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(Die Zeitung)
I
Gestern sprach ich stundenlang mit einem Manne, dessen Stellung hier so einzig geartet ist wie seine Laufbahn.
Und obgleich er vormals ein politischer Gegner war, brachte mir das Zusammensein menschlich ein Entzücken.
II
Newyork ist nicht Amerika – doch seine wichtigste Stadt. Die »New York Times« ist eine der wichtigsten Zeitungen dieser Stadt. Adolph S. Ochs ist … die »New York Times«.
Das Magnetische des vierundsechzigjährigen Mannes liegt nicht in der Tatsache selbst. Sondern in der Art, wie er dazu gekommen ist.
Ein phantastischer Aufstieg. Spät und rasch. Hier hat kein Zärtling seine Stellung empfangen – sondern ein Willensmensch (mit dem Funken im Hirn) sie gemacht. Dabei vor allem ein anmutiger Mensch; der reizendste ältere Herr, den ich kenne.
III
Mit elf Jahren Zeitungsausträger in einer Kleinstadt des Südens: Chattanooga. Dann Setzerbursche. Mit zwanzig Jahren Inhaber des Käseblatts »The Chattanooga Times« – das er mit gepumpten zweihundertfünfzig Dollars erstand, bei Übernahme von fünfzehnhundert Dollars Schulden.
Wer an Persönlichkeiten in das Nest kam, war sein Gast. Er galt in der mittelsüdlichen Gegend als hellster Mann. Selbst Bischöfe schwärmten für ihn. (Es lebt halt in Amerika viel gradherzige Neigung, Tüchtiges anzuerkennen, – auch der Haß ist bei diesem genialen Jugendvolk noch nicht so hintersinnig wie bei durchgereiften Kulturvölkern …)
Der Präsident in Washington selber wünschte für den Besitzer des Blattl's ein weiteres Feld als Chattanooga-Krähwinkel. (Flaubert verlangt für solche Könner, wie er's nennt, »une cage plus vaste«). Adolph ging bald auf die Vierzig, als man ihn nach Newyork holte. Denn die große newyorker »Times« pfiff auf dem letzten Loch.
Der Mann aus Chattanooga besaß mehr Tüchtigkeit als Geld. Andre brachten es auf. Er selber kratzte für sich fünfundsiebzigtausend meist geborgte Dollars zusammen. Mit diesem bescheidenen Anteilpfennig war er doch unumschränkt in der Leitung des zusammengebrochenen Blattes.
Acht Jahre nach seinem Eintritt mußte man einen Wolkenkratzer dafür bauen … (Das »Times Building«.)
IV
Ochs ist heut Oberherr der »Times«; das »Times Building« ein nicht wegzudenkendes Merkzeichen Newyorks. Kurzerhand übertrug man hier Giottos florentiner Glockenturm in den Stil der neuen Welt: schmal, steil, riesenhoch …
Nicht nur ein ausschweifend ragendes, sondern ein gestuftes und feineres Denkmal der wichtigen Tagschreiberei hob sich. Der »Times Square« trägt nach ihm den Namen. Eine zuvor belanglose Stelle des Broadway wurde geschichtlich. Ein Symbol stand.
Aber der Turm war zu klein. Schrägüber das Massiv mit einem Dutzend Stockwerken kam dazu, – »The Times Annex«.
V
Als Mr. Ochs mit mir durch Tiefen und Höhen seines Gebiets ging und fuhr, gestand er mit einer gewinnend offenmütigen Art, aber mit ernstem Blick, wie »fascinating« für ihn dieses ganze Werk sei. Er ist hier täglich seit einem Vierteljahrhundert – wenn er nicht zum Luftschöpfen reist. (Zuletzt nach Ägypten; nach dem Heiligen Land; nach Paris, wo er seinen alten Spezi Clemenceau traf … und sich über die Veränderung der Stadt wunderte.)
