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Stratford; Canterbury; Schloss Warwick

 

I

Nachdem ich in Beethovens Haus gewesen war, in der Bonngasse (sprich: Bonnjaß'); in Jean Pauls Örtchen Wunsiedel; in Hebbels Haus zu Wesselburen; in Flauberts Haus zu Croisset; in Ibsens Sterbehaus zu Kristiania; in Platens letztem Haus zu Syrakus: nachdem verschlug mich das Dasein an den Avonfluß; nach Stratford.

Ein Punkt mit blühendem Wallfahrergeschäft. (Mit Läden für Andenken – wie in Monte Carlo, Lourdes oder Bayreuth …)

 

II

Ich glaube nicht, seit ich zu Garding, der Jugendstadt Mommsens, alles andre sah, bloß keinen Zug, der hier zu römischen Studien ermuntert, – ich glaube nicht, daß die Umschicht enthüllt, wieso einer wurde, was er ward. Shakespeare konnte ganz wo anders geboren sein.

Ich will ein Beispiel bilden.

X. kommt in kahlem Landstrich zur Welt. Erste literarhistorische Möglichkeit: »Die Kahlheit des Landstrichs erklärt das Farblos-Trockne seiner Dichtungen.« Zweite literarhistorische Möglichkeit: »Die Kahlheit des Landstrichs erklärt jenes Farbig-Sehnsuchtsheiße seiner Dichtungen.« Sie erklärt also das Gegenteil. Dritte literarhistorische Möglichkeit: »Bei der Kahlheit des Landstrichs ist er zwar zu einer mittleren Farbigkeit gekommen, die aber natürlich nicht zu leidenschaftlicher Fülle gedieh.« Selbstbetrug. Hokuspokus … Vanitas, vanitatum vanitas.

 

III

Dennoch. William rückt näher … Ja, zur stärksten Verwunderung: er wird leiblebendig. Mag er Mime gewesen sein oder auch Poet. Einer beginnt hier zu wandeln.

Warum?

Weil man Gesichte hat. Weil man vor ihm steht, Aug' in Aug'. Das Gewese, die Luftschicht, die Heimwelt, das Landstümliche – alles wächst jählings zum Greifen … (Wenn man weiß, daß er hier geboren ist.)

Er kann jedoch ganz wo anders geboren sein.

 

IV

In Stratford bin ich zum erstenmal auf du und du mit seinem Alten: dem angesehenen, verkrachten Landhändler; dann mit dem abenteuernden Jungen, der in der Nachbarschaft ein wohlhabendes Agrarmädel älteren Jahrgangs zur Frau nimmt, ihr ein paar Kinder macht, sie bald sitzen läßt, nach London zwischen die Komödianten gerät …

(Auf du und du.)

Wirkung von Stratford: Keine Aufhellung seiner Stücke. Doch herzlicher Anteil für William selbst – ob Strohmann, ob Genius.

Schlimmstenfalls für den Strohmann.

 

V

Das Geburtshaus … Vielleicht ist er wirklich in dem niederen Raum beim verzinnten Fensterle geboren. Vielleicht nebenan.

Den Gildenbau hat er gesehn – wo Mimen manchmal aufgetreten sind. Die Kirche hat er gesehn. Ich merke hier … nicht wie seine Dramen verfaßt wurden, doch wie ein Leben verfloß.

Ja, der Komödiant Shakespeare beginnt zu wandeln; Herr Direktor Shakespeare, Aktieninhaber einer hauptstädtischen Bühne – mit dem Ruhesitz im frühverlassenen Geburtsort; mit der Heimkehr des halbverlorenen Sohns, der nach Abwesenheit von einem Jahrzehnt als junger Dreißiger in der Lebensmitte zurückkommt, wohlhabend geworden ist, ganz kinomäßig den indes verschuldeten Vater rettet, die Seinen im Ansehen der Bürgerlinge herstellt, das größte Haus der Stadt kauft, zur Freude des gerührten Alten sogar den Adelstitel zahlt … Lebenskino. (Mit alledem hätt' er Shakespeares gesammelte Werke nie zu schreiben brauchen.)

In summa: hier keimt (für eine verschollene Gestalt) ein menschlicher Anteil, nicht ein literarischer.

Dieser Bursche wandelt. Nicht William Shakespeare.

 

VI

Stratford hat Häuschen mit Holzgebälk, wie bei uns Braunschweig oder Lüneburg.

