten Gerechten bleiben mögen, welche in der Stube saßen. Desto lauter wurde ich, wenn ich einmal draußen war, half Aufzüge und Umgänge anordnen und überließ mich, nach langer Zurückgezogenheit, einer so wilden Freude, daß mir das Herz heftig klopfte und mein Blut ganz in Wallung war, wenn wir bei dem folgenden Lehrer wieder an unseren Plätzen saßen. Ich kann mir fest gestehen, daß ich mich damals über die Freude selbst freute und keinerlei Bosheit in mir trug. Vielmehr empfand ich ein heimliches Mitleid mit dem Armen, welches ich zu äußern aber unterließ, um nicht lächerlich zu werden. Einst traf ich ihn ganz allein auf einem Feldwege; er schien einen Erholungsgang zu machen; unwillkürlich zog ich ehrerbietig meine Mütze, was ihn so freute, daß er mir zuvorkommend dankte und mich dabei so märterlich ansah, als ob er um Barmherzigkeit flehte. Ich wurde gerührt und dachte fest, daß es anders werden müsse. Gleich am nächsten Tage trat ich zu einer Gruppe der wildesten Mitschüler, um geradezu am rechten Flecke anzugreifen und ein Wort des Mitgefühls, des Nachdenkens unter sie zu werfen; ich hatte den richtigen Instinkt, daß dieses gewiß, wenn auch nicht augenblicklich, weiter wirken und die Laune der Menge anziehen würde. Sie sprachen eben von dem Lehrer, hatten eben einen neuen Spitznamen erfunden, der so komisch klang, daß alles bester Laune war und auflachte, die vorbedachten Worte verdrehten sich mir auf der Zunge, und anstatt meine Pflicht zu tun, verriet ich ihn und mein besseres Selbst, indem ich das gestrige Abenteuer auf eine Weise vortrug, die der gegenwärtigen Stimmung vollkommen entsprach und dieselbe erhöhte!