Wir fuhren in den tiefsten Keller und in den obersten Lichtraum. Dieser Annex hegt zyklopische Dinge. Alles scheint hier vervielfacht. Grüngleißender, fast schmerzender Blendglanz … zwischen Eisenrädern, Walzen, Blitzübertragungen. Über breit-endlosen Papierschlangen – die propellerflink hinflitzen. Wie Schwärme von Ventilatoren schwirrt es. Gefaltete Nummern klettern durch ganze Stockwerke fertig empor, an einer schrägen, fast senkrechten Drahtgitterbahn … hinauf, durch die Decke, wieder durch die Decken. Jedes fertige Stück liegt auf dem vorigen halbschräg, eins etwas höher als das andre; jedes soundsovielte liegt mehr seitlich, wegen der Abzahlung. Sie steigen, steigen, steigen …
Maschinenmirakel in andren Räumen. Taifun-Gebraus. Das ganze, tolle, verschmitzte, systemstarke Tohuwabohu wird magisch hinreißend.
VI
Er fuhr mit mir in die Klüfte des Hauses; wieder empor in einen leeren Mammutsaal: social room; groß wie eine Kaiserpfalz in Goslar. Zwischendurch vorbei an tobenden Faltmaschinen. Ich sah Rotogravür-Ungeheuer in flimmernder Hast. (So eine Tiefdruckpresse für Bilder war zuerst in Deutschland gebaut; jetzt macht man sie drüben.)
Märchenmänner in verhexten Sälen, hastend, wischend, greifend, lenkend, richtend. Maschinen, wieder Maschinen, kaum noch übersehbar. Sausendschwindlige Rapidheit.
Ochs hat in seinem Haus Geräte, die binnen Stundenfrist dreihundertfünfzigtausend dicke Nummern aus der Pistole schießen – in einer Stunde. Wochentags an mancher vierzigseitigen Ausgabe hat man zu schleppen.
Was enthält sie? (Im Querschnitt.)
VII
Vierzig Goliathseiten. Seite eins (nur das Technische betrachtet): Ein Kabel aus Irland. (Die Nachrichten mit »copyright«.) Gerichtsverhandlungen; Scheidungen aus Amerika. – Tödlicher Unfall aus der Gesellschaft. – Selbstmord eines Amerikaners in Paris. – Streiks. – Neue Sowjetverträge. – Endlose Kabelspalten. – Kein Inserat.
Seite zwei: Riesenkabel aus Frankreich; politisch. – Schiffsrekorde, drahtlos aus London. – Scheidung, aus Baltimore. – Amerika-Politik. – Ein Schuß. (Wenig Inserate.)
Seite drei: Blitzmeldungen aus Tientsin. Aus Peking. – Kansas. – Boston. – Kabel: ein Amerikaner in Mainz verwundet. – Gewerkschaften. – (Mehr Inserate, neben dem Text.)
Seite vier: Immer mehr Inserate. Politik aus Amerika … Seite fünf: Erregendes aus dem Alltag; sechs Spalten Inserate – nur zwei Spalten Text … Seite sechs: Ansprache des Bankiers Otto H. Kahn im Konzert; (sechs Spalten Inserate) … Seite sieben: Rede eines Achtzigjährigen über die Zunahme der Verbrechen seit dem Krieg; (sechs Spalten Inserate) … Seite acht: Steuern; Sterbefälle; Prozesse; (sechs Spalten Inserate) … Seite neun: bloß eine Spalte Text; acht Spalten Inserate. Feuer; Einbruch. Seite 10, 11, 12: Soziales; fast nur Inserate … Seite dreizehn: bloß Inserate. Vierzehn bis siebzehn: Sport; eine Zeile Text; fast nur Inserate.
Jetzt erst, auf Seite achtzehn, beginnt – statt der Nachrichten – allerhand Betrachtendes über sie … Seite neunzehn: Todesanzeigen; Soziales, Inserate … Seite zwanzig: Verlorenes, Gefundenes; Inserate, Inserate.
Doch Seite einundzwanzig, also neues Deckblatt der Vierzigseitennummer: kein Inserat. Erst auf Seite zweiundzwanzig beginnt … die Theaterkritik – (und Inserate, Inserate).