Traut und modervoll. Kümmerlich für unsre Vorstellung – wie das Bach-Haus in Eisenach; fürstlich gegen Hebbels Heimat; schäbig gegen den Hirschgraben … Und der Hirschgraben ist schäbig gegen das »Heim« jedweden Kleinspießers an der Spree. (Es gibt eine Entwicklung.)

 

VII

Unten hat nachher ein Schlächter gewohnt.

Der Vater jedoch, Schulz' in dem Nest von fünfzehnhundert Einwohnern (mit dreißig Bierschänken und lauter Misthaufen) – der Vater macht in Leder, Wolle, Korn, Grundstücken. Die Pleite bricht aus. Alles dies zusammen mußte die zirka vierzig Dramen Shakespeares erzeugen.

 

VIII

In der Nachbarschaft gab es Passionsspiele, mit saftigem Ulk? Aha! Hunderttausend Landleute, Stadtleute pflegten sie zu sehn – ohne je vierzig Schauspiele zu verfassen … Kurz: der Mensch ist ein Produkt seiner Umschicht. (Die Umschicht ist ein Produkt des Literarhistorikers.)

 

IX

Ich sah den Ort, wo Shakespeares Junge zwölfjährig starb; wo sein Vater starb; wo seine Mutter achtundsechzigjährig starb, als er selbst vierundvierzig war; wo seine Schwester als Weib eines Hutmachers gelebt; wo er, Großvater mit zweiundvierzig Jahren, die Enkeltochter Lizzie geschaukelt; wo er, mit Neunundvierzig, zurückgezogen vom Geschäft rastete; wo er sich mit zwei Freunden zum letztenmal betrank; wo er ganz, ganz fraglos beigesetzt ist …

Das ist er.

 

X

Die Wände des Geburtshauses waren ein Fremdenbuch – bis man ein solches anschaffte. Namen in die Mauer gekritzt. Ich suche den von Byron. Die Pförtnerin reckt auf ihn den Finger.

 … Somit sah ich in und bei Stratford folgende vier getrennte Lebensstadien des umdämmerten William. Erstens: das vermutliche Geburtshaus; heut halb ein Museum; mit alten Ausgaben, Briefen, Bildern, Urkunden. Auch Bücher seines Schwiegersohnes, des Arztes Dr. Hall. (Williams Enkelin war schon Lady) … Soweit Nummer eins.

 

XI

Erdstadium Nummer zwei. Die Dorfbesitzung, zwanzig Minuten davon. Hier saß die Bauerndeern', woran er achtzehn-, neunzehnjährig den ersten Durst löschte. William sah, wenn er zu dieser Anna schlich, in der nahen Ferne blaue Hügel. Ich guckte nach derselben Hügelwand … Zu ihrem Haus mit dem Strohdach und dem Dorfgärtel kam er. Alles heute noch wie einst. Wie gestern. Der alteichene Hausrat. Ein Sessel für Besucher, am Herd.

Oben: die geschnitzte Bettstatt jener acht Jahr' älteren, nachmals eheverlassenen Anne. Darin immer noch die Schilfmatratze, wo sie von William, dem unbegüterten Stadtjüngling aus leidlich angesehenem Haus, geträumt haben wird … bis er sie nahm.

Die Hochzeit war eilig. Was flüstert Schiller? Hochzeit – hohe Zeit? Der Wilddieb hat vielleicht bei ihr gewildert? hä?

Lehnstuhl und eichene Lade – nicht wie bei armen Leuten. Noch das Gerät zum Buttern. Das zum Spinnen. Froh findet mein Auge sogar die »Bettpann«: ein Ding, wie es auf den Halligen, in Ostfriesland, im Jeverschen, abends, mit Glühkohlen voll, durch das klamme Bett gezogen wird. So ein Ding hatte Fräulein Hathaway.

Von der Schwester gewobenes Linnen hängt an der niedren Lagerstatt  … Immer noch.

Dies Nummer zwei. (Hier kriegt ein Betrachter am stärksten das Gefühl des Miterlebens; der stehngebliebenen Zeit; des Hinversetztseins – wie in Pompeji.)

 

XII

Nummer drei kommt. Nach dem ärmlich gewordnen Jugendhaus; nach dem dörflichen Bräutigamshaus, – jetzt: Shakespeares reiches Haus. Das Haus des Rentners … am stolzesten Punkte des Drecknestes. »New Place« genannt. Pikfein – aber es steht nicht mehr.

Denn ein Pfaffe, der es zum Sommersitz nahm, riß es siebzehnhundertsoundsoviel ab; aus Ärger; der freche Trottel.