Nach seiner Entfernung wurde es still unter uns; die Lärmbedürftigen und Schlimmgesinnten wandten sich unbehaglich hin und her, zehrten von der Erinnerung und konnten sich nicht zurechtfinden. Eines Abends, nach dem Schlusse des Unterrichts, ging ich ruhig meiner Wege und hatte bald meine Wohnung erreicht, als ich rufen hörte: Grüner Heinrich! hierher! Ich wandte mich um und erblickte in einer anderen Straße einen ansehnlichen Haufen Schüler, welche durcheinandertrieben, wie ein Ameisenhaufen, und sehr geschäftig schienen. Ich erreichte sie, man teilte mir mit, daß man in Gesamtheit dem verabschiedeten Lehrer noch einen Besuch abstatten und ein rechtes Schlußvergnügen veranstalten wolle, und forderte mich auf, teilzunehmen. Der Plan wollte mir gar nicht einleuchten, ich lehnte kurz ab und ging weg. Jedoch die Neugier wandte mich, daß ich von ferne nachzog und sehen wollte, wie es abliefe. Der Haufen bewegte sich vorwärts, andere Schulen, deren Bestandteile um diese Zeit alle in den Gassen wimmelten, wurden angeworben, daß bald ein Zug von hundert Jungen aller Art sich fortwälzte. Die Bürger standen unter den Türen und betrachteten mit Verwunderung das Tun, ich hörte einen sagen: »Was mögen die Teufelsbuben nur wieder vorhaben? Die sind bei Gott fast so munter als wir gewesen sind!« Diese Worte klangen in meinen Ohren wie Kriegsdrometen, meine Füße wurden lebendiger, und schon trat ich dem letzten Manne des Zuges auf die Fersen. Es war ein unsägliches Vergnügen in der Menge, hervorgerufen durch das improvisierte Beisammensein aus eigener Machtvollkommenheit. Ich ward immer wärmer, schob mich vorwärts und sah mich plötzlich bei der Spitze angelangt, wo die hohen Häupter gingen und mich mit Jubel begrüßten. »Der grüne Heinrich ist doch noch gekommen!« hieß es, der Name erschallte längs des ganzen Zuges und vermehrte den Stoff zu Geräusch und gegenstandloser Freude. Mir schwebten sogleich gelesene Volksbewegungen und Revolutionsszenen vor. »Wir müssen uns in gleichmäßigere Glieder abteilen«, sagte ich zu den Rädelsführern, »und in ernstem Zuge ein Vaterlandslied singen!« Dieser Vorschlag wurde beliebt und sogleich ausgeführt; so durchzogen wir mehrere Straßen, die Leute sahen uns mit Staunen nach, ich schlug vor, noch einen Umweg zu machen und dies Vergnügen so lange als möglich andauern zu lassen. Auch dies geschah, allein zuletzt langten wir doch am Ziele an. »Was wollen wir nun eigentlich beginnen?« fragte ich, »ich dächte, wir sängen hier ein Lied und zögen dann wieder mit einem Hurrah davon!« »Ins Haus! ins Haus!« tönte es zur Antwort, »wir wollen ihm eine Dankrede für sein Wirken abstatten!« »So sollen wenigstens alle für einen stehen und keiner davonlaufen, damit alle die gleiche Strafe tragen, wenn es etwas absetzt!« rief ich, worauf der ganze Schwarm in das kleine enge Haus einströmte und die Treppe hinantobte. Ich blieb an der Haustür stehen, teils um nicht dem Manne vor das Angesicht treten zu müssen, weil ich keinerlei Trieb dazu fühlte, teils um keinen Mitschuldigen sich einzeln entfernen zu lassen. Es war ein furchtbarer Lärm im Innern, die Knaben waren ganz berauscht von ihrer eigenen Aufregung; der Gesuchte lag krank in einem verschlossenen Zimmer, die Frauen waren bemüht, die übrigen Türen zu verschließen, und sahen sich aus den Fenstern nach Hilfe um. Doch schämten sie sich zu rufen, die Nachbaren wußten nicht, was alles zu bedeuten hätte, und sahen höchst verwundert zu; ich blieb mit nichts weniger als heiteren Gedanken auf meinem Posten. Das Haus war von unten bis oben angefüllt, die Lärmenden erschienen unter den Dachlucken, warfen alte Körbe heraus und stiegen sogar auf das Dach, die Luft mit ihrem Geschrei erfüllend. Ein altes Weib drang endlich beherzt aus einem Kämmerchen und trieb, geschützt durch Alter und Geschlecht, den ganzen Schwarm mit einem Besen allmählich aus dem Hause.

Dies Attentat war denn doch zu auffällig gewesen, als daß die oberen Behörden nicht endlich aufmerksam wurden. Sie verlangten eine strenge Untersuchung. Wir wurden in einem Saale versammelt und einzeln aufgerufen, um vor ein Tribunal zu treten, welches in einer Nebenstube saß. Das Verhör dauerte einige Stunden, die Zurückkehrenden gingen sogleich weg, ohne Bericht zu geben; zwei Dritteile der Versammelten waren schon fort und noch wurde ich nicht aufgerufen; dagegen bemerkte ich, daß zuletzt alle, welche aus der Verhörstube kamen, mich ansahen, ehe sie weggingen. Zuletzt hieß es, der ganze Rest solle hereinkommen mit Ausnahme des grünen Heinrich.

Wenn ich nicht überzeugt wäre, daß die Kindheit schon ein Vorspiel des ganzen Lebens ist und bis zu ihrem Abschlusse schon die Hauptzüge der menschlichen Zerwürfnisse im kleinen abspiegele, so daß später nur wenige Erlebnisse vorkommen mögen, deren Umriß nicht wie ein Traum schon in unserm Wissen vorhanden, wie ein Schema, welches, wenn es Gutes bedeutet, froh zu erfüllen ist, wenn aber Übles, als frühe Warnung gelten kann, so würde ich mich nicht so weitläufig mit den kleinen Dingen jener Zeit beschäftigen.