Zehn Riesenseiten Handelsteil; Baumarkt; Rieseninserate – bis Seite vierzig; über Schiffsnachrichten weg, lauter Inserate, Inserate, Inserate.
(Sonntags prachtvolle Beilagen. Künstlerisch-ernsthaft; literarisch, mit Bildern. Kostbar ausgestattet. Pfundschwer. Technisch grandios …)
VIII
Der grauhaarige Jüngling mit amerikanisch dicken Brauen, zurückgekämmtem Haar, glattrasiertem und großlinigem Antlitz fährt und steigt mit mir durch den Annex. Nigger, weiße Mädel, verschmierte Giganten trifft man. Zuweilen schüttelt ein schwarzölrußiger Kerl ihm die Hand; sie kennen sich seit Jahrzehnten. (Das ist Amerika: vertrauliche Wucht, fern von Anbiederung.)
Nette Schreibmädel, kleine Buchhalterinnen kreuzen flink die Flure. Die eine, so sagt er fast väterlich lächelnd, ist Braut. Ich: »I congratulate you«. Wir lachen; sie ist reizend. Alle sind wohlgemut, ihn zu treffen. Manche des Riesenschwarms erkennen ihn spät – und strahlen ihn an.
Die Küche des Zeitungsbaues ist blinkweiß. Ein Restaurant für die Angestellten. Räumig, lecker – in einem höheren Stockwerk. Mr. Ochs unterhält auch ein eignes Hospital. Alles bildsauber. Die Tragbahren, die Betten, die Bäder, die Medizinschränke. Mit zwei Samariterinnen sprechen wir. Mr. Ochs ist nicht »Chef« – sondern »ein Bekannter«. Sie freuen sich; das Wort des ersten Friedrich Wilhelm von Preußen, als man vor ihm Furcht hatte: »Lieben sollt ihr mich, ihr Luders!« scheint in der Neuen Welt erfüllbar.
IX
Wir waren in den Stempelraum gekommen. Hier sitzen Beamtinnen, die, um Briefe freizumachen, eine namenlose Fülle mit Maschinen stempeln.
Buchhaltereien, ungeheuer. Wie durch ein Fernglas gesehn. Alles von betäubender Großartigkeit. Nicht zuletzt (ein Ärger für Ferdinand Lassalle) das advertising department – der Inseratenteil. Blüte des Kapitalismus. Kinder, Kinder! … Der Ferdinand wollte den Blättern die Inserate verbieten; sein Irrtum ist in Ländern erprobt, wo es nicht Inserate gibt, sondern, na, Nebeneinnahmen.
X
Wie der heimgegangene Vergil mit Dante, so fuhren wir vom Inferno durch das Purgatorio zum Paradiso. Immer kreuz und quer … Das Archiv ist ein Teil des Blattes, wo in Kartotheken oder Zettelkästen alles nachzuschlagen bleibt, was jemand wissen will. Brockhaus ist hiergegen eine Waise.
Mr. Ochs bittet lächelnd einen clerk, aus der Kästenfülle den Namen eines wirkenden deutschen Staatsmannes zu ziehen. Auf der Karte steht, wann dessen Vater gestorben ist, wie lang er gelebt hat, was der Inhalt seines Daseins war. Dann kommt, mit verblüffend klappenden Einzelheiten, der Sohn …
Jedes Kärtchen, voll notwendiger Lebensdaten, weist auf einen Platz des Archivs, wo Langes, Genaues zu holen ist … In größtem Stil. Der Umfang amerikanisch. Durchdachtes Gefüge. Fast ein Versuch, das Hirn durch Gerätekraft zu ersetzen.
XI
Herr Ochs, wenn man mit ihm diskutiert, ist schlicht und klar; er blickt grade vor sich. Unter den Wimpern hat er einen intensiven, über den Augenblick hinausgehenden, fast verträumten Zug.