Bin wenigstens in den Kellern herumgestiefelt; sie liegen frei – wo heute der Garten strahlt. Ein hübscher Garten. Rosen, Lilien, Rittersporn. Ach, ein farbig wunderschöner Rasengarten. Bald mit violettem Strich; bald mit glockig und mattrosa Blütenstrecken. Mancher hohe, farbig-leckere Blumenstreif ist von der Dichtheit einer Kleiderbürste.

(Damals war der Garten schwerlich so gepflegt. Doch saß er hier und sann … und verpustete sich wohl von den Greueln des Literatenlebens.)

William wandelt.

 

XIII

Kommt Stadium vier. Die kalt-graue Trinity-Kirche. Sie liegt im Schatten … Am Altar ein Marterlvers. Deutsch etwa so:

O lieber Wandrer, schreite zu
Und lasse meinen Staub in Ruh'.
Gesegnet, wer verschont den Stein;
Verflucht, wer rührt an mein Gebein.

Schwerlich von ihm.

Eine schiefe Grabplatte. Das Gesicht, die Inschrift zum Altar hin  …

Irgendein Erschüttertsein fühlt man plötzlich. Wider Willen.

 

XIV

Sein Weib (er hatte wenig Beziehung zu ihr; vielleicht eine Dorfbisse; mit Recht vergrämt) liegt nebenan. Auch die Tochter Sus'chen; auch der Schwiegersohn Dr. Hall; sogar der erste Gatte der kleinen Lizzie – bevor sie Rittersfrau ward.

 … Alberne Kirchenbüste (links an der Wand); nach seinem Tode verfertigt von einem »Grabsteinmacher«. Hier zum erstenmal hat er den Gesichtsausdruck eines Engländers. Stupsnase. Pächternase. Vielleicht fiel ein Stück im Lauf der Zeiten ab … Auf dem Ölbild, vor dem Tod gemalt, sieht er halb romanisch aus; bei etwas im Bogen geschwungener Nase.

(Auch die Zeitgenossen, so Ben Jonson oder seine Schauspieler, wirken im Bild ganz unenglisch nach heutigem Begriff. Wer weiß, was für Blut zwischen ist … Auf den britischen Inseln bleibt Shakespeare nicht das einzige Rätsel. Normannen, Kelten, Sachsen, Picten, am Ende, wer weiß, auch Sumerier aus Babylon, phönizische Wikinger – nur Gott ahnt es und die Universitätswissenschaft.)

 

XV

Hübsch wird das Land erst weiter weg von Stratford. Wo Schloß Warwick in der Sonne lacht.

Warwick hat Gärten am Avon. Ich sah wieder Häuslein mit Zinnfenstern. Edelwicken, zartbläulich; rot; gefüllte Rosen; Himbeeren; weiße Lilien; Bogengänge mit Kletterblüten, alles wildrankig durcheinander – (Holland ist hiergegen eine Blumenkaserne).

 

XVI

Ich schlief in Warwick. Es hat einen Gasthof zum »Grünen Drachen«. (Mit Ale aus dem Nachbarstädtchen Leamington.)

Aber der Kern (und Shakespeare sah es) ist hier das greise Schloß – mit Triften, Duft, Baumwundern. So weit das Auge sieht, gehört alles heute dem Earl of Warwick. Bewaldete Gründe, zaubergrün.

Innen: ganze Mengen van Dycks. Ann' Boleyn, von Holbein dem Jüngeren. Später die Schauspielerin Sara Siddons, von Reynolds. Gibt es Vergleichspunkte … für einen, der über den Gartengrund geht? – Ah, schon. Der Park von Seeseiten am Starnberger See; das Schloß Grätz; die »Phantasie« unfern Bayreuths; Ambras am Inn; Chambord; Langeais an der Loire; die Kynsburg; Schloß Bardo bei Tunis; das Haus des Borromeo im Lago Maggiore; die Pfaueninsel; die Gärten von Heiligenberg am Bodensee … Wunderbar bleibt Warwick.

Als ich einen venezianer Mosaiktisch drin sah und vielerlei Zusammengetragenes noch, dacht' ich an die »Pesel« auf den Halligen, wohin die Seebauern allerhand geschleppt, aus manchem Weltteil. (Engländer sind für mein Gefühl wohlhäbig veredelte, verfeinerte Bauernmenschen, kräftig gefüttert. Ihre Pesel haben großen Umfang.)

 

XVII

Shakespeare sah dies graue Schloß. Heut ist der Earl of Warwick ein Husar. Cäsar soll vor ihm dort gewohnt haben. Hinterher kam der Königsmacher Warwick. (Hat nicht Schiller …? Doch!)