Endlich kam die Reihe an mich; der letzte Trupp erschien wieder und hieß mich hineingehen. Ich wollte fragen, was denn vorginge, erhielt aber keine Antwort, vielmehr sputeten sie sich ängstlich von hinnen. So trat ich in die Nebenstube, halb von Neugierde vorwärts gedrängt, halb von jener beklemmenden Furcht zurückgehalten, welche die Jugend vor den Alten empfindet, wenn sie in ihnen an Verstand überlegene und allmächtige Wesen voraussetzt. Es saßen zwei Herren am oberen Ende eines langen Tisches, zu dessen Fuß ich stand, einige Stücke Papier und ein Bleistift vor sich. Der eine war der nächste Vorsteher der Schule, der auch selbst Unterricht erteilte und mich kannte, der andere ein höherer gelehrter Herr, welcher wenig sagte. Zu jenem stand ich in einem eigentümlichen Verhältnisse; er war ein gemütlicher Poltron, gern viele Worte machend und froh, wenn ein Schüler durch bescheidene Widerrede ihm Gelegenheit gab, sich gründlich über ein Faktum zu verbreiten. Im Anfange hatte er mir wohl gewollt, da ich gerade bei ihm mich sehr ordentlich aufführte; aber meine Eigenschaft, den Vorwürfen, Ermahnungen und Strafen bei vorkommenden Fällen ein unwandelbares Schweigen entgegenzusetzen, hatte mir seine Abneigung zugezogen. Das ängstliche Leugnen, die Zungengeläufigkeit, Strafe von sich abzuwenden, das hartnäckige Feilschen um dieselbe waren mir unmöglich; glaubte ich eine solche verdient zu haben, so nahm ich sie schweigend hin, schien sie mir zu ungerecht, so schwieg ich ebenfalls, und nicht aus Trotz, sondern ich lachte innerlich ganz frohmütig darüber und dachte, der Richter hätte das Pulver auch nicht erfunden. Darum hielt mich der Herr für einen unbrauchbaren, bedenklichen Burschen und fuhr mich nun mit drohender Miene an: »Hast du an dem Skandale teilgenommen? Schweig! leugne nicht, es wird nichts helfen!« Ich brachte ein leises Ja hervor, der weiteren Dinge gewärtig. Doch wie um mich in seinen Augen, da ihm einmal zur Weckung guter Laune durchaus ein gründlicher Wortwechsel nötig war, noch zu retten, tat er, als ob er ein Nein vernommen hätte, und schrie: »Wie, was? Heraus mit der Wahrheit!« »Ja!« wiederholte ich etwas lauter. »Gut, gut, gut!« sagte er, »du wirst gewiß noch einen finden, der dir gewachsen ist, einen Stein, der eine Beule in deine eiserne Stirne schlägt!« Diese Worte beleidigten mich und taten mir weh; denn sie schienen nicht nur eine arge Verkennung meines Wesens zu enthalten, sondern auch eine ungehörige Voraussagung der Zukunft, eine persönliche Bitterkeit zu sein. Er fuhr fort: »Hast du auf dem Wege vorgeschlagen, einen förmlichen Zug zu ordnen und ein Lied zu singen?« Diese Frage machte mich stutzen, meine Genossen hatten also mich verraten und deshalb ohne Zweifel sich rein gewaschen; ich schwankte, ob ich nicht leugnen sollte, aber es kam wieder ein Ja hervor, zumal ich unmöglicherweise denken konnte, daß alles auf mich gewälzt werde. »Hast du am Hause des Herrn... erklärt, daß keiner sich zurückziehen dürfe, und dieser Erklärung durch Bewachung der Tür Folge gegeben?« Das bejahte ich unbedenklich, da es mir weder eine Schande noch ein besonderes Vergehen zu sein schien. Diese beiden Momente, aus den ersten Fragen an die Mitschuldigen schon zutage getreten, schienen dem Herrn auf den Haupturheber hinzudeuten; sie ragten auch wohl am faßbarsten aus all dem wirren Treiben hervor und er hatte allein auf sie hin verhört. Jeder bejahte regelmäßig die Frage darnach und war froh, nicht über sich selbst sprechen zu müssen.