Als ich frage, warum er gar so englandfreundlich gewesen sei, meint er lachend, ihm sei schon nahegelegt worden, den Namen »Ochs« in »John Bull« zu ändern …
»Warum?« – Gegen Überzeugungen läßt sich nicht kämpfen. Gegen Empfindungen auch nicht.
Wenn er von Deutschland spricht, wird er fast lyrisch. Er liebt aber, wie Amerikaner so oft (und wie oft haben sie's mir gesagt), nur das Land … und scheidet sehr die Führer von dem Land. (Die vormaligen Führer.)
Sein Vater kam, erzählt er mir, als Jüngling aus Fürth nach Amerika. War verwandt mit der Familie van Geldern, also mit Heines Mutter. Der Vater mußte weg aus Deutschland, weil er damals – erzählt Mr. Ochs – bei jedem Versuch, sich zu regen, auf Hinderungen durch Rassenschikane traf. (Die Judenfurcht, heut ein Besitz der Schwächerbegabten, war ja damals ein Regierungsbestandteil.) Alles verbarrikadiert. Da ging er jung über See.
Mr. Ochs erzählt, er selber habe schon an Dernburg, auf die Frage nach seiner nicht prodeutschen Politik, die Gegenfrage gerichtet, weshalb man von ihm, der in Amerika geboren ist, eine andre als amerikanische Politik erwarte … Erwarten die Deutschen von einem Stuttgarter, weil sein Vater als Jüngling etwa Dänemark verlassen hat, eine dänische Politik? nicht eine deutsche?
Mr. Ochs bedauert, was dieses wertvolle deutsche Volk an Sünden der Führer zu büßen hat; er liebt ja Deutschland – glaubt aber, daß wir zahlen müssen … und daß jeder Mensch freiwillig ungern zahlt.
Immer kommt eine (apolitische) Liebe zu Deutschland durch. Fast eine Schwärmerei für Berlin. Auch der zögernde Wunsch, wieder mal in dies Land zu reisen – obschon er keine Verwandten hier besitzt und kaum Deutsch kann.
XII
Er hatte mich zum lunch gebeten. Im Gebäude der »Times« ist ein Eßzimmer für ihn und seine Freunde. Die Speisen kommen aus jenem Hausrestaurant.
Der Mann seines einzigen, bildhübschen Kindes, Mr. Sulzberger, ein sehr frischer jüngerer Herr, saß mir gegenüber. Daneben Mr. Rollo Ogden, ein führender Vertrauensmann. Auch sein alter Freund Mr. Kohlsaat – auf dessen deutschen Namen Mr. Ochs mich lächelnd hinwies.
Als er, halb scherzend, halb ernst, fragte: »Wieviel glauben Sie, kann Deutschland zahlen?«, sprach ich: »Keine Ahnung; aber viel weniger!«
XIII
In jedem Augenblick tat es mir leid, daß ein Mann dieses Könnens und Einflusses nicht bei uns zu stehn vermocht hat. Im Beginn des Krieges, gleich im Dezember 1914, schrieb sein Blatt mit leider wahrem Prophetismus: Deutschland sei mit dem alten Österreich und der Türkei verbündet, zwei im Grunde rückständigen, fast sterbenden Völkern; der Kampf sei hoffnungslos. Ob die Deutschen, entgegen aller Bismarckschen Klugheit, in ihr Unglück rennen wollten? … In dieser Art (Dezember 1914!)
Das alles war vorbei. Rückgängig ist nichts zu machen. Wir schauen, wenn wir klug sind, heut auf Kommendes.
… Stundenlang hatten wir gesprochen. An meiner Seite schritt und stand und saß ein menschlich bestrickender, humorsamer, fabelhaft tüchtiger Mann, – politisch anders gestellt. Ich sah sein Lebenswerk. Und, jenseits von geschiedenen Standpunkten, die staunenswürdige Leistung.
Mr. Ochs hat ein Recht, wenn er sein Gebiet durchstreift, so zu leuchten, wie er leuchtet. Die Welt hat er irgendwie vorwärts gebracht. Schade, daß es nicht unsre Welt war.