An der Wand hängt sein Streitkolben. Auch Äxte zur Köpfung – und sonst nötiges Hausgerät. Mitunter klafft ein Kerkerloch dickwandig.

Richard der Dritte hat hier gewohnt, stets im August … vor nur vierhundertfünfzig Jahren. Cromwells Helm an der Wand. In Warwick vollzogen sich mancherlei Todesfälle nicht mit Zustimmung der Betroffenen.

 

XVIII

Doch fortschreitende Gesittung und Entwicklung schuf den Triftpark. Die Entwicklung schritt noch weiter – denn jener Husar, der jetzige Warwick, mußte das Schloß an einen Amerikaner vermieten.

Er heißt Mr. March … Und ist Assekuranzmagnat oder Versicherungsdirektor in Newyork. Einverstanden; einverstanden.

 

XIX

In dem Städtchen Warwick ragt ein frisches Gefallenendenkmal; unten schlichte Blumentöpfe; an manchem Topf hängt ein Zettel, mit der Hand beschrieben; auf einem steht in einfacher Schrift (ich las es an einem lichten Vormittag) bloß:

»Dear Charlie!«

Unweit lastet, als öffentliches Denkmal, ein Panzertank von 1918 – »zur dauernden Erinnerung«.

Den Tank hat Shakespeare nicht gesehen. (Dies steht in seiner Lebensgeschichte fest.)

 

XX

Ich gedachte Williams, als, abermals an einem Vormittag, der Regen floß, ich zu Canterbury herumging, im Dom, – und an Heinrichs des Vierten Grabe stand.

– »Wie geht's dem König?« – »Ausnehmend gut, sein Sorgen hat ein Ende; nach menschlichem Ermessen ist er tot!« …

Er schnarcht in Canterbury; weiß nichts von Percy Heißsporn, der, im Aufruhr derstochen, ein Opfer seines Berufs ward; weiß nichts vom fünften Heinrich, welcher im Gegensatz zu Lloyd George die Franzosen unterwarf.

(»Ausnehmend gut, sein Sorgen hat ein Ende.«)

 

XXI

Der Dom von Canterbury ist kein Dom: sondern ein Geheimnis. Sondern ein Irrsal. Sondern eine Verschlingung. Sondern ein Perpetuum. Sondern eine Endlosigkeit.

Liegt wohl der Dom in einer Stadt? Oder eine Stadt in dem Dom? …

Wenn er aufhört, fängt er allemal erst an. Ist er oben fertig, geht er unten fort. Jeder Ausgang war nur ein Eingang. Jedes Schlußtor ein Beginn.

Kurz: mit reichlichem Nebengelaß.

 

XXII

Erzbischöfe wurden hier weggeschleppt und erschlagen. Schon in verhältnismäßig früher Zeit gelang dies dem geweckten Verwaltungsrat. Später wurde Thomas Becket im Dom ermordet – von vier bezahlten Offizieren der Organisation Consul. Nachmals ist er heilig gesprochen. Ein gekröntes Frauensbild liegt zwischen ihren zwei Gatten herum, in Bronze. Der schwarze Prinz jedoch …

 

XXIII

Dies alles zu sehn, wurden Schulkinder der Nachbarschaft, eine Klasse, von den Lehrern an jenem Vormittag herumgeführt. Mit Schulkindern hab' ich Glück. Der Küster gab die Erklärung und kopierte den Pastor. Es waren lauter junge angels (sprich: Ehndschels), oder Engel, mit blondem Haar, oft mit grünen Bändern darin. Sie sollten über den Dom einen Aufsatz schreiben; kritzelten allerhand ins Heft. Der Küster, wie er von Wycliff sprach, hieß ihn den »morning star« der Reformation. Die Ehndschels kritzelten es ins Heft … Ich wollte gleichfalls einen Aufsatz schreiben.

 

XXIV

Doch den Chaucer, der über Canterbury die »Canterbury Tales« gedichtet hat, durften sie gewiß nicht lesen. Wenn er auch fromme Wallfahrer zum Grabe des heiligen Thomas Becket schildert. Nein, nein. Denn er ist ein Boccaccio-Lehrling. Zwar kernhaft – aber doch auch hinwiederum andrerseits im Grunde sehr schlüpfrig. Das wäre ja noch besser. Nein, nein, nein.

 

XXV

Adieu, Ehndschels. Adieu, Assekuranz! Adieu, William! Wappen-William! Aktien-William! Adieu, Umschicht!

Komische Welt.


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