Ich wurde entlassen und ging etwas bewegt, doch gemächlich nach Hause; das Ganze schien mir nicht sehr würdig zu verlaufen. Zwar fühlte ich eine tiefe Reue, aber nur gegen den mißhandelten Lehrer. Zu Hause erzählte ich der Mutter den ganzen Vorgang, worauf sie mir eben eine Strafrede halten wollte, als ein Schuldiener hereintrat mit einem großen Briefe. Dieser enthielt die Nachricht, daß ich von Stund an und für immer von dem Besuche der Schule ausgeschlossen sei. Das Gefühl des Unwillens und erlittener Ungerechtigkeit, welches sich sogleich in mir äußerte, war so überzeugend, daß meine Mutter nicht länger bei meiner Schuld verweilte, sondern sich ihren eigenen bekümmerten Gefühlen überließ, da der große und allmächtige Staat einer hilflosen Witwe das einzige Kind vor die Türe gestellt hatte mit den Worten: Es ist nicht zu brauchen!

Wenn über die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe ein tiefer und anhaltender Streit obwaltet, so kann man füglich die Frage, ob der Staat das Recht hat, ein Kind oder einen jungen Menschen, die gerade nicht tobsüchtig sind, von seinem Erziehungssysteme auszuschließen, zugleich mit in den Kauf nehmen. Gemäß jenem Vorgange wird man mir, wenn ich im späteren Leben in eine ähnliche ernstere Verwicklung gerate, bei gleichen Verhältnissen und Richtern, wahrscheinlich den Kopf abschlagen; denn ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen, heißt nichts anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen. Der Staat hat nicht darnach zu fragen, ob die Bedingungen zu einer weiteren Privatausbildung vorhanden seien oder ob trotz seines Aufgebens das Leben den Aufgegebenen doch nicht fallen lasse, sondern manchmal noch etwas Rechtes aus ihm mache: er hat sich nur an seine Pflicht zu erinnern, die Erziehung jedes seiner Kinder zu überwachen und zu Ende zu führen. Auch ist am Ende diese Erscheinung weniger wichtig in bezug auf das Schicksal solcher Ausgeschlossenen, als daß sie den wunden Fleck auch der besten unserer Einrichtungen bezeichnet, die moralische Faulheit nämlich, die Trägheit und Bequemlichkeit der mit diesen Dingen Beauftragten, derer, welche sich als Erzieher par excellence geben. Das Ausstoßen auch des nichtsnutzigsten Schülers ist nichts als ein Armutszeugnis, welches eine Schule sich gibt.

Der Kummer und die Niedergeschlagenheit meinerseits waren nicht allzugroß; ich hatte dem Lehrer des Französischen einige Bücher zurückzustellen, da er mir mit Wohlwollen ehrwürdige Franzbände französischer Klassiker zu leihen pflegte. Auch führte er mich einige Male in einer großen Bibliothek umher, mir respektvolle Vorbegriffe vom Bücherwesen beibringend. Als ich zu ihm kam, drückte er mir sein Bedauern über das Geschehene aus und gab mir zu verstehen, wie ich es nicht allzu hoch aufzunehmen hätte, da seines Wissens die Mehrzahl der Lehrer, gleich ihm, nicht unzufrieden mit mir wären. Ferner lud er mich ein, ihn zu besuchen und seinen Rat zu holen, wenn ich Lust hätte, das Französische weiter zu betreiben. Ich sah ihn zwar nicht wieder im Wechsel der Zeit, aber seine Worte gaben mir eine gewisse Genugtuung, daß ich mich nun frei fühlte wie der Vogel in der Luft, zumal ich die Bedeutung des Augenblickes und die Wichtigkeit der Zukunft nicht zu übersehen vermochte.

Meine Mutter hingegen befand sich in großer Bedrängnis; sie konnte bestimmt annehmen, daß der Vater meine Schulbildung jetzt noch nicht abgeschlossen haben würde, wenn er noch lebte, und doch sah sie bei ihren beschränkten Mitteln keine Möglichkeit, mir Privatlehrer zu halten oder mich auf eine auswärtige Schule zu schicken, noch konnte sie sich den Beruf denken, welchen ich nun am besten ergriffe, da gerade für eine einsichtvollere Selbstbestimmung der erweiterte Gesichtskreis der nun verschlossenen höheren Klassen hätte Gelegenheit bieten sollen. Meine häusliche Beschäftigung hatte in letzter Zeit beinahe ausschließlich in Zeichnen und Malen bestanden, und auch in dieser Hinsicht befand ich mich in einem sonderbaren Verhältnis zur Schule. Dort galt ich für nichts weniger als für einen talentvollen Zeichner. Monatelang klebte der gleiche Bogen auf meinem Reißbrette, ich quälte mich verdrossen ab, einen kolossalen Kopf oder ein Ornament mit dem magern Bleistifte zu kopieren, Dutzende von Linien wurden ausgelöscht und blieben halb sichtbar, bis die richtige stehen blieb, das Papier wurde beschmutzt und durchgerieben und verkündete einen faulen und verdrießlichen Zeichner. Sobald ich aber nach Hause kam, warf ich diese Schulkunst beiseite und machte mich mit eifrigem Fleiße hinter meine Hauskunst. Nach jenem ersten Versuche, eine gemalte Landschaft zu kopieren, hatte ich fortgefahren, dergleichen Gebilde in Wasserfarben hervorzubringen; da ich nun aber weiter keine Vorbilder besaß, mußte ich sie auf eigene Faust ins Leben rufen und tat dieses mit anhaltendem und dankbarem Fleiße. Der gemalte Ofen unserer Stube enthielt eine Menge ganz naiv poetischer kleiner Landschaftsmotive, eine Burg, eine Brücke, einige Säulen an einem See und solches mehr; ein altes Stammbuch der Mutter sowie eine kleine Bibliothek verjährter Damenkalender aus ihrer Jugend bargen einen Schatz sentimentaler Landschaftsbilder, dem lyrischen Texte entsprechend, mit Tempeln, Altären und Schwänen auf Teichen, mit Liebespaaren, in Kähnen sitzend, und dunklen Hainen, deren Bäume mir unvergleichlich gestochen schienen. Aus allem diesem zusammen bildete sich eine höchst unschuldige und sozusagen elementare Poesie, welche meinem eifrigen Machen zu Grunde lag und mich während desselben beglückte. Ich erfand eigene Landschaften, worin ich alle poetischen Motive reichlich zusammenhäufte, und ging von diesen auf solche über, in denen ein einzelnes vorherrschte, zu welchem ich immer den gleichen Wanderer in Beziehung brachte, unter dem ich, halb unbewußt, mein eigenes Wesen ausdrückte. Denn nach dem immerwährenden Mißlingen meines Zusammentreffens mit der übrigen Welt hatte eine ungebührliche Selbstbeschauung und Eigenliebe angefangen, mich zu beschleichen, ich fühlte ein weichliches Mitleid mit mir selbst und liebte es, meine symbolische Person in die interessanten Szenen zu versetzen, welche ich erfand. Diese Figur, in einem grünen romantisch geschnittenen Kleide, eine Reisetasche auf dem Rücken, starrte in Abendröten und Regenbogen, ging auf Kirchhöfen oder im Walde, oder wandelte auch wohl in glückseligen Gärten voll Blumen und bunter Vögel. Das Machwerk an der beträchtlichen Sammlung solcher Bilder, welche sich bereits angehäuft hatte, blieb immer auf dem nämlichen Standpunkte gänzlicher Erfahrungs- und Unterrichtslosigkeit; nur eine gewisse Keckheit und Fertigkeit im Auftragen der grellen Farben, welche ich durch die unablässige Übung erwarb, verbunden mit der kühnen Absicht meiner Unternehmungen überhaupt, unterschied mein Treiben einigermaßen von sonstigen knabenhaften Spielen mit Bleistift und Farbe und mochte meinen vorläufigen Ausspruch, daß ich ein Maler werden wolle, veranlassen. Doch wurde jetzt nicht näher darauf eingegangen, sondern bestimmt, daß ich einige Zeit in dem ländlichen Pfarrhause bei meinem mütterlichen Oheime zubringen sollte, um über die nächsten Monate meines Ungemaches auf gute Weise hinwegzukommen, indessen eine taugliche Zukunft für mich ermittelt würde. Das Heimatdorf lag in einem äußersten Winkel des Ländchens, ich war noch nie dort gewesen, sowie auch meine Mutter seit meinem Gedenken es nie mehr besucht hatte und die dortigen Verwandten, mit seltenen Ausnahmen, nie in der Stadt erschienen. Nur der Oheim Pfarrer kam jedes Jahr einmal auf seinem Klepper geritten, um an einer Kirchenversammlung teilzunehmen, und schied immer mit jovialen Einladungen, endlich einmal hinauszuwandern. Er erfreute sich eines halben Dutzends Söhne und Töchter, welche mir noch so unbekannt waren wie ihre Mutter, meine rüstige Muhme und geistliche Bäuerin. Außerdem lebten dort zahlreiche Verwandte des Vaters, vor allen auch seine leibliche Mutter, eine hochbejahrte Frau, welche, schon längst an einen zweiten, reichen und finstern Mann verheiratet, unter dessen harter Herrschaft in tiefer Zurückgezogenheit lebte und nur selten mit den Hinterlassenen ihres früh gestorbenen Sohnes einen sehnsüchtigen Gruß aus der Ferne wechselte. Das Volk lebte noch in der stillen Einschränkung und Entsagung vergangener Jahrhunderte, wo besonders die Frauen, wenn sie einmal durch einige Meilen getrennt waren, einander nicht wieder, oder nur bei seltenen, hochwichtigen Ereignissen sahen, bei welchen es alsdann wahrhaft episch herging und Tränen der Rührung und schmerzlicher oder froher Erinnerung ihren Augen entflossen, während die Männer wohl sich vom Orte bewegten, aber in ernstem Geschäftssinne an den Türen halbverschollener Verwandter vorübergingen, wenn sie keinen Rat zu bringen oder zu holen hatten. Jetzt ist das Volk wieder lebendiger geworden; durch die erleichterten Verkehrsmittel, durch das wieder erstandene öffentliche Leben und zahlreiche Volksfeste veranlaßt, bewegt es sich fröhlich von der Stelle und macht damit zugleich seinen Geist wieder jung und fruchtbar, und nur beschränkte Eiferer predigen noch gegen die festliche Wanderlust derer, die den Pflug führen, und ihrer Kinder.

Meine Mutter befahl mir, insbesondere der einsamen überlebenden Großmutter so viele Zeit als möglich zu widmen und in Ehrerbietung und Liebe bei ihr auszuharren, solange es ihr gefiele, mich um sich zu haben und von meinem Vater, ihrem Sohne, zu reden.

So machte ich mich eines Morgens vor Sonnenaufgang auf die Füße und trat den weitesten Weg an, den ich bis dahin unternommen hatte. Ich genoß zum ersten Male das Morgengrauen im Freien und sah die Sonne über nachtfeuchten Waldkämmen aufgehen. Ich wanderte den ganzen Tag, ohne müde zu werden, kam durch viele Dörfer und war wieder stundenlang allein in gedehnten Waldungen oder auf freien heißen Höhen, mich oft verirrend, aber die verlorne Zeit nicht bereuend, weil ich fortwährend in meinen Gedanken beschäftigt war und zum ersten Mal, durch mein stilles Wandern bewegt, von der ernsten Betrachtung des Schicksals und der Zukunft erfüllt wurde. Kornblumen und roter Mohn und in den Wäldern bunte Pilze begleiteten mich längs der ganzen Straße, wunderschöne Wolken bildeten sich unablässig und zogen am tiefen stillen Himmel dahin, ich ging immerzu, indessen mich das selbstgefällige Mitleid mit mir selbst, welches mir die Welt aufgedrängt hatte, wieder überkam, bis ich gegen alle Gewohnheit bitterlich weinte. Ich wußte mich vor Betrübnis nicht zu lassen und saß an einer schattigen Quelle nieder, immer schluchzend, bis ich mich schämte, mein Gesicht wusch und über mich selbst lächelnd den Rest des Weges zurücklegte. Endlich sah ich das Dorf zu meinen Füßen liegen und in einem grünen Wiesentale, welches von den Krümmungen eines leuchtenden kleinen Flusses durchzogen und von belaubten Bergen umgeben war. Die Abendsonne lag warm auf dem Tale, die Kamine rauchten freundlich, einzelne Rufe klangen herüber. Bald befand ich mich bei den ersten Häusern, ich fragte nach dem Pfarrhause, und die Leute, welche an meinen Augen und meiner Nase erkannten, daß ich zu dem Geschlechte der Lee gehöre, fragten mich, ob ich vielleicht ein Sohn des verstorbenen Baumeisters sei?

So gelangte ich zu der Wohnung meines Oheims, welche von dem rauschenden Flüßchen bespült und mit großen Nußbäumen und einigen hohen Eschen umgeben war; die Fenster blinkten zwischen dichtem Aprikosen- und Weinlaube hervor und unter einem derselben stand mein dicker Oheim in grüner Jacke, ein silbernes Waldhörnchen, in welchem eine Zigarre rauchte, im Munde und eine Doppelflinte in der Hand. Ein Flug Tauben flatterte ängstlich über dem Hause und drängte sich um den Schlag, mein Oheim sah mich und rief sogleich: »Ha ha, sakerment, Herr Neveu! das ist gut, daß du da bist, schnell heraufspaziert!« Dann sah er plötzlich in die Höhe, schoß in die Luft, und ein schöner Raubvogel, welcher über den Tauben gekreist hatte, fiel tot zu meinen Füßen. Ich hob ihn auf und trug ihn, durch diesen tüchtigen Empfang angenehm begrüßt, meinem Oheim entgegen.

In der Stube fand ich ihn allein neben einer langen Tafel, die für viele Personen gedeckt war. »Eben kommst du recht!« rief er, »wir halten heute das Erntefest, gleich wird das Volk da sein!« Dann schrie er nach seiner Frau, sie erschien mit zwei mächtigen Weingefäßen, stellte sie ab und rief: »Ei ei, was ist das für ein Bleichschnabel, für ein Milchgesicht? Warte, du sollst nicht mehr fort, bis du so rote Backen hast wie dein seliger Vater! Wie gehts der Mutter, was ist das, warum kommt sie nicht mit?« Sogleich richtete sie mir an der Tafel ein vorläufiges Mahl zu und trug mich, als ich zögerte, ohne weiteres wie ein Kind auf den Stuhl und befahl mir, stracks zu essen und zu trinken. Indessen näherte sich Geräusch dem Hause, der hohe Garbenwagen schwankte unter den Nußbäumen heran, daß er die untersten Äste streifte, die Söhne und Töchter mit einer Menge anderer Schnitter und Schnitterinnen gingen nebenher unter Gelächter und Gesang, der Oheim, seine Flinte reinigend, schrie ihnen zu, ich wäre da, und bald fand ich mich mitten im fröhlichen Getümmel. Erst spät in der Nacht legte ich mich zu Bette bei offenem Fenster; das Wasser rauschte dicht unter demselben, jenseits klapperte eine Mühle, ein majestätisches Gewitter zog durch das Tal, der Regen klang wie Musik und der Wind in den Forsten der nahen Berge wie Gesang, und die kühle erfrischende Luft atmend schlief ich sozusagen an der Brust der gewaltigen Natur ein.